Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, die in den 1930er Jahren vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Exil in die USA geflohen waren, für das Office of Strategic Services, den Vorläufer der CIA. Zwischen 1943 und 1949 versorgten sie die Amerikaner mit umfangreichen Dossiers über das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in der NS-Diktatur, über Hitlers Kriegsstrategien und die Rolle des Antisemitismus. Darüber hinaus entwarfen sie Pläne für den Wiederaufbau einer demokratischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reichs". So spielten sie bei der Entwicklung der alliierten Nachkriegspolitik, den Entnazifizierungsprogrammen und der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse eine maßgebliche Rolle.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nicolas Freund begrüßt die deutsche Ausgabe der von Raffalele Laudini herausgegebenen 31 Berichte, die Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer zwischen 1943 und 1949 für den amerikanischen Geheimdienst verfassten. Der Kritiker entnimmt den präzisen, bisweilen "komplizierten" Analysen der drei Mitglieder der Frankfurter Schule nicht nur Berichte zur gesellschaftlichen und politischen Lage in Nazi-Deutschland, sondern neben Richtlinien für die Aufhebung von NS-Gesetzen nach dem Krieg auch Gedanken zum Umgang mit Kriegsverbrechern. Auch für die Hinweise, die jedem Text durch den Herausgeber vorangestellt sind und die Originaltitel und Dokumente wie Besprechungsprotokolle benennen, um auf den jeweiligen anonymen Autor schließen zu können, ist der Rezensent dankbar. Ein großartiges Beispiel für "Wissenschaft aus der Distanz", das die politische Aktivität der Frankfurter Schule deutlich macht, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2016Hoffnung auf ein besseres Deutschland
Analysen emigrierter deutscher Intellektueller für den amerikanischen Geheimdienst in den Jahren 1943 bis 1949
So sie keine Abenteurer sind oder dringend Geld brauchen, haben herausragende Intellektuelle nur selten den Ehrgeiz, sich den Kopf für einen geheimen Nachrichtendienst zu zerbrechen. Dazu bedarf es schon besonderer Umstände. Der deutsche "Amoklauf gegen alles, was Menschen bindet und sittigt" (Thomas Mann) war ein solcher Anlass. Es waren keine Geringeren als Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann, die sich mitten im Zweiten Weltkrieg in den Dienst des "Office of Strategic Services" (OSS) stellten und damit die Analysefähigkeit des amerikanischen Geheimdienstes zu Dunkeldeutschland sprunghaft steigerten. Die vor Hitler geflohenen jüdischen Intellektuellen wussten als Mitglieder von Max Horkheimers legendärem Frankfurter "Institut für Sozialforschung" (das nach 1933 in New York weitergeführt wurde) genau, worüber sie schrieben.
Kirchheimer, ein Linksintellektueller, der bei Carl Schmitt promoviert hatte, kam von der Philosophie und den Sozialwissenschaften her. Er erlebte den Höhepunkt seiner Karriere erst nach seinem geheimdienstlichen Engagement als Professor für Politische Wissenschaften an der Columbia University. Die 1961 erschienene Studie über "Politische Justiz" ist sein bekanntestes Werk. Der während der Studentenrevolte der sechziger Jahre als deren geistiger Übervater berühmt gewordene Marcuse, ursprünglich Philosoph aus der Schule von Heidegger und Husserl, blieb nach Kriegsende und Auflösung des OSS ebenso wie Kirchheimer noch einige Jahre als Analytiker im amerikanischen Außenministerium. Dort befasste sich der Marxist mit der kommunistischen Gesellschaftsentwicklung. Neumann begründete seinen Weltruf mit einer der tiefgehendsten Untersuchungen des NS-Herrschaftssystems überhaupt, dem 1942 in Erstfassung veröffentlichten Werk "Behemoth". Bis zum Ende der Weimarer Republik war der Jurist für die Gewerkschaften und die SPD tätig gewesen. Später, als Professor für Politische Wissenschaften ebenfalls an der Columbia University, gehört er zu den Gründervätern der Freien Universität Berlin von 1948.
