"im felderlatein", das heißt: im Acker einer Sprache sein, ein Streifzug zugleich durch die Legende einer Landschaft, wie sie zu Ohren kommt, beim Gehen, im Flüstern, beim Schweigen. Lutz Seilers neue Gedichte, entstanden zwischen 2004 und 2010, unternehmen Expeditionen ins Grenzland rund um Berlin, mitten in den »satzbau dieser gegend«, die gezeichnet ist vom Wechsel der Zeit.
Mit jedem Schritt auf diesem Weg erweist sich die musikalische Kraft der Gedichte - im felderlatein trifft Lutz Seiler den Ton für die ernsthaftesten Übertreibungen der Poesie: Für die wundersame Geschichte der »ersten zärtlichkeit«, geschehen zu einer Zeit, als die Schatten noch »kleine schwarze zahlungseinheiten« waren. Oder für die Odyssee der »fussinauten«, den Argonauten ebenbürtig an Treue und Beständigkeit. Und nicht zuletzt für die Geschichte der schönen, verstoßenen Aranka, die »aus den kniekehlen gesungen hat«. Legenden im felderlatein.
Mit jedem Schritt auf diesem Weg erweist sich die musikalische Kraft der Gedichte - im felderlatein trifft Lutz Seiler den Ton für die ernsthaftesten Übertreibungen der Poesie: Für die wundersame Geschichte der »ersten zärtlichkeit«, geschehen zu einer Zeit, als die Schatten noch »kleine schwarze zahlungseinheiten« waren. Oder für die Odyssee der »fussinauten«, den Argonauten ebenbürtig an Treue und Beständigkeit. Und nicht zuletzt für die Geschichte der schönen, verstoßenen Aranka, die »aus den kniekehlen gesungen hat«. Legenden im felderlatein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Die Verse riechen nach Thüringer Klößen
Geschichte im Rücken: Der Dichter Lutz Seiler erweist sich in seinem neuen Band erneut als erdhafter Solitär unter den modernen Naturlyrikern.
Von Wulf Segebrecht
Das Gedicht benötigt, bevor es wirklich zutage tritt, eine Inkubationszeit von "wenigstens sieben Jahren", hat Lutz Seiler einmal versichert, als er über die Frage nachdachte, "wohin das Gedicht heute unterwegs ist". "Der Abstand selbst scheint dabei wichtig zu sein, erst ,mit der Zeit' wird das Material tatsächlich brauchbar, reif, mit diesem Mindestmaß an Geschichte im Rücken."
Jeder Leser seiner seit dem Jahr 2000 erschienenen Gedichtbände kann sich ein Bild davon machen, wie viel Geschichte der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler im Rücken hat. Es ist die Geschichte seiner Herkunft aus dem ostthüringischen Bergbaugebiet (in dem Uran abgebaut wurde), seiner Sozialisation in der DDR (einschließlich des Dienstes in der NVA), seiner Berufstätigkeit als Maurer und Zimmermann, seines Studiums in Halle und Berlin und schließlich die Geschichte seines Weges zur Literatur, verbunden mit der Ansiedlung im märkischen Wilhelmshorst, wo er heute das Haus bewohnt, in dem der Dichter Peter Huchel bis zu seinem Weggang aus der DDR lebte und wo er die Literaturzeitschrift "Sinn und Form" redigiert hatte. Nach ihm zog der Lyriker und Übersetzer Erich Arendt in dieses Haus ein. Und jetzt wohnt Lutz Seiler dort und leitet das Literaturprogramm der Peter-Huchel-Gedenkstätte. Ein Gedicht Seilers erinnert an die Vorbewohner des Hauses: "eines abends kamen / die toten meines hauses / vom bahnhof zurück (...) // von alters her // gehörte ihnen alles: jedes wort, gleich / von den lippen, jeder gute / satz."
Die Stationen, Orte und Personen seines Lebens geben erkennbar das "Material" nicht erst für den neuen, sondern auch schon für die früher erschienenen Gedichtbände Seilers her. Man stößt bei der Lektüre des Bandes "im felderlatein" immer wieder auf Themen, Formulierungen, Namen und Gedichttitel, die schon früher begegneten. Das gilt sogar für den Titel des Gedichts "im felderlatein", der - mit einem anderen Text - bereits in dem Gedichtband "pech & blende" (2000) stand. Ähnliches gilt für die Herkunftsorte Seilers ("culmitzsch"), für die Auseinandersetzungen mit der Person und dem Werk Peter Huchels und für die Erinnerungen an die eigene Familie und an die Soldatenzeit.
