Ein Roman über Schuld, Scham und Scheinheiligkeit, über die unsichtbaren Spuren einer Zeit, die noch Generationen später die Biographien beeinflußt, geschrieben in einem eindringlichen Ton, dessen Unmittelbarkeit und literarische Kraft fasziniert.
Zwei Kindheiten - von Mutter und Tochter - werden in diesem Roman parallel erzählt, die eine beginnt als Lebensbornschicksal in der Nazizeit, wird in der DDR fortgeführt und endet mit der Flucht in den Westen, die andere wird in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik verbracht. Trotz der so unterschiedlichen äußeren Ereignisse, ähneln sie sich auf erschreckende und bezeichnende Weise.
Lisa kommt als uneheliches Kind zu Beginn der Wirtschaftswunderzeit auf die Welt. Physische und psychische Brutalität, Gefühlskälte und soziale Isolation bestimmen ihre ersten Lebensjahre. Als junge Frau erkennt sie, daß ihre Mutter ebenso eine Getriebene ist wie sie selbst, und beginnt Erklärungen für das Fehlen jeglicher Familie zu suchen. Ihr gelingt es, das Schweigen der Mutter zu brechen: Sie erfährt, daß ihre Mutter ein Lebensbornkind ist.
Zwei Kindheiten - von Mutter und Tochter - werden in diesem Roman parallel erzählt, die eine beginnt als Lebensbornschicksal in der Nazizeit, wird in der DDR fortgeführt und endet mit der Flucht in den Westen, die andere wird in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik verbracht. Trotz der so unterschiedlichen äußeren Ereignisse, ähneln sie sich auf erschreckende und bezeichnende Weise.
Lisa kommt als uneheliches Kind zu Beginn der Wirtschaftswunderzeit auf die Welt. Physische und psychische Brutalität, Gefühlskälte und soziale Isolation bestimmen ihre ersten Lebensjahre. Als junge Frau erkennt sie, daß ihre Mutter ebenso eine Getriebene ist wie sie selbst, und beginnt Erklärungen für das Fehlen jeglicher Familie zu suchen. Ihr gelingt es, das Schweigen der Mutter zu brechen: Sie erfährt, daß ihre Mutter ein Lebensbornkind ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003Das Schnarren der schwarzen Mäntel
Hier stehen wir und konnten nicht anders: Birgit Bauer erzählt ein Lebensborn-Schicksal
Dieses Buch stellt sich seinen Leserinnen und Lesern entgegen mit der Heftigkeit eines zornigen Kindes. Ein zorniges Kind kann nichts für seinen Zorn, der größer ist als es selbst. Man will ihm nichts Böses. Birgit Bauers Roman „Im Federhaus der Zeit” appelliert an Schlüsselreize: mit den Schlüsselworten „Frauen”, „Leid”, „Deutschland”, „Trauma”. Das Buch erzählt ein deutsches Frauen-Leidensschicksal. „Schicksal” ist ein Wort aus der Trivialliteratur, das alle Beteiligten eines großen Vorgangs von der Verantwortlichkeit dafür entlastet. Der Verlag hat das Wort auf die Buchrückseite geschrieben: „Wann sollen diese Geschichten erzählt werden, wenn nicht jetzt: ein Lebensbornschicksal.”
„Lebensborn” hießen Heime, die einst von den Nazis zur Züchtung arischen Nachwuchses eingerichtet worden sind. Die umdüsterte Heldin des Romans verbringt Zeit in einem Lebensborn-Heim. Sie entkommt, gebiert eine Tochter, gibt sie selbst in ein Heim, lässt zu, dass man das Kind sadistisch quält, entführt und misshandelt es selbst, bis diese Tochter Fragen stellt und die Wahrheit wissen will. Die Wahrheit dieses Buches lautet: Der Sadismus der Hitlerei hat sich in Adenauers Deutschland fortgesetzt. Wir sind alle Kinder der Gewalt. Und wir sind alle traumatisierte Opfer. Wir konnten nicht anders. Schicksal!
