Wer stürzte lange vor Kopernikus das heliozentrische Weltbild? Ibn al-Shatir. Wer beschrieb als Erster den Blutkreislauf? Ibn al-Nafees. Wer war vor Leonardo das erste Universalgenie? Abu Rayan al-Biruni.
Im 9. Jahrhundert gründete der Kalif von Bagdad das legendäre "Haus der Weisheit", das fortan zum Weltzentrum der Gelehrsamkeit wurde. Hier wurden die großen Werke der Antike - Galen, Hippokrates, Platon, Aristoteles und Archimedes - vor dem Vergessen bewahrt, grundlegende Erkenntnisse der Astronomie, Mathematik, Medizin und Zoologie gewonnen.
Der bekannte britisch-irakische Wissenschaftshistoriker Jim al-Kahlili erzählt die faszinierenden Geschichten dieser Pioniere der Wissenschaften und vom einzigartigen Goldenen Zeitalter arabischer Gelehrsamkeit, ohne die unsere abendländische Kultur so nicht existieren würde.
Im 9. Jahrhundert gründete der Kalif von Bagdad das legendäre "Haus der Weisheit", das fortan zum Weltzentrum der Gelehrsamkeit wurde. Hier wurden die großen Werke der Antike - Galen, Hippokrates, Platon, Aristoteles und Archimedes - vor dem Vergessen bewahrt, grundlegende Erkenntnisse der Astronomie, Mathematik, Medizin und Zoologie gewonnen.
Der bekannte britisch-irakische Wissenschaftshistoriker Jim al-Kahlili erzählt die faszinierenden Geschichten dieser Pioniere der Wissenschaften und vom einzigartigen Goldenen Zeitalter arabischer Gelehrsamkeit, ohne die unsere abendländische Kultur so nicht existieren würde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2011Im islamischen Haus der Weisheit verknüpften sich viele Traditionen
Mit Sinn für Empirie und neue Erklärungsweisen: Jim al-Khalili hat eine überzeugende Darstellung des goldenen Zeitalters der arabischen Wissenschaften vorgelegt
Die wichtige Rolle der arabischen Wissenschaften ist nicht mehr so unbekannt, wie es manchem noch immer scheinen mag, aber selten ist sie so flüssig lesbar und auf beste Weise populärwissenschaftlich dargestellt worden wie in diesem Buch. Sein Autor, Jim al-Khalili, ist zwar im Irak geboren, wurde aber in Großbritannien wissenschaftlich ausgebildet. Der Nachfahre einer schiitischen Familie, deren Wurzeln auch nach Iran reichen, lehrt theoretische Atomphysik an der Universität von Surrey und ist als Publizist mit wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgetreten.
Den Titel seines Buches "Pathfinders. The Golden Age of Arabic Science" hat der deutsche Verlag in "Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur" verändert. Das spielt auf jenes "Bait al Hikma" an, das unter dem Kalifen al Mamun - einem der Söhne des märchenumwobenen Harun al Raschid - in frühabbasidischer Zeit eingerichtet wurde und sich zu einer der wichtigsten Denkfabriken der arabisch-muslimischen Welt entwickelte. Das Bait al Hikma setzte eine Explosion des Forschens und Wissens in Gang, von der der Islam noch Jahrhunderte lang zehrte. Gotthard Strohmaier, Manfred Ullmann und andere haben diesen interessanten geistesgeschichtlichen Komplex immer wieder einmal dargestellt, der zur Staunen erregenden Hochblüte des Islams in seiner klassischen Epoche führte. Der junge Islam machte sich damals unbefangen und ohne Vorurteile - die freilich in Gestalt religionsgelehrter Borniertheit alsbald einsetzten - jenes Wissen zunutze, das aus der Antike, von Griechen und Persern zumal, überkommen war und von jenen Völkern gepflegt wurde, die er gerade unterworfen hatte.
Die Kalifen ließen im Haus der Weisheit durch syrische Gelehrte, die meistens Christen waren, die Schriften von Euklid, Ptolemäus, Galen, Hippokrates, Aristoteles, Platon - um nur die wichtigsten zu nennen - übertragen, zunächst aus dem Griechischen ins Syrische, dann ins Arabische. Ein Teil der Werke wurde sogar mehrfach in die Sprache der koranischen Offenbarung übersetzt. Bis heute sind die Namen einiger Übersetzer, die zum Teil selbst Wissenschaftler waren, legendär: Hunain Ibn Ishaq, sein Sohn Ishaq Ibn Hunain, Thabit Ibn Qurra - ein Gelehrter, welcher der rätselhaften Religionsgemeinschaft der Sabier von Harran angehörte -, Qusta Ibn Luqa aus Baalbek oder Abu Bischr Matta, der christliche Lehrer des großen Philosophen al Farabi.
Bleibende Resultate dieses islamischen "Brainstorming" waren - um es ein wenig pauschal auszudrücken - die Herausbildung der rationalistischen mutazilitischen Theologie, die vom Kalifen bevorzugt wurde, die Entstehung der hellenisierenden Philosophie in islamischem Gewande und in arabischer Sprache sowie die "arabische Wissenschaft", an der Perser und andere mitwirkten. In al-Khalilis Buch liegt der Schwerpunkt auf Letzterer, obwohl immer wieder Querverweise auf die beiden anderen Gebiete angebracht werden. Voraussetzung für diese Blüte war die prosperierende städtische Kultur des islamischen Weltreiches, dessen Zentrum das erst ein halbes Jahrhundert zuvor gegründete Bagdad war. Als das Bait al Hikma wirkte, hatte die Metropole am Tigris nach Schätzungen etwa eine Million Einwohner.
Bedürfnisse des Alltags, religiöse Notwendigkeiten (Festlegung der Gebetszeiten, der Beginn des Ramadan, die Lage Mekkas, die Pilgerfahrt), aber auch Mäzenatentum und wissenschaftliche Neugier führten unter al Mamun zu regelrechten Forschungsprojekten, die den Vergleich mit heutiger Großforschung nicht zu scheuen brauchen. Allein unter dem Gründer-Kalifen entstanden zwei Observatorien, zog doch die Himmelskunde die Muslime besonders an. Die arabischen Astronomen überprüften die Erkenntnisse eines Ptolemäus, Eratosthenes oder Aristoteles empirisch, was ein neuer Ansatz war. Die arabische Wissenschaft war weitaus stärker auf Erfahrung und Experimente ausgerichtet als die eher abstrakte griechische, die von der pythagoreischen Mathematik her kam. In der Medizin lernte man nicht nur von Galen und anderen antiken Ärzten, sondern auch von den Persern, in der Mathematik von den Indern. Der Philosoph Ibn Sina (Avicenna) wurde auch der Galen des Islams.
Khalili zeigt glaubhaft, dass die Hochblüte der "arabischen Wissenschaft" - neben der griechischen Antike und der europäischen Renaissance (Kopernikus, Kepler, Galilei) - eine dritte, mit diesen gleichberechtigte Epoche wissenschaftlichen Fortschritts gewesen ist. Die Muslime haben das antike Wissen nicht nur, wie man gelegentlich noch immer hört, bewahrt und an Europa weitergegeben, sie waren wissenschaftlich innovativ. Der Autor zeigt dies ausführlich an einigen Universalgelehrten, die er besonders herausstellt: an dem Mathematiker Al Chwarizmi, dem Allround-Genie Abu Raihan al Biruni - den man, die Malerei ausgeschlossen, ansonsten durchaus mit Leonardo da Vinci vergleichen kann -, dem Physiker Ibn al Haytham (lateinisch Alhazen), der getrost einem Christian Huygens an die Seite gestellt werden kann, oder dem "Chemiker" Jabir Ibn Hayyan, den das lateinische Mittelalter unter dem Namen Geber leider eher als einen Alchemisten ansah. Al Khalilis These wirkt umso glaubhafter, als er auch manche Übertreibung richtigstellt, die auch von muslimischer Seite vorgebracht worden ist: Nicht alles haben die Araber entdeckt oder erfunden.