Das alles, bis hin zu den Namen des Stradivari-Radios und des "wunder weißen shiguli", ist tiefe DDR. Aber es ist weder eine Widerstandslegende, die Lutz Seiler sich nachträglich strickt, noch süße Ostalgie, der er nachhängt. Es ist konkrete, leibhaftige Geschichte, Erlebnis- und Erfahrungshintergrund der Gedichte. Man tut dem Autor deshalb keinen Gefallen, wenn man ihm, vermeintlich großmütig, bescheinigt, er sei ein "Nachwendeautor".
Nein, das ist er nicht; weder in dem Sinne, dass er sein Geschichtsgedächtnis erst nach der Wende entwickelt hätte, noch insofern, als man behaupten könnte, er habe überhaupt erst nach der Wende zu schreiben begonnen. Schon früh suchte er den Kontakt zu den in der DDR allerorts blühenden "Zirkeln schreibender Arbeiter" und nahm mehrfach an den "Poetenseminaren" teil, die die FDJ Jahr für Jahr in Schwerin abhielt. Seine Gedichte erschienen in den achtziger Jahren in den Sonderheften des legendären "Poesiealbums" und in der Zeitschrift "Temperamente" des Verlags Neues Leben, die sich im Untertitel "Blätter für junge Literatur" nannte. Auf die Frage "Warum schreibst Du?" antwortete er 1985: "Bestimmt schreib ich auch deshalb, um im nächsten Sommer wieder zum Schweriner FDJ-Poetenseminar fahren zu können und Leute zu treffen, die ähnlich oder ganz anders denken und mir das sagen." An solchen Leuten hatte es ihm offensichtlich andernorts gefehlt, damals.
In seinem Elternhaus sei es völlig unmusisch hergegangen, hat Seiler mehrfach berichtet. Doch heute, mit dem größeren Abstand der Geschichte im Rücken, steigt ihm und dem Leser überraschend der köstliche "geruch der gedichte" in die Nase, der sich sonntags während der Zubereitung von "klößen / & thüringer soßen" in der Küche verbreitete, als die Mutter ihren Sohn zum Memorieren der schönsten deutschen Balladen anhielt: "ich lernte das alles / von ihr: erst ohne betonung / dann mit."
Das gilt nicht nur für die Balladen und andere schöne Gegenstände. Gelernt zu haben, das geschichtlich Überlieferte mit eigener, zeitgenössischer Betonung auszustatten - darin könnte man überhaupt die größte Leistung des Lyrikers Seiler sehen. Er verbindet auf kürzestem Wege die Erdgeschichte mit der Zeitgeschichte, wenn er angesichts der wegen des Uranabbaus untergegangenen Ortschaften mehrdeutig von der "steinzeit der dörfer" spricht; er mischt unter die alten märkischen Kiefern und feuchten Moose die Starkstromschneisen, die Autobahnen, die Telegraphen und die Motorräder, den ganzen "totgesagten technikpark"; er kombiniert die meditative, naturnahe Bewegungsart des Gehens, der gleich mehrere Gedichte gelten, mit den noblen Adressen der Frankfurter Myliusstraße. Altes und Neues, das Volkslied und die lässige Redensart, die Erinnerung an das Fußballspielen mit den jugendlichen "fussinauten" vor dem Reichstag und an die geheimnisvoll-schöne Aranka, "die / aus den kniekehlen gesungen hat", verknüpfen sich zu staunenswerten Gebilden ganz und gar eigener Tonart. Dazu tragen nicht zuletzt auch die formalen Eigenschaften der Gedichte bei. Sie sind reimlos und gehorchen keinem vorgegebenen metrischen Schema. Aber Seiler schreibt eine durch und durch musikalische Sprache mit vielen im Versinneren versteckten Gleich- und Anklängen, so dass geradezu der Eindruck entsteht, man habe es mit gereimten Gedichten zu tun.
Wollte man ihm einen literarischen Ort unter vergleichbaren deutschen Autoren zuweisen, so hätte man unter den Älteren neben Peter Huchel wohl vor allem Oskar Loerke zu nennen, dann aber auch Johannes Bobrowski und Wulf Kirsten - alles sogenannte "Naturlyriker", eine Bezeichnung, die bei allen diesen Autoren eine jeweils verschiedene Bedeutung annimmt. Mit dieser jüngeren Geschichte der Naturlyrik im Rücken, nimmt sich Lutz Seiler dennoch wie ein erdhafter Solitär aus oder, wie es im Titelgedicht des Bandes heißt: "es ist ein baum / & wo ein baum so frei steht / muss er sprechen".
