Die Jahreszeiten-Bände von Karl Ove Knausgård: "Im Herbst" ist der erste Teil einer aus vier Bänden bestehenden grandiosen Liebeserklärung an das Leben und die sinnlich erfahrbare Welt. Enthalten: Briefe an eine ungeborene Tochter, Reflektionen über alltägliche Phänomene.
Ein Kind wird zur Welt kommen. Und ein Vater setzt sich hin, um ihm zu schreiben. Er will dem Kind zeigen, was es erwartet, die Myriade von Phänomenen und Materie, Tieren und Menschen, die wir die Welt nennen. Er schreibt über die Sonne und den Dachs, über die Thermoskanne und Urin, über das Bett und die Einsamkeit, während das Kind im Dunkeln wächst.
"All das Fantastische, dem du bald begegnen wirst, das du bald sehen darfst, verliert man so leicht aus den Augen, und es gibt fast so viele Arten, dies zu tun, wie es Menschen gibt. Deshalb schreibe dieses Buch für dich. Ich will dir die Welt zeigen, wie sie ist und wie sie uns umgibt, die ganze Zeit. Nur indem ich das tue, kann ich selbst sie sehen. Was macht das Leben lebenswert?"
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Ausstattung: mit Lesebändchen
Ein Kind wird zur Welt kommen. Und ein Vater setzt sich hin, um ihm zu schreiben. Er will dem Kind zeigen, was es erwartet, die Myriade von Phänomenen und Materie, Tieren und Menschen, die wir die Welt nennen. Er schreibt über die Sonne und den Dachs, über die Thermoskanne und Urin, über das Bett und die Einsamkeit, während das Kind im Dunkeln wächst.
"All das Fantastische, dem du bald begegnen wirst, das du bald sehen darfst, verliert man so leicht aus den Augen, und es gibt fast so viele Arten, dies zu tun, wie es Menschen gibt. Deshalb schreibe dieses Buch für dich. Ich will dir die Welt zeigen, wie sie ist und wie sie uns umgibt, die ganze Zeit. Nur indem ich das tue, kann ich selbst sie sehen. Was macht das Leben lebenswert?"
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Ausstattung: mit Lesebändchen
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Erstaunliches
vom Dachs
Karl Ove Knausgård startet
sein Jahreszeiten-Projekt
Sein großes Werk ist vollbracht. Karl Ove Knausgård hat die sechs monumentalen Bände von „Min Kamp“, in denen er sein Leben mit einer zuweilen quälenden Aufrichtigkeit, Dichte und Länge beschrieb, abgeschlossen und ist nun frei für etwas Neues.
Zwar handelt es sich auch jetzt wieder um eine mehrteilige Reihe, die ihr Stichwort diesmal von den Jahreszeiten nimmt; „Im Herbst“ heißt diese erste Lieferung. Doch wer Knausgård kennt, der wird sofort bemerken, wie ein ganz anderes Grundgefühl auf diesen Seiten waltet. Schon wie unknausgårdisch kurz diese Einzelstücke sind! Siebzig davon, locker gesetzt, verteilen sich auf weniger als 300 Seiten. Sie tragen Namen wie „Laub“, „Plastiktüten“, „Knöpfe“, „Pisse“, „Vogelzug“, „Dachse“, Säuglinge stehen direkt neben Autos und Erfahrung neben Läusen. Sie überlassen sich dem Erstaunen über Phänomene der Alltagswelt, wie er sie im Umkreis seines südschwedischen Landhauses erlebt, mit den über alles geliebten Kindern, aber eigentlich noch lieber alleine. Jeder der drei Teile hebt an mit einem Brief an die einstweilen ungeborene jüngste Tochter; aber er verweilt dabei nicht. Höchstens ließe sich vermuten, dass er alles, was der Fall ist, stellvertretend für sie wie zum ersten Mal sehen will, aufmerksam und dankbar diesmal.
Alles ist selbstverständlich; aber dies vermindert nicht das Wunderbare daran, eher im Gegenteil: Ist es nicht unglaublich, dass ein fantastisches Wesen wie der Mond, der nachts über den Hausdächern schwebt, zu den Selbstverständlichkeiten gehört? „Die Welt spricht für sich selbst, aber wir hören nicht zu, und da wir uns nicht mehr in ihrer Tiefe aufhalten und sie als einen Teil unserer selbst erleben, ist es, als würde sie für uns verschwinden. Wir öffnen die Tür, aber es hat keine Bedeutung, es ist nichts, nur etwas, was wir tun, um von einem Zimmer in ein anderes zu gelangen.“
Es scheint, als hätten Knausgård seine alten Dämonen ein Stück weit aus den Klauen gelassen; und als öffnete sich ihm, da er zur Ruhe kommt, das Geheimnis der Dinge, das ihm vorher nicht bewusst werden konnte. Und man muss nichts tun dafür.