Die Autorin beharrt auf dieser Schicksalhaftigkeit mit einer Intensität, die ebenfalls aus der Welt der Schundheftchen stammt – aus der Schwarz-Weiß-Welt des Melodrams. Abwechselnd herrschen höchster Horror und süßeste Verzückung. Größter Not folgt die Rettung in letzter Sekunde. Auf jeder beliebigen Seite des Buches werden genug Höhen und Tiefen für einen ganzen Roman durchschritten. Seite 340: Brüllen, Erschöpfung, Vorsicht, Erlösung, Geheimnis, Geschrei, Trubel, Bienenstock, scheuchen, drohen, Geschenk und goldener Ring. Drei Seiten später: das Kind Lisa „rennt und hofft, bangt, betet, wünscht mit jedem Schritt, atemlos”. Ein wenig Original-Nazi-Pathos lebt hier atemlos wieder auf. Es gibt kein Entkommen.
Die Erzählerin duzt die Hauptfigur und weist ihr mal gurrend, mal schnarrend eine Geschichte zu. Ein wenig vom Sadismus der Heimerziehung, der Mutter und Tochter traumatisiert, lebt in dieser Konstruktion weiter: Die Autorin wird zur Alleinherrscherin. Mal ist die Erzählerin lieb zu ihrem Geschöpf, mal ist sie böse, und immer gesteht sie ihr zu: Du konntest nicht anders. Die erbarmungslose Nähe erzeugt gnadenlosen Kitsch. Wenn der Krieg endet, heißt es: „Die Menschen fürchten sich. Vor den Russen. Vor dem, wie es ist. Wie es noch werden soll.” Wenn es kühler wird: „Die Vögel fliegen gen Süden. Die Bäume werfen das Laub ab.” Das Landleben? „Im Dorf ist die Welt heil. Im Dorf gibt es keinen Krieg.”
Wenn die Autorin in die Kinderseele ihrer Heldin schaut, schreibt sie: „Niemand fragt dich, was du möchtest, was du willst . . . Verdammt, du bist doch erst acht Jahre alt.” Das ersatzmütterliche Schutzbedürfnis, das die Autorin für ihre Figuren empfindet, scheint so groß zu sein, dass sie dazu übergeht, ihre Leser zu infantilisieren, um den Figuren
ihre Kindheit zurückzugeben.
Wenn allerdings misshandelt und gefoltert wird, geht es zur Sache, oder wenn die Heldin ihre Tochter Lisa bei zwielichtigen Menschen abgibt: „Das Baby schreit. Helene stöhnt und brüllt, ja, gib’s mir, und Wilhelm grölt, da, du fette Schlampe, da hast du’s, du geiles Miststück.” Eine der erstaunlichsten Szenen des Buches handelt von der Verbringung der Heldin ins Lebensborn-Heim. „Männer in schwarzen Mänteln” entreißen sie gewaltsam der Mutter. Das Heim ist eine Folterstätte, in dem die Kinder blutig geschlagen und nackt mit Lederriemen ans Bett gefesselt werden und verschwinden. So hat man bisher jüdische Schicksale im Holocaust beschrieben, dem kleine arische Mädchen bekanntlich nicht zum Opfer fielen. Bei Birgit Bauer ist das Lebensborn-Heim ein KZ für Arierkinder.
Ehrgeizig spannt der Roman seinen großdeutschen Geschichtsbogen von der Nazizeit über die Gründung der DDR bis ins BRD-Achtundsechzig. Dies ist ein hilfloses und gleichzeitig wild entschlossenes Buch. Hier erhalten wir einen Vorgeschmack auf das, was da nach Jörg Friedrichs „Brand” und den Erinnerungen der vergewaltigten „Frau in Berlin” auf uns zukommt: die zweite Welle von „Ich war dabei”. Sensible Erinnerungen an den großen deutschen Opfergang. Das große Geraderücken.
Kennzeichen der neuen deutschen Vergangenheitsbewältigung ist die Erleichterung darüber, dass es jetzt endlich einmal um „uns” geht. Wobei es nicht wirklich um „uns” ging, solange wir uns mit unserer Täterschaft im Nazireich befassen mussten. Das haben wir für die anderen getan, das haben sie uns aufgezwungen. Dabei haben wir damals doch auch gelitten! War die Hitlerzeit nicht am Ende für uns Deutsche am allerschlimmsten? Haben wir etwa nicht den Krieg verloren? Mal unter uns gesagt.