Die drei deutschen Emigranten befanden sich in der Analyseabteilung des CIA-Vorläufers, die damals mit über 1200 Mitarbeitern die größte amerikanische Forschungseinrichtung gewesen ist, in bester Gesellschaft. Felix Gilbert, Walter Rostow, Arthur Schlesinger jr. oder Talcott Parsons waren dort beispielsweise ihre Kollegen. Die Deutschland-Berichte der "Neumann-Gruppe" in der Research and Analysis Branch des OSS sind seit 40 Jahren zugänglich und in großen Teilen auch ediert, doch erst jetzt konnte die Identifizierung derjenigen anonym verfassten Studien abgeschlossen werden, die aus der Feder der drei prominenten Vertreter der "Frankfurter Schule" stammen. 31 Berichte aus der Zeit von 1943 bis 1949 sind nun in voller Länge nachzulesen. Von den sieben Themenfeldern widmet sich eines der "Feindanalyse", ein anderes ist mit "Entnazifizierung und Militärregierung" überschrieben; es geht um "Ein neues Deutschland in einem neuen Europa" oder unter dem Rubrum "Ein neuer Feind" um den Weltkommunismus. Die seinerzeit in mittelmäßigem Englisch verfassten Studien wurden in die Muttersprache der Gelehrten rückübertragen.
Wo man die auf mehr als 700 Druckseiten entfalteten Expertisen auch aufschlägt, man liest sich fest. Mit ihrer enormen Sachkenntnis, ihrer analytischen Kraft und gedanklichen Klarheit bestechen sie durchweg - auch wenn nach siebzig Jahren Forschung manches selbstverständlich anders zu sehen ist. Zeitgenössisch waren die Untersuchungen der Gipfel des Wissens über den Feind und nützliche Handlungsempfehlungen für den Umgang mit einer ausgebrannten Nation.
In seiner Ausarbeitung vom Herbst 1944 warnt Franz Neumann beispielsweise davor, den Überlegungen von Finanzminister Morgenthau Jr. zu folgen. Die Zerstörung der deutschen Industrie, schrieb der Sozialdemokrat, würde "soziale und ökonomische Spannungen verursachen, die zu sozialen Unruhen führen und über einen langen Zeitraum erhebliche Kraftanstrengungen erforderlich machen würden". Ein derartiger Karthago-Friede werde die gesamte europäische Wirtschaftsstruktur in Mitleidenschaft ziehen und den Kommunisten in die Hände arbeiten. Mit Sicherheit würde sich eine Deindustrialisierung der größten europäischen Volkswirtschaft so auswirken, "dass eine Einbindung Deutschlands in die Wirtschaft der UdSSR in den Augen der allermeisten Deutschen die attraktivste Lösung darstellen würde".
Härte gegen NS-Verbrecher und dienstfertige Funktionseliten erschien den OSS-Analytikern dagegen ebenso erforderlich wie eine Durchsetzung der Umerziehung, gegen die gerade diejenigen Militärs, Beamten, Juristen, Propagandisten, Akademiker und zu "Mitläufern" mutierten Ehemaligen das größte Geschrei erhoben, die sie am nötigsten hatten. Tatsächlich gewannen Kirchheimer und Neumann "entscheidenden Einfluss auf die Erarbeitung des rechtsphilosophischen Gerüsts der alliierten Kriegsverbrecherprozesse", wie Axel Honneth, der gegenwärtige Leiter des Instituts für Sozialforschung, unterstreicht.
Die drei Analytiker sahen auch, dass die Nazi-Partei und ihre Prätorianer keineswegs allein für die erstaunliche Effizienz des Raubstaates verantwortlich waren. Daher entstand eine Liste mit den Namen von 1800 Geschäftsleuten und Wirtschaftsfunktionären, die scheinbar unpolitischen Organen außerhalb der NSDAP angehörten, die aber "für den Aufstieg und den Fortbestand des Nazismus von entscheidender Bedeutung waren". Auch sie sollten interniert werden.
Weder dies noch ihre weitreichenden Empfehlungen für einen gründlichen Umbau der Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen, die den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus nach ihrer Überzeugung ermöglicht hatten, wurden Bestandteil der Besatzungs- und Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten. Der Anfang 1946 fühlbar werdende amerikanisch-sowjetische Gegensatz und ein von den machtpolitischen Realitäten abgelöster, zu hysterischer Ideologie verkommener Antikommunismus machten solche Ansätze rasch obsolet.
Marcuse erging sich darüber ebenso wenig in Illusionen wie über die neuen "Volksdemokratien" in Ostmitteleuropa. In einer letzten Analyse vom Sommer 1949 schrieb er, obgleich die Kommunisten durch ihren Widerstand gegen die deutsche Besetzung erhebliches Prestige erworben hätten, seien sie dort "ganz oder teilweise von außen, im Gefolge der Sowjetarmee, an die Macht gekommen. Das diktatorische System, das sie errichteten, entspricht nicht dem Willen der Bevölkerung und in einigen dieser Gebiete gibt es Berichten zufolge faktisch keine Anhänger im Volk."