Knausgård, nordischer Protestant, hatte immer gemeint, dass man sich einen Genuss, sofern man ihn überhaupt erreicht, zuvor verdienen müsse. Nun fällt es ihm auf, dass gerade die nordischen Früchte dem Genuss keinen Widerstand leisten. Man denke daran, welch rituellen Aufwand eine Banane oder Orange verlangen, bevor man sie essen kann. „Äpfel sind da anders.“
Man kann einen Apfel ergreifen und sofort hineinbeißen, ohne ihn zu schälen, und sofort ist der scharfe, süße, frische Geschmack da. Er fährt mit seinen Kindern in den Wald, und unverhofft bietet sich ihnen ein Apfelbaum dar. „Können wir die essen, fragten sie. Ich sagte Ja, bedient euch. In einem plötzlichen Aufblitzen, ebenso erfüllt von Glück wie von Trauer, begriff ich, was Freiheit war.“
Um Konventionen jeder Art schert er sich nach wie vor nicht. In seinen Augen hat alles, was da ist, auch sein gutes Daseinsrecht, was sich z. B. in einer gänzlich unfrivolen Körperfrömmigkeit äußert. Wie etwa riecht Pisse? Der nicht unangenehme Geruch, den man selbst absondert, mischt sich mit dem beißenden Gesamt-Aroma der entsprechenden Örtlichkeiten, und: „Der kleine Gestank der eigenen Pisse verhält sich zum großen Gestank ähnlich wie die einzelne Zigarette zum Tod: mit einem leichten Kribbeln.“
Wäre Knausgård nicht Knausgård, könnte man so eine Stelle leicht für sarkastisch oder bloß geistreich halten. Wenn man ihm aber Vertrauen schenkt – und das sollte man –, enthüllt sich in diesem gewagten Vergleich eine Wahrheit über das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Oder wie steht es mit dem Dachs? Knausgård fällt auf, was für ein markantes Tier das ist, massiv und mit einer einprägsamen Körperzeichnung in Schwarz und Weiß, und, obwohl eher nachtaktiv, auch nicht eigentlich scheu – und dass er doch, anders als Bär oder Fuchs, „nicht in die Kultur hineingezogen wurde“. Er ist ein symbolfreies Wesen, das ganz für sich steht, mit starken Gewohnheiten und einer engen Beziehung zur Erde, und das Nachdenken über die Natur begünstigt. „Ich wünschte ihm nur das Beste.“ Bei jemand anderem klänge dieser Satz heuchlerisch oder hilflos. Knausgård meint es genau so.
Dieses Buch vom Herbst hat seinerseits etwas Herbstliches. Die Zeit der Hitze und der großen Aufregungen ist vorbei, ein kühler, heiterer Frieden ist eingekehrt, die grundlegenden Formen treten aus der früheren Verwirrung wie von selbst hervor, anmutig, klar und schlicht; sie tun, was Formen sonst selten tun, sie leuchten. Wer Knausgård liebt (und das sind inzwischen nicht wenige), wird glücklich sein, dass ihm dieses helle Buch gelang.
BURKHARD MÜLLER
Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Mit Bildern von Vanessa Baird. Luchterhand-Literaturverlag, München 2017. 286 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Es scheint, als hätten den Autor
seine Dämonen ein Stück weit
aus den Klauen gelassen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
vom Dachs
Karl Ove Knausgård startet
sein Jahreszeiten-Projekt
Sein großes Werk ist vollbracht. Karl Ove Knausgård hat die sechs monumentalen Bände von „Min Kamp“, in denen er sein Leben mit einer zuweilen quälenden Aufrichtigkeit, Dichte und Länge beschrieb, abgeschlossen und ist nun frei für etwas Neues.
Zwar handelt es sich auch jetzt wieder um eine mehrteilige Reihe, die ihr Stichwort diesmal von den Jahreszeiten nimmt; „Im Herbst“ heißt diese erste Lieferung. Doch wer Knausgård kennt, der wird sofort bemerken, wie ein ganz anderes Grundgefühl auf diesen Seiten waltet. Schon wie unknausgårdisch kurz diese Einzelstücke sind! Siebzig davon, locker gesetzt, verteilen sich auf weniger als 300 Seiten. Sie tragen Namen wie „Laub“, „Plastiktüten“, „Knöpfe“, „Pisse“, „Vogelzug“, „Dachse“, Säuglinge stehen direkt neben Autos und Erfahrung neben Läusen. Sie überlassen sich dem Erstaunen über Phänomene der Alltagswelt, wie er sie im Umkreis seines südschwedischen Landhauses erlebt, mit den über alles geliebten Kindern, aber eigentlich noch lieber alleine. Jeder der drei Teile hebt an mit einem Brief an die einstweilen ungeborene jüngste Tochter; aber er verweilt dabei nicht. Höchstens ließe sich vermuten, dass er alles, was der Fall ist, stellvertretend für sie wie zum ersten Mal sehen will, aufmerksam und dankbar diesmal.