Die Entlastungsoffensive rollt. Das Tätervolk erinnert sich seiner schwersten Stunden. Das Melodram donnert. Die deutschen Frauen und Mädchen hoffen und bangen ohne Pause. Aber erst jenseits des unreflektierten Gefühls beginnen Sprache und Literatur überhaupt zu leben.
ROBIN DETJE
BIRGIT BAUER: Im Federhaus der Zeit. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2003. 360 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Hier stehen wir und konnten nicht anders: Birgit Bauer erzählt ein Lebensborn-Schicksal
Dieses Buch stellt sich seinen Leserinnen und Lesern entgegen mit der Heftigkeit eines zornigen Kindes. Ein zorniges Kind kann nichts für seinen Zorn, der größer ist als es selbst. Man will ihm nichts Böses. Birgit Bauers Roman „Im Federhaus der Zeit” appelliert an Schlüsselreize: mit den Schlüsselworten „Frauen”, „Leid”, „Deutschland”, „Trauma”. Das Buch erzählt ein deutsches Frauen-Leidensschicksal. „Schicksal” ist ein Wort aus der Trivialliteratur, das alle Beteiligten eines großen Vorgangs von der Verantwortlichkeit dafür entlastet. Der Verlag hat das Wort auf die Buchrückseite geschrieben: „Wann sollen diese Geschichten erzählt werden, wenn nicht jetzt: ein Lebensbornschicksal.”
„Lebensborn” hießen Heime, die einst von den Nazis zur Züchtung arischen Nachwuchses eingerichtet worden sind. Die umdüsterte Heldin des Romans verbringt Zeit in einem Lebensborn-Heim. Sie entkommt, gebiert eine Tochter, gibt sie selbst in ein Heim, lässt zu, dass man das Kind sadistisch quält, entführt und misshandelt es selbst, bis diese Tochter Fragen stellt und die Wahrheit wissen will. Die Wahrheit dieses Buches lautet: Der Sadismus der Hitlerei hat sich in Adenauers Deutschland fortgesetzt. Wir sind alle Kinder der Gewalt. Und wir sind alle traumatisierte Opfer. Wir konnten nicht anders. Schicksal!
Die Autorin beharrt auf dieser Schicksalhaftigkeit mit einer Intensität, die ebenfalls aus der Welt der Schundheftchen stammt – aus der Schwarz-Weiß-Welt des Melodrams. Abwechselnd herrschen höchster Horror und süßeste Verzückung. Größter Not folgt die Rettung in letzter Sekunde. Auf jeder beliebigen Seite des Buches werden genug Höhen und Tiefen für einen ganzen Roman durchschritten. Seite 340: Brüllen, Erschöpfung, Vorsicht, Erlösung, Geheimnis, Geschrei, Trubel, Bienenstock, scheuchen, drohen, Geschenk und goldener Ring. Drei Seiten später: das Kind Lisa „rennt und hofft, bangt, betet, wünscht mit jedem Schritt, atemlos”. Ein wenig Original-Nazi-Pathos lebt hier atemlos wieder auf. Es gibt kein Entkommen.
Die Erzählerin duzt die Hauptfigur und weist ihr mal gurrend, mal schnarrend eine Geschichte zu. Ein wenig vom Sadismus der Heimerziehung, der Mutter und Tochter traumatisiert, lebt in dieser Konstruktion weiter: Die Autorin wird zur Alleinherrscherin. Mal ist die Erzählerin lieb zu ihrem Geschöpf, mal ist sie böse, und immer gesteht sie ihr zu: Du konntest nicht anders. Die erbarmungslose Nähe erzeugt gnadenlosen Kitsch. Wenn der Krieg endet, heißt es: „Die Menschen fürchten sich. Vor den Russen. Vor dem, wie es ist. Wie es noch werden soll.” Wenn es kühler wird: „Die Vögel fliegen gen Süden. Die Bäume werfen das Laub ab.” Das Landleben? „Im Dorf ist die Welt heil. Im Dorf gibt es keinen Krieg.”
Wenn die Autorin in die Kinderseele ihrer Heldin schaut, schreibt sie: „Niemand fragt dich, was du möchtest, was du willst . . . Verdammt, du bist doch erst acht Jahre alt.” Das ersatzmütterliche Schutzbedürfnis, das die Autorin für ihre Figuren empfindet, scheint so groß zu sein, dass sie dazu übergeht, ihre Leser zu infantilisieren, um den Figuren
ihre Kindheit zurückzugeben.