Diese Erkenntnis wird das State Department nicht überrascht haben. Der in den letzten Kriegs- und den ersten Besatzungsjahren erreichte Zenit des intellektuellen, wenn auch selten unmittelbar politischen Einflusses der Emigranten-Gruppe war überschritten. Die Hinterlassenschaft ihres geheimen Wirkens ist ein Monument der Hoffnung auf ein besseres Deutschland.
KLAUS-DIETMAR HENKE
Franz Neumann/Herbert Marcuse/Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries. Campus Verlag, Frankfurt 2016. 812 S., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Analysen emigrierter deutscher Intellektueller für den amerikanischen Geheimdienst in den Jahren 1943 bis 1949
So sie keine Abenteurer sind oder dringend Geld brauchen, haben herausragende Intellektuelle nur selten den Ehrgeiz, sich den Kopf für einen geheimen Nachrichtendienst zu zerbrechen. Dazu bedarf es schon besonderer Umstände. Der deutsche "Amoklauf gegen alles, was Menschen bindet und sittigt" (Thomas Mann) war ein solcher Anlass. Es waren keine Geringeren als Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann, die sich mitten im Zweiten Weltkrieg in den Dienst des "Office of Strategic Services" (OSS) stellten und damit die Analysefähigkeit des amerikanischen Geheimdienstes zu Dunkeldeutschland sprunghaft steigerten. Die vor Hitler geflohenen jüdischen Intellektuellen wussten als Mitglieder von Max Horkheimers legendärem Frankfurter "Institut für Sozialforschung" (das nach 1933 in New York weitergeführt wurde) genau, worüber sie schrieben.
Kirchheimer, ein Linksintellektueller, der bei Carl Schmitt promoviert hatte, kam von der Philosophie und den Sozialwissenschaften her. Er erlebte den Höhepunkt seiner Karriere erst nach seinem geheimdienstlichen Engagement als Professor für Politische Wissenschaften an der Columbia University. Die 1961 erschienene Studie über "Politische Justiz" ist sein bekanntestes Werk. Der während der Studentenrevolte der sechziger Jahre als deren geistiger Übervater berühmt gewordene Marcuse, ursprünglich Philosoph aus der Schule von Heidegger und Husserl, blieb nach Kriegsende und Auflösung des OSS ebenso wie Kirchheimer noch einige Jahre als Analytiker im amerikanischen Außenministerium. Dort befasste sich der Marxist mit der kommunistischen Gesellschaftsentwicklung. Neumann begründete seinen Weltruf mit einer der tiefgehendsten Untersuchungen des NS-Herrschaftssystems überhaupt, dem 1942 in Erstfassung veröffentlichten Werk "Behemoth". Bis zum Ende der Weimarer Republik war der Jurist für die Gewerkschaften und die SPD tätig gewesen. Später, als Professor für Politische Wissenschaften ebenfalls an der Columbia University, gehört er zu den Gründervätern der Freien Universität Berlin von 1948.
Die drei deutschen Emigranten befanden sich in der Analyseabteilung des CIA-Vorläufers, die damals mit über 1200 Mitarbeitern die größte amerikanische Forschungseinrichtung gewesen ist, in bester Gesellschaft. Felix Gilbert, Walter Rostow, Arthur Schlesinger jr. oder Talcott Parsons waren dort beispielsweise ihre Kollegen. Die Deutschland-Berichte der "Neumann-Gruppe" in der Research and Analysis Branch des OSS sind seit 40 Jahren zugänglich und in großen Teilen auch ediert, doch erst jetzt konnte die Identifizierung derjenigen anonym verfassten Studien abgeschlossen werden, die aus der Feder der drei prominenten Vertreter der "Frankfurter Schule" stammen. 31 Berichte aus der Zeit von 1943 bis 1949 sind nun in voller Länge nachzulesen. Von den sieben Themenfeldern widmet sich eines der "Feindanalyse", ein anderes ist mit "Entnazifizierung und Militärregierung" überschrieben; es geht um "Ein neues Deutschland in einem neuen Europa" oder unter dem Rubrum "Ein neuer Feind" um den Weltkommunismus. Die seinerzeit in mittelmäßigem Englisch verfassten Studien wurden in die Muttersprache der Gelehrten rückübertragen.
Wo man die auf mehr als 700 Druckseiten entfalteten Expertisen auch aufschlägt, man liest sich fest. Mit ihrer enormen Sachkenntnis, ihrer analytischen Kraft und gedanklichen Klarheit bestechen sie durchweg - auch wenn nach siebzig Jahren Forschung manches selbstverständlich anders zu sehen ist. Zeitgenössisch waren die Untersuchungen der Gipfel des Wissens über den Feind und nützliche Handlungsempfehlungen für den Umgang mit einer ausgebrannten Nation.