Warum die "arabische Wissenschaft" danach verfiel, vermag auch Jim al-Khalili nicht zu erklären. Es gibt bis heute keine wirklich befriedigende Theorie dafür. Der bekennende Atheist macht freilich nicht primär den Islam dafür verantwortlich, denn der hatte ja in dieser Epoche gerade auch das Gegenteil gezeigt. In einem Anhang finden sich die Kurzbiographien jener Gelehrten und Philosophen, die einst zu dieser erstaunlichen Blüte beigetragen haben. Es ist eine beeindruckende Kette von Gestalten.
WOLFGANG GÜNTER LERCH.
Jim al-Khalili: "Im Haus der Weisheit". Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 442 S., Abb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Sinn für Empirie und neue Erklärungsweisen: Jim al-Khalili hat eine überzeugende Darstellung des goldenen Zeitalters der arabischen Wissenschaften vorgelegt
Die wichtige Rolle der arabischen Wissenschaften ist nicht mehr so unbekannt, wie es manchem noch immer scheinen mag, aber selten ist sie so flüssig lesbar und auf beste Weise populärwissenschaftlich dargestellt worden wie in diesem Buch. Sein Autor, Jim al-Khalili, ist zwar im Irak geboren, wurde aber in Großbritannien wissenschaftlich ausgebildet. Der Nachfahre einer schiitischen Familie, deren Wurzeln auch nach Iran reichen, lehrt theoretische Atomphysik an der Universität von Surrey und ist als Publizist mit wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgetreten.
Den Titel seines Buches "Pathfinders. The Golden Age of Arabic Science" hat der deutsche Verlag in "Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur" verändert. Das spielt auf jenes "Bait al Hikma" an, das unter dem Kalifen al Mamun - einem der Söhne des märchenumwobenen Harun al Raschid - in frühabbasidischer Zeit eingerichtet wurde und sich zu einer der wichtigsten Denkfabriken der arabisch-muslimischen Welt entwickelte. Das Bait al Hikma setzte eine Explosion des Forschens und Wissens in Gang, von der der Islam noch Jahrhunderte lang zehrte. Gotthard Strohmaier, Manfred Ullmann und andere haben diesen interessanten geistesgeschichtlichen Komplex immer wieder einmal dargestellt, der zur Staunen erregenden Hochblüte des Islams in seiner klassischen Epoche führte. Der junge Islam machte sich damals unbefangen und ohne Vorurteile - die freilich in Gestalt religionsgelehrter Borniertheit alsbald einsetzten - jenes Wissen zunutze, das aus der Antike, von Griechen und Persern zumal, überkommen war und von jenen Völkern gepflegt wurde, die er gerade unterworfen hatte.
Die Kalifen ließen im Haus der Weisheit durch syrische Gelehrte, die meistens Christen waren, die Schriften von Euklid, Ptolemäus, Galen, Hippokrates, Aristoteles, Platon - um nur die wichtigsten zu nennen - übertragen, zunächst aus dem Griechischen ins Syrische, dann ins Arabische. Ein Teil der Werke wurde sogar mehrfach in die Sprache der koranischen Offenbarung übersetzt. Bis heute sind die Namen einiger Übersetzer, die zum Teil selbst Wissenschaftler waren, legendär: Hunain Ibn Ishaq, sein Sohn Ishaq Ibn Hunain, Thabit Ibn Qurra - ein Gelehrter, welcher der rätselhaften Religionsgemeinschaft der Sabier von Harran angehörte -, Qusta Ibn Luqa aus Baalbek oder Abu Bischr Matta, der christliche Lehrer des großen Philosophen al Farabi.
Bleibende Resultate dieses islamischen "Brainstorming" waren - um es ein wenig pauschal auszudrücken - die Herausbildung der rationalistischen mutazilitischen Theologie, die vom Kalifen bevorzugt wurde, die Entstehung der hellenisierenden Philosophie in islamischem Gewande und in arabischer Sprache sowie die "arabische Wissenschaft", an der Perser und andere mitwirkten. In al-Khalilis Buch liegt der Schwerpunkt auf Letzterer, obwohl immer wieder Querverweise auf die beiden anderen Gebiete angebracht werden. Voraussetzung für diese Blüte war die prosperierende städtische Kultur des islamischen Weltreiches, dessen Zentrum das erst ein halbes Jahrhundert zuvor gegründete Bagdad war. Als das Bait al Hikma wirkte, hatte die Metropole am Tigris nach Schätzungen etwa eine Million Einwohner.