Wenn allerdings misshandelt und gefoltert wird, geht es zur Sache, oder wenn die Heldin ihre Tochter Lisa bei zwielichtigen Menschen abgibt: „Das Baby schreit. Helene stöhnt und brüllt, ja, gib’s mir, und Wilhelm grölt, da, du fette Schlampe, da hast du’s, du geiles Miststück.” Eine der erstaunlichsten Szenen des Buches handelt von der Verbringung der Heldin ins Lebensborn-Heim. „Männer in schwarzen Mänteln” entreißen sie gewaltsam der Mutter. Das Heim ist eine Folterstätte, in dem die Kinder blutig geschlagen und nackt mit Lederriemen ans Bett gefesselt werden und verschwinden. So hat man bisher jüdische Schicksale im Holocaust beschrieben, dem kleine arische Mädchen bekanntlich nicht zum Opfer fielen. Bei Birgit Bauer ist das Lebensborn-Heim ein KZ für Arierkinder.
Ehrgeizig spannt der Roman seinen großdeutschen Geschichtsbogen von der Nazizeit über die Gründung der DDR bis ins BRD-Achtundsechzig. Dies ist ein hilfloses und gleichzeitig wild entschlossenes Buch. Hier erhalten wir einen Vorgeschmack auf das, was da nach Jörg Friedrichs „Brand” und den Erinnerungen der vergewaltigten „Frau in Berlin” auf uns zukommt: die zweite Welle von „Ich war dabei”. Sensible Erinnerungen an den großen deutschen Opfergang. Das große Geraderücken.
Kennzeichen der neuen deutschen Vergangenheitsbewältigung ist die Erleichterung darüber, dass es jetzt endlich einmal um „uns” geht. Wobei es nicht wirklich um „uns” ging, solange wir uns mit unserer Täterschaft im Nazireich befassen mussten. Das haben wir für die anderen getan, das haben sie uns aufgezwungen. Dabei haben wir damals doch auch gelitten! War die Hitlerzeit nicht am Ende für uns Deutsche am allerschlimmsten? Haben wir etwa nicht den Krieg verloren? Mal unter uns gesagt.
Die Entlastungsoffensive rollt. Das Tätervolk erinnert sich seiner schwersten Stunden. Das Melodram donnert. Die deutschen Frauen und Mädchen hoffen und bangen ohne Pause. Aber erst jenseits des unreflektierten Gefühls beginnen Sprache und Literatur überhaupt zu leben.
ROBIN DETJE
BIRGIT BAUER: Im Federhaus der Zeit. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2003. 360 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2004Lieblos in Stralsund
Unheilvoll: Birgit Bauer spürt einer Lebensborn-Kindheit nach
Lebensborn - ein Schauderwort. Seit dem Ende der nationalsozialistischen Ära weckt der Begriff sehr unterschiedliche Assoziationen, die alle jedoch eines gemeinsam haben: die ekelgetränkte Ablehnung jener Erfindung des "Reichsführers SS" Heinrich Himmler. Mal wurde uns der Lebensborn als arische Zeugungs- und Bruthöhle serviert, mal als Schutz- und Schirmstätte für Schwangere, die unbelastet von den Vorurteilen der bourgeoisen Restgesellschaft "dem Führer ein Kind schenken" sollten. Die 1935 gegründete rassen- und bevölkerungspolitische Einrichtung, die mit ihren Heimen gezielt den Kinderreichtum der arischen Elite sichern sollte, aber auch ledigen Müttern einen gewissen Schutz bot (natürlich nur, wenn sie den Auslesekriterien der SS entsprachen), hat ungeachtet der historiographischen Aufarbeitung im allgemeinen Bewußtsein immer noch etwas dämonisch Schillerndes an sich.
Erinnerungen mögen da nicht als Beweise, wohl aber als Hinweise taugen. So entsinne ich mich eines BDM-"Heimabends" Anfang 1943, auf dem die "Mädelschaftsführerin" uns fünfzehn-, sechzehnjährigen Mädchen einen Vortrag hielt über das patriotische Opfer der Frontgefallenen und die Pflicht, die uns daraus erwuchs: nämlich Führer und Volk die Verluste zu ersetzen, indem wir einen SS-Mann mit uns ein Kind zeugen ließen. Keine Angst vor den Folgen, der Staat würde für uns und unseren SS-Nachwuchs sorgen. Wir, aus stinkbürgerlichen Elternhäusern stammend, saßen starr und dachten daran, was unsere Mütter dazu sagen würden. Die Führerin kam zum Glück später nicht wieder darauf zurück.
Das Thema verdient es durchaus, literarisch aufgearbeitet zu werden, und genau das hat sich die Autorin Birgit Bauer, Jahrgang 1958, vorgenommen. Leider ist man auf der letzten Romanseite nicht klüger als auf der ersten. Sie habe, so läßt uns die Autorin in einer Verlagsbeilage wissen, zehn Jahre Recherche an ihr Thema gewandt. Wie es sich für eine erzählende Autorin gehört, bettet sie ihre Aussageabsicht in ein Menschenschicksal, und zwar das eines kleinen Mädchens mit Lebensborn-Herkunft und einer traurigen Kindheit. Ohne Eltern und Familie, gezeichnet von ihrer schändlichen Zeugung, kann die Kleine nichts anderes als verdammt sein. Wenn sie allerdings groß geworden ist, lebt neben ihr ein zweites Jammerkind, ihre uneheliche Tochter. Der geht es kein bißchen besser: die Mutter desinteressiert, keine Verwandten, lange, lieblose Jahre im Heim. Was hat der Lebensborn damit zu tun? Gar nichts, wenn man davon absieht, daß der Mutter wohl die Gefühle verstümmelt wurden.
Diesen Schluß jedenfalls sollen wir ziehen, was gar nicht einfach ist, weil die Autorin uns keineswegs nur Hinweise in dieser Richtung liefert. So präsentiert sie uns ihre Heldin viele Seiten lang als kesse Göre im Haushalt einer Pflegefamilie in Stralsund zur DDR-Zeit. Dabei nutzt sie ausgiebig die Gelegenheit, unsere Herzen für Deutschlands Ostseeküste und vor allem für die Insel Rügen zu erwärmen. Es sind wirklich hübsche Zeichnungen, die sie da liefert, aber mit dem Nazi-Unheil und seinen Folgen hat es wenig zu tun. Die Pflegefamilie ist im großen und ganzen nett zu der Kleinen. Warum kann die, wenn sie eine Große geworden ist, nicht annähernd so nett zu ihrem Töchterchen sein? Im Interesse der Romanaussage darf sie das nicht, denn, wie der Klappentext uns lehrt, Birgit Bauer ist darauf aus, den Hitler- und den Adenauerdeutschen ähnliche Inhumanitäten nachzuweisen.
Der Leser hat es schwer, das ältere und das jüngere Kinderunglück auseinanderzuhalten. Die Autorin kommt uns insofern entgegen, als sie wenigstens der Jüngeren einen Namen gibt: Lisa. Lisas Mutter dagegen darf nicht heißen. Sie unterscheidet sich dadurch von ihrem Kind, daß sie durchgehend in der zweiten Person vorkommt, nicht, wie Lisa und alle anderen Figuren, in der dritten. "Du bist", "du hast", "dies ist dir geschehen" - so redet die Autorin mit ihrer Hauptheldin. Sie ist sehr intim mit dem Lebensborn-Kind, obwohl sie doch nicht mit ihm, sondern mit dem Folgekind Lisa Generation und gesellschaftliche Erfahrungen teilt. Angesichts der Intimität mit Mama erstaunt die Magerkeit der Auskünfte über diese um so mehr.
Lisa, am Romanende von einer Seite zur anderen plötzlich erwachsen, sucht nach den Wurzeln, die doch auch ihre Mutter irgendwie haben muß. Es stellt sich heraus, daß Mama vielleicht nicht immer der Wahrheit huldigte. Die Stralsunder Pflegefamilie hat es so, wie sie es schilderte, nicht gegeben. Irgendwann existierten irgendwelche Zwillingsgeschwister von Lisa; wo sind die heute? Mamas DDR-Flucht war möglicherweise gar keine Flucht, sondern eine Legende für den Auftrag, der sie nach Westen führte. Trotzdem kann vieles so gewesen sein, wie Mama sagte, aber auch so, wie es neuere Quellen andeuten. Die Welt war und ist voller Lügen, sie wird es vermutlich immer sein.