In seiner Ausarbeitung vom Herbst 1944 warnt Franz Neumann beispielsweise davor, den Überlegungen von Finanzminister Morgenthau Jr. zu folgen. Die Zerstörung der deutschen Industrie, schrieb der Sozialdemokrat, würde "soziale und ökonomische Spannungen verursachen, die zu sozialen Unruhen führen und über einen langen Zeitraum erhebliche Kraftanstrengungen erforderlich machen würden". Ein derartiger Karthago-Friede werde die gesamte europäische Wirtschaftsstruktur in Mitleidenschaft ziehen und den Kommunisten in die Hände arbeiten. Mit Sicherheit würde sich eine Deindustrialisierung der größten europäischen Volkswirtschaft so auswirken, "dass eine Einbindung Deutschlands in die Wirtschaft der UdSSR in den Augen der allermeisten Deutschen die attraktivste Lösung darstellen würde".
Härte gegen NS-Verbrecher und dienstfertige Funktionseliten erschien den OSS-Analytikern dagegen ebenso erforderlich wie eine Durchsetzung der Umerziehung, gegen die gerade diejenigen Militärs, Beamten, Juristen, Propagandisten, Akademiker und zu "Mitläufern" mutierten Ehemaligen das größte Geschrei erhoben, die sie am nötigsten hatten. Tatsächlich gewannen Kirchheimer und Neumann "entscheidenden Einfluss auf die Erarbeitung des rechtsphilosophischen Gerüsts der alliierten Kriegsverbrecherprozesse", wie Axel Honneth, der gegenwärtige Leiter des Instituts für Sozialforschung, unterstreicht.
Die drei Analytiker sahen auch, dass die Nazi-Partei und ihre Prätorianer keineswegs allein für die erstaunliche Effizienz des Raubstaates verantwortlich waren. Daher entstand eine Liste mit den Namen von 1800 Geschäftsleuten und Wirtschaftsfunktionären, die scheinbar unpolitischen Organen außerhalb der NSDAP angehörten, die aber "für den Aufstieg und den Fortbestand des Nazismus von entscheidender Bedeutung waren". Auch sie sollten interniert werden.
Weder dies noch ihre weitreichenden Empfehlungen für einen gründlichen Umbau der Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen, die den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus nach ihrer Überzeugung ermöglicht hatten, wurden Bestandteil der Besatzungs- und Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten. Der Anfang 1946 fühlbar werdende amerikanisch-sowjetische Gegensatz und ein von den machtpolitischen Realitäten abgelöster, zu hysterischer Ideologie verkommener Antikommunismus machten solche Ansätze rasch obsolet.
Marcuse erging sich darüber ebenso wenig in Illusionen wie über die neuen "Volksdemokratien" in Ostmitteleuropa. In einer letzten Analyse vom Sommer 1949 schrieb er, obgleich die Kommunisten durch ihren Widerstand gegen die deutsche Besetzung erhebliches Prestige erworben hätten, seien sie dort "ganz oder teilweise von außen, im Gefolge der Sowjetarmee, an die Macht gekommen. Das diktatorische System, das sie errichteten, entspricht nicht dem Willen der Bevölkerung und in einigen dieser Gebiete gibt es Berichten zufolge faktisch keine Anhänger im Volk."
Diese Erkenntnis wird das State Department nicht überrascht haben. Der in den letzten Kriegs- und den ersten Besatzungsjahren erreichte Zenit des intellektuellen, wenn auch selten unmittelbar politischen Einflusses der Emigranten-Gruppe war überschritten. Die Hinterlassenschaft ihres geheimen Wirkens ist ein Monument der Hoffnung auf ein besseres Deutschland.
KLAUS-DIETMAR HENKE
Franz Neumann/Herbert Marcuse/Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries. Campus Verlag, Frankfurt 2016. 812 S., 39,95 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2016Nazi-Deutschland
aus der Ferne
Die Analysen der Frankfurter
Schule für den US-Geheimdienst
In der Rangliste akademischer Helden belegen die Mitglieder der Frankfurter Schule einige der vorderen Plätze. Wer als Student im Seminar irgendwie mit Adorno und Horkheimer daherkommt, kann auch heute noch bei einem Großteil seiner Kommilitonen Eindruck schinden, selbst wenn der Dozent in diesem Moment die Augen verdreht. Dass mehrere Mitglieder der Frankfurter Schule im amerikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs für den US-Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) tätig waren, rundet das lässige Bild von den Wissenschaftlern fast hollