Federn und Wurzeln
Usama Al Shahmani ist Iraker und lebt nach seiner Flucht in der Schweiz.
Er kennt also die Szenerie seines Romans aus eigenem Erleben, auch wenn die zwei Schwestern, Aida und Nosche, natürlich ganz andere Lebensläufe und Charaktere haben.
Die jüngere der Schwestern, Aida,
beschreibt in der Ich-Form ihr gemeinsames Leben und ihr alleiniges Leben nach dem Unfalltod ihrer…mehrFedern und Wurzeln
Usama Al Shahmani ist Iraker und lebt nach seiner Flucht in der Schweiz.
Er kennt also die Szenerie seines Romans aus eigenem Erleben, auch wenn die zwei Schwestern, Aida und Nosche, natürlich ganz andere Lebensläufe und Charaktere haben.
Die jüngere der Schwestern, Aida, beschreibt in der Ich-Form ihr gemeinsames Leben und ihr alleiniges Leben nach dem Unfalltod ihrer Schwester – ein Leben, das von einem Flüchtlingslager in Ghom im Iran in die Schweiz, in den Irak und zurück in die Schweiz führt.
Es ist ein zerrissenes Leben, ein Leben der Entwurzelung und der Entfremdung, einer Entfremdung auch von den eigenen Eltern, die trotz mehrjährigen Aufenthaltes in der Schweiz dort nie Fuß gefasst haben, nicht Fuß fassen wollten und ihr Dorf im Irak glorifizierten. Für sie war eine Rückkehr mit den beiden Mädchen der einzige Weg ihre vermeintliche Identität zu erhalten. Doch für Aida und Nosche waren der Irak und besonders das Dorf keine Heimat, dort gab es keine Geborgenheit für sie, keine Zugehörigkeit, dort gab es Zwang und Anpassung an die traditionellen Verhaltensweisen eines orientalischen Dorfes.
Daran änderte auch die neue politische Lage im Land nichts: der Diktator war fort, die Amerikaner waren im Land und durch deren sog. „Nation Buildung“ wuchsen die Gräben im Land, wurde die Kluft zwischen den Schiiten und den Sunniten immer heftiger, so dass letztendlich daraus eine neue Unterdrückung entstand, die des IS.
Für beide Mädchen war die Situation im Dorf unerträglich, inakzeptabel, besonders wenn man zuvor viele Jahre eine andere Gesellschaftsform erlebt hatte, die natürlich auch Diskriminierungen kannte, aber doch Wege offen hielt zur Selbstbestimmung, zu persönlicher Freiheit, zur Schaffung eines eigenen Selbstbildes.
So planten sie mutig mit Hilfe eines väterlichen irakischen Freundes aus der Schweiz ihre Flucht über Istanbul, das übliche Procedere mit gefälschten Pässen und Identitäten, mit intensiven Befragungen im Sehnsuchtsland Schweiz, in dem sie ihre Zukunft sahen. Bedauerlicherweise hatte die Ältere, Nosche, einen tödlichen Fahrradunfall und wurde auf Wunsch der Eltern, die sich nach der Flucht der Mädchen getrennt hatten, in den Irak überführt und dort im Familiengrab bestattet.
Aida jedoch gelingt ihr Schweizer Leben, sie bekam gültige Aufenthaltspapiere, eine Lehrstelle und später einen Job in einer universitären Bibliothek. Sie hatte einen Schweizer Freund und man könnte also behaupten, sie sei voll integriert. Aber was ist Integration? Sie ist wie eine Waage und eine Wiege zugleich. Zuviel Faktoren der unterschiedlichen Kulturen müssen aufgesogen, abgestoßen, ausgeglichen werden, so dass eben diese Integration nicht allen gelingt. Viele fühlen sich entwurzelt und Entwurzelung ist lt. Simone Weil eine gefährliche Komponente der menschlichen Gesellschaft.
Aida ist und bleibt Irakerin und ist doch zugleich Schweizerin. Ist also nicht aus einem Guss wie die meisten ihrer neuen Landsleute, die behäbig vor sich hin leben, im immer gleichen Rhythmus. Vielleicht liegt es an der Zweisprachigkeit, der vertrauten arabische Muttersprache, die verknüpft ist mit dem so fremden Vaterland. Der Autor schreibt einen schönen Satz zur Sprache: Muttersprache – die Mutter, das erste Zuhause, in dem das Herz schlägt.
Al Shahmani gelingt es eindrucksvoll, uns ein anderes Leben zu präsentieren, eines, dass wir uns aus zweiter Hand erlesen, und dass uns die innere Zerrissenheit von geflüchteten Menschen sehr nahe bringt. Vielleicht sollten wir diese Nähe zulassen und in unseren immer noch sicheren Alltag integrieren.
„Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört“. (Simone Weil).