Neue Erkenntnisse beschert uns das nicht. Weil es aber gestern stimmte, heute stimmt und morgen stimmen wird, kann man es ruhig stets von neuem sagen. Nur - wollte Birgit Bauer das denn sagen? Schließlich legt die Autorin doch so großen Wert auf ihre Forschungsarbeit in Sachen Lebensborn. Für diesen Roman hätte es dieser Mühe nicht bedurft. Was der Lebensborn nun eigentlich war und wie er in der Praxis funktionierte, weiß man nach der Lektüre dieses Buches nicht. Wer etwas darüber erfahren will, wird wohl zu historischen Darstellungen greifen müssen.
SABINE BRANDT
Birgit Bauer: "Im Federhaus der Zeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 384 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unheilvoll: Birgit Bauer spürt einer Lebensborn-Kindheit nach
Lebensborn - ein Schauderwort. Seit dem Ende der nationalsozialistischen Ära weckt der Begriff sehr unterschiedliche Assoziationen, die alle jedoch eines gemeinsam haben: die ekelgetränkte Ablehnung jener Erfindung des "Reichsführers SS" Heinrich Himmler. Mal wurde uns der Lebensborn als arische Zeugungs- und Bruthöhle serviert, mal als Schutz- und Schirmstätte für Schwangere, die unbelastet von den Vorurteilen der bourgeoisen Restgesellschaft "dem Führer ein Kind schenken" sollten. Die 1935 gegründete rassen- und bevölkerungspolitische Einrichtung, die mit ihren Heimen gezielt den Kinderreichtum der arischen Elite sichern sollte, aber auch ledigen Müttern einen gewissen Schutz bot (natürlich nur, wenn sie den Auslesekriterien der SS entsprachen), hat ungeachtet der historiographischen Aufarbeitung im allgemeinen Bewußtsein immer noch etwas dämonisch Schillerndes an sich.
Erinnerungen mögen da nicht als Beweise, wohl aber als Hinweise taugen. So entsinne ich mich eines BDM-"Heimabends" Anfang 1943, auf dem die "Mädelschaftsführerin" uns fünfzehn-, sechzehnjährigen Mädchen einen Vortrag hielt über das patriotische Opfer der Frontgefallenen und die Pflicht, die uns daraus erwuchs: nämlich Führer und Volk die Verluste zu ersetzen, indem wir einen SS-Mann mit uns ein Kind zeugen ließen. Keine Angst vor den Folgen, der Staat würde für uns und unseren SS-Nachwuchs sorgen. Wir, aus stinkbürgerlichen Elternhäusern stammend, saßen starr und dachten daran, was unsere Mütter dazu sagen würden. Die Führerin kam zum Glück später nicht wieder darauf zurück.
Das Thema verdient es durchaus, literarisch aufgearbeitet zu werden, und genau das hat sich die Autorin Birgit Bauer, Jahrgang 1958, vorgenommen. Leider ist man auf der letzten Romanseite nicht klüger als auf der ersten. Sie habe, so läßt uns die Autorin in einer Verlagsbeilage wissen, zehn Jahre Recherche an ihr Thema gewandt. Wie es sich für eine erzählende Autorin gehört, bettet sie ihre Aussageabsicht in ein Menschenschicksal, und zwar das eines kleinen Mädchens mit Lebensborn-Herkunft und einer traurigen Kindheit. Ohne Eltern und Familie, gezeichnet von ihrer schändlichen Zeugung, kann die Kleine nichts anderes als verdammt sein. Wenn sie allerdings groß geworden ist, lebt neben ihr ein zweites Jammerkind, ihre uneheliche Tochter. Der geht es kein bißchen besser: die Mutter desinteressiert, keine Verwandten, lange, lieblose Jahre im Heim. Was hat der Lebensborn damit zu tun? Gar nichts, wenn man davon absieht, daß der Mutter wohl die Gefühle verstümmelt wurden.