Alles ist selbstverständlich; aber dies vermindert nicht das Wunderbare daran, eher im Gegenteil: Ist es nicht unglaublich, dass ein fantastisches Wesen wie der Mond, der nachts über den Hausdächern schwebt, zu den Selbstverständlichkeiten gehört? „Die Welt spricht für sich selbst, aber wir hören nicht zu, und da wir uns nicht mehr in ihrer Tiefe aufhalten und sie als einen Teil unserer selbst erleben, ist es, als würde sie für uns verschwinden. Wir öffnen die Tür, aber es hat keine Bedeutung, es ist nichts, nur etwas, was wir tun, um von einem Zimmer in ein anderes zu gelangen.“
Es scheint, als hätten Knausgård seine alten Dämonen ein Stück weit aus den Klauen gelassen; und als öffnete sich ihm, da er zur Ruhe kommt, das Geheimnis der Dinge, das ihm vorher nicht bewusst werden konnte. Und man muss nichts tun dafür.
Knausgård, nordischer Protestant, hatte immer gemeint, dass man sich einen Genuss, sofern man ihn überhaupt erreicht, zuvor verdienen müsse. Nun fällt es ihm auf, dass gerade die nordischen Früchte dem Genuss keinen Widerstand leisten. Man denke daran, welch rituellen Aufwand eine Banane oder Orange verlangen, bevor man sie essen kann. „Äpfel sind da anders.“
Man kann einen Apfel ergreifen und sofort hineinbeißen, ohne ihn zu schälen, und sofort ist der scharfe, süße, frische Geschmack da. Er fährt mit seinen Kindern in den Wald, und unverhofft bietet sich ihnen ein Apfelbaum dar. „Können wir die essen, fragten sie. Ich sagte Ja, bedient euch. In einem plötzlichen Aufblitzen, ebenso erfüllt von Glück wie von Trauer, begriff ich, was Freiheit war.“
Um Konventionen jeder Art schert er sich nach wie vor nicht. In seinen Augen hat alles, was da ist, auch sein gutes Daseinsrecht, was sich z. B. in einer gänzlich unfrivolen Körperfrömmigkeit äußert. Wie etwa riecht Pisse? Der nicht unangenehme Geruch, den man selbst absondert, mischt sich mit dem beißenden Gesamt-Aroma der entsprechenden Örtlichkeiten, und: „Der kleine Gestank der eigenen Pisse verhält sich zum großen Gestank ähnlich wie die einzelne Zigarette zum Tod: mit einem leichten Kribbeln.“
Wäre Knausgård nicht Knausgård, könnte man so eine Stelle leicht für sarkastisch oder bloß geistreich halten. Wenn man ihm aber Vertrauen schenkt – und das sollte man –, enthüllt sich in diesem gewagten Vergleich eine Wahrheit über das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem. Oder wie steht es mit dem Dachs? Knausgård fällt auf, was für ein markantes Tier das ist, massiv und mit einer einprägsamen Körperzeichnung in Schwarz und Weiß, und, obwohl eher nachtaktiv, auch nicht eigentlich scheu – und dass er doch, anders als Bär oder Fuchs, „nicht in die Kultur hineingezogen wurde“. Er ist ein symbolfreies Wesen, das ganz für sich steht, mit starken Gewohnheiten und einer engen Beziehung zur Erde, und das Nachdenken über die Natur begünstigt. „Ich wünschte ihm nur das Beste.“ Bei jemand anderem klänge dieser Satz heuchlerisch oder hilflos. Knausgård meint es genau so.
Dieses Buch vom Herbst hat seinerseits etwas Herbstliches. Die Zeit der Hitze und der großen Aufregungen ist vorbei, ein kühler, heiterer Frieden ist eingekehrt, die grundlegenden Formen treten aus der früheren Verwirrung wie von selbst hervor, anmutig, klar und schlicht; sie tun, was Formen sonst selten tun, sie leuchten. Wer Knausgård liebt (und das sind inzwischen nicht wenige), wird glücklich sein, dass ihm dieses helle Buch gelang.
BURKHARD MÜLLER
Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Mit Bildern von Vanessa Baird. Luchterhand-Literaturverlag, München 2017. 286 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Es scheint, als hätten den Autor
seine Dämonen ein Stück weit
aus den Klauen gelassen
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Frank Junghänel nennt Karl Ove Knausgard einen Gott mit kleinen Fehlern, daher sein Erfolg. Dass der Autor nach seinem Mammutwerk nun den Blick weitet, indem er ihn verengt, findet Junghänel logisch. Die kurzen Betrachtungen, "Miniessays" über Äpfel, Wespen oder Fieber, findet der Rezensent hinreißend. Und wieder ist der Autor ein Gott, indem er die Welt beschreibend neu erschafft, dem Gewöhnlichen seinen Zauber wiedergibt, wie Junghänel erklärt. Das funktioniert laut Rezensent über Genauigkeit und eine Kreisbewegung, die den Leser immer wieder an den Anfang der Überlegung zurückführt. Junghänel freut sich jetzt schon auf weitere Bände der neuen Reihe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wer Knausgård liebt (und das sind inzwischen nicht wenige), wird glücklich sein, dass ihm dieses helle Buch gelang.« Burkhard Müller / Süddeutsche Zeitung