Lutz Seiler: "im felderlatein". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 100 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichte im Rücken: Der Dichter Lutz Seiler erweist sich in seinem neuen Band erneut als erdhafter Solitär unter den modernen Naturlyrikern.
Von Wulf Segebrecht
Das Gedicht benötigt, bevor es wirklich zutage tritt, eine Inkubationszeit von "wenigstens sieben Jahren", hat Lutz Seiler einmal versichert, als er über die Frage nachdachte, "wohin das Gedicht heute unterwegs ist". "Der Abstand selbst scheint dabei wichtig zu sein, erst ,mit der Zeit' wird das Material tatsächlich brauchbar, reif, mit diesem Mindestmaß an Geschichte im Rücken."
Jeder Leser seiner seit dem Jahr 2000 erschienenen Gedichtbände kann sich ein Bild davon machen, wie viel Geschichte der 1963 in Gera geborene Lutz Seiler im Rücken hat. Es ist die Geschichte seiner Herkunft aus dem ostthüringischen Bergbaugebiet (in dem Uran abgebaut wurde), seiner Sozialisation in der DDR (einschließlich des Dienstes in der NVA), seiner Berufstätigkeit als Maurer und Zimmermann, seines Studiums in Halle und Berlin und schließlich die Geschichte seines Weges zur Literatur, verbunden mit der Ansiedlung im märkischen Wilhelmshorst, wo er heute das Haus bewohnt, in dem der Dichter Peter Huchel bis zu seinem Weggang aus der DDR lebte und wo er die Literaturzeitschrift "Sinn und Form" redigiert hatte. Nach ihm zog der Lyriker und Übersetzer Erich Arendt in dieses Haus ein. Und jetzt wohnt Lutz Seiler dort und leitet das Literaturprogramm der Peter-Huchel-Gedenkstätte. Ein Gedicht Seilers erinnert an die Vorbewohner des Hauses: "eines abends kamen / die toten meines hauses / vom bahnhof zurück (...) // von alters her // gehörte ihnen alles: jedes wort, gleich / von den lippen, jeder gute / satz."
Die Stationen, Orte und Personen seines Lebens geben erkennbar das "Material" nicht erst für den neuen, sondern auch schon für die früher erschienenen Gedichtbände Seilers her. Man stößt bei der Lektüre des Bandes "im felderlatein" immer wieder auf Themen, Formulierungen, Namen und Gedichttitel, die schon früher begegneten. Das gilt sogar für den Titel des Gedichts "im felderlatein", der - mit einem anderen Text - bereits in dem Gedichtband "pech & blende" (2000) stand. Ähnliches gilt für die Herkunftsorte Seilers ("culmitzsch"), für die Auseinandersetzungen mit der Person und dem Werk Peter Huchels und für die Erinnerungen an die eigene Familie und an die Soldatenzeit.
Das alles, bis hin zu den Namen des Stradivari-Radios und des "wunder weißen shiguli", ist tiefe DDR. Aber es ist weder eine Widerstandslegende, die Lutz Seiler sich nachträglich strickt, noch süße Ostalgie, der er nachhängt. Es ist konkrete, leibhaftige Geschichte, Erlebnis- und Erfahrungshintergrund der Gedichte. Man tut dem Autor deshalb keinen Gefallen, wenn man ihm, vermeintlich großmütig, bescheinigt, er sei ein "Nachwendeautor".
Nein, das ist er nicht; weder in dem Sinne, dass er sein Geschichtsgedächtnis erst nach der Wende entwickelt hätte, noch insofern, als man behaupten könnte, er habe überhaupt erst nach der Wende zu schreiben begonnen. Schon früh suchte er den Kontakt zu den in der DDR allerorts blühenden "Zirkeln schreibender Arbeiter" und nahm mehrfach an den "Poetenseminaren" teil, die die FDJ Jahr für Jahr in Schwerin abhielt. Seine Gedichte erschienen in den achtziger Jahren in den Sonderheften des legendären "Poesiealbums" und in der Zeitschrift "Temperamente" des Verlags Neues Leben, die sich im Untertitel "Blätter für junge Literatur" nannte. Auf die Frage "Warum schreibst Du?" antwortete er 1985: "Bestimmt schreib ich auch deshalb, um im nächsten Sommer wieder zum Schweriner FDJ-Poetenseminar fahren zu können und Leute zu treffen, die ähnlich oder ganz anders denken und mir das sagen." An solchen Leuten hatte es ihm offensichtlich andernorts gefehlt, damals.