Diesen Schluß jedenfalls sollen wir ziehen, was gar nicht einfach ist, weil die Autorin uns keineswegs nur Hinweise in dieser Richtung liefert. So präsentiert sie uns ihre Heldin viele Seiten lang als kesse Göre im Haushalt einer Pflegefamilie in Stralsund zur DDR-Zeit. Dabei nutzt sie ausgiebig die Gelegenheit, unsere Herzen für Deutschlands Ostseeküste und vor allem für die Insel Rügen zu erwärmen. Es sind wirklich hübsche Zeichnungen, die sie da liefert, aber mit dem Nazi-Unheil und seinen Folgen hat es wenig zu tun. Die Pflegefamilie ist im großen und ganzen nett zu der Kleinen. Warum kann die, wenn sie eine Große geworden ist, nicht annähernd so nett zu ihrem Töchterchen sein? Im Interesse der Romanaussage darf sie das nicht, denn, wie der Klappentext uns lehrt, Birgit Bauer ist darauf aus, den Hitler- und den Adenauerdeutschen ähnliche Inhumanitäten nachzuweisen.
Der Leser hat es schwer, das ältere und das jüngere Kinderunglück auseinanderzuhalten. Die Autorin kommt uns insofern entgegen, als sie wenigstens der Jüngeren einen Namen gibt: Lisa. Lisas Mutter dagegen darf nicht heißen. Sie unterscheidet sich dadurch von ihrem Kind, daß sie durchgehend in der zweiten Person vorkommt, nicht, wie Lisa und alle anderen Figuren, in der dritten. "Du bist", "du hast", "dies ist dir geschehen" - so redet die Autorin mit ihrer Hauptheldin. Sie ist sehr intim mit dem Lebensborn-Kind, obwohl sie doch nicht mit ihm, sondern mit dem Folgekind Lisa Generation und gesellschaftliche Erfahrungen teilt. Angesichts der Intimität mit Mama erstaunt die Magerkeit der Auskünfte über diese um so mehr.
Lisa, am Romanende von einer Seite zur anderen plötzlich erwachsen, sucht nach den Wurzeln, die doch auch ihre Mutter irgendwie haben muß. Es stellt sich heraus, daß Mama vielleicht nicht immer der Wahrheit huldigte. Die Stralsunder Pflegefamilie hat es so, wie sie es schilderte, nicht gegeben. Irgendwann existierten irgendwelche Zwillingsgeschwister von Lisa; wo sind die heute? Mamas DDR-Flucht war möglicherweise gar keine Flucht, sondern eine Legende für den Auftrag, der sie nach Westen führte. Trotzdem kann vieles so gewesen sein, wie Mama sagte, aber auch so, wie es neuere Quellen andeuten. Die Welt war und ist voller Lügen, sie wird es vermutlich immer sein.
Neue Erkenntnisse beschert uns das nicht. Weil es aber gestern stimmte, heute stimmt und morgen stimmen wird, kann man es ruhig stets von neuem sagen. Nur - wollte Birgit Bauer das denn sagen? Schließlich legt die Autorin doch so großen Wert auf ihre Forschungsarbeit in Sachen Lebensborn. Für diesen Roman hätte es dieser Mühe nicht bedurft. Was der Lebensborn nun eigentlich war und wie er in der Praxis funktionierte, weiß man nach der Lektüre dieses Buches nicht. Wer etwas darüber erfahren will, wird wohl zu historischen Darstellungen greifen müssen.
SABINE BRANDT
Birgit Bauer: "Im Federhaus der Zeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 384 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Neue Erkenntnisse hat dieser Versuch, das Thema "Lebensborn" literarisch aufzuarbeiten, Rezensentin Sabine Brandt nicht gebracht. Erstaunt ist die Rezensentin daher über die Information der Verlagsbeilage, Autorin Birgit Bauer habe zehn Jahre Recherche in ihr Buch gesteckt. Das war für diesen Roman nicht nötig, befindet Brandt. Denn die "Aussageabsicht" sei in die traurige Kindheit eines im Lebensborn gezeugten Mädchens gebettet, neben der bald ein zweites "Jammerkind", ihre uneheliche Tochter erscheint. Ihr wird auch nicht klar, was das hier beschriebene Leben in der DDRmit dem Naziunheil und seinen Folgen zu tun haben soll. Wer etwas über das nach wie vor kaum bearbeitete Thema "Lebensborn" etwas erfahren wolle, muss der Rezensentin zufolge wohl weiter zu den historischen Darstellungen greifen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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