Bedürfnisse des Alltags, religiöse Notwendigkeiten (Festlegung der Gebetszeiten, der Beginn des Ramadan, die Lage Mekkas, die Pilgerfahrt), aber auch Mäzenatentum und wissenschaftliche Neugier führten unter al Mamun zu regelrechten Forschungsprojekten, die den Vergleich mit heutiger Großforschung nicht zu scheuen brauchen. Allein unter dem Gründer-Kalifen entstanden zwei Observatorien, zog doch die Himmelskunde die Muslime besonders an. Die arabischen Astronomen überprüften die Erkenntnisse eines Ptolemäus, Eratosthenes oder Aristoteles empirisch, was ein neuer Ansatz war. Die arabische Wissenschaft war weitaus stärker auf Erfahrung und Experimente ausgerichtet als die eher abstrakte griechische, die von der pythagoreischen Mathematik her kam. In der Medizin lernte man nicht nur von Galen und anderen antiken Ärzten, sondern auch von den Persern, in der Mathematik von den Indern. Der Philosoph Ibn Sina (Avicenna) wurde auch der Galen des Islams.
Khalili zeigt glaubhaft, dass die Hochblüte der "arabischen Wissenschaft" - neben der griechischen Antike und der europäischen Renaissance (Kopernikus, Kepler, Galilei) - eine dritte, mit diesen gleichberechtigte Epoche wissenschaftlichen Fortschritts gewesen ist. Die Muslime haben das antike Wissen nicht nur, wie man gelegentlich noch immer hört, bewahrt und an Europa weitergegeben, sie waren wissenschaftlich innovativ. Der Autor zeigt dies ausführlich an einigen Universalgelehrten, die er besonders herausstellt: an dem Mathematiker Al Chwarizmi, dem Allround-Genie Abu Raihan al Biruni - den man, die Malerei ausgeschlossen, ansonsten durchaus mit Leonardo da Vinci vergleichen kann -, dem Physiker Ibn al Haytham (lateinisch Alhazen), der getrost einem Christian Huygens an die Seite gestellt werden kann, oder dem "Chemiker" Jabir Ibn Hayyan, den das lateinische Mittelalter unter dem Namen Geber leider eher als einen Alchemisten ansah. Al Khalilis These wirkt umso glaubhafter, als er auch manche Übertreibung richtigstellt, die auch von muslimischer Seite vorgebracht worden ist: Nicht alles haben die Araber entdeckt oder erfunden.
Warum die "arabische Wissenschaft" danach verfiel, vermag auch Jim al-Khalili nicht zu erklären. Es gibt bis heute keine wirklich befriedigende Theorie dafür. Der bekennende Atheist macht freilich nicht primär den Islam dafür verantwortlich, denn der hatte ja in dieser Epoche gerade auch das Gegenteil gezeigt. In einem Anhang finden sich die Kurzbiographien jener Gelehrten und Philosophen, die einst zu dieser erstaunlichen Blüte beigetragen haben. Es ist eine beeindruckende Kette von Gestalten.
WOLFGANG GÜNTER LERCH.
Jim al-Khalili: "Im Haus der Weisheit". Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 442 S., Abb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Stefan Weidner schätzt Jim al-Khalilis Buch "Im Haus der Weisheit" als gelungene Einführung in die arabischen Wissenschaften des Mittelalters. Angesichts all der Islamdebatten findet er den nüchternen, unpolemischen Zugang des irakischstämmischen britischen Physikers zur Materie sehr erfreulich. Im Mittelpunkt sieht er hier nämlich die tatsächlichen Errungenschaften arabischer Wissenschaftler und nicht deren Apologie. So räume der Autor mit "positiven wie negativen Mythen" gleichermaßen auf. Warum der Forschergeist der arabischen Welt in der Renaissance allerdings versiegte, kann für ihn auch al-Khalili nicht wirklich erklären. Nichtsdestoweniger lobt Weidner die überaus kenntnisreiche und gut lesbare Darstellung der Leistungen der arabischen Wissenschaften vor allem auf den Gebieten der Algebra, Geometrie und Astronomie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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