In seinem Elternhaus sei es völlig unmusisch hergegangen, hat Seiler mehrfach berichtet. Doch heute, mit dem größeren Abstand der Geschichte im Rücken, steigt ihm und dem Leser überraschend der köstliche "geruch der gedichte" in die Nase, der sich sonntags während der Zubereitung von "klößen / & thüringer soßen" in der Küche verbreitete, als die Mutter ihren Sohn zum Memorieren der schönsten deutschen Balladen anhielt: "ich lernte das alles / von ihr: erst ohne betonung / dann mit."
Das gilt nicht nur für die Balladen und andere schöne Gegenstände. Gelernt zu haben, das geschichtlich Überlieferte mit eigener, zeitgenössischer Betonung auszustatten - darin könnte man überhaupt die größte Leistung des Lyrikers Seiler sehen. Er verbindet auf kürzestem Wege die Erdgeschichte mit der Zeitgeschichte, wenn er angesichts der wegen des Uranabbaus untergegangenen Ortschaften mehrdeutig von der "steinzeit der dörfer" spricht; er mischt unter die alten märkischen Kiefern und feuchten Moose die Starkstromschneisen, die Autobahnen, die Telegraphen und die Motorräder, den ganzen "totgesagten technikpark"; er kombiniert die meditative, naturnahe Bewegungsart des Gehens, der gleich mehrere Gedichte gelten, mit den noblen Adressen der Frankfurter Myliusstraße. Altes und Neues, das Volkslied und die lässige Redensart, die Erinnerung an das Fußballspielen mit den jugendlichen "fussinauten" vor dem Reichstag und an die geheimnisvoll-schöne Aranka, "die / aus den kniekehlen gesungen hat", verknüpfen sich zu staunenswerten Gebilden ganz und gar eigener Tonart. Dazu tragen nicht zuletzt auch die formalen Eigenschaften der Gedichte bei. Sie sind reimlos und gehorchen keinem vorgegebenen metrischen Schema. Aber Seiler schreibt eine durch und durch musikalische Sprache mit vielen im Versinneren versteckten Gleich- und Anklängen, so dass geradezu der Eindruck entsteht, man habe es mit gereimten Gedichten zu tun.
Wollte man ihm einen literarischen Ort unter vergleichbaren deutschen Autoren zuweisen, so hätte man unter den Älteren neben Peter Huchel wohl vor allem Oskar Loerke zu nennen, dann aber auch Johannes Bobrowski und Wulf Kirsten - alles sogenannte "Naturlyriker", eine Bezeichnung, die bei allen diesen Autoren eine jeweils verschiedene Bedeutung annimmt. Mit dieser jüngeren Geschichte der Naturlyrik im Rücken, nimmt sich Lutz Seiler dennoch wie ein erdhafter Solitär aus oder, wie es im Titelgedicht des Bandes heißt: "es ist ein baum / & wo ein baum so frei steht / muss er sprechen".
Lutz Seiler: "im felderlatein". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 100 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wulf Segebrecht betont das Besondere am Dichter Lutz Seiler und erklärt, was der Dichter nicht ist: ein Nachwendeautor. Alles echt erlebt, weiß Segebrecht und auch, dass Seiler schon damals zu DDR-Zeiten geschrieben hat. Wenn nun also wiederum NVA, Thüringer Klöße und Bergbau und auch Zeitgenossenschaft in den Texten eine Rolle spielen, nimmt Segebrecht dem Autor das ab. Ebenso wie die Reimlosigkeit und die Sorglosigkeit im Umgang mit metrischen Schemata (es gibt keine). Letzteres weil Seilers Lyrik dem Rezensenten auch so, etwa durch versinnere Gleich- und Anklänge, musikalisch genug im Ohr klingt, als wärs gereimt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Lutz Seiler ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. In seinen Gedichten aber erzählt er die Geschichten nicht 'aus', sondern er schlägt nur wenige Takte an und gibt so einen Ton vor, der lange nachklingt. Seiler legt in seinen Gedichten Tonspuren. Wer ihnen nachhört, findet neben der ... Geschichte auch Zugang zu ganz eigenen, lange zurückliegenden Ereignissen.« Michael Opitz Deutschlandfunk Kultur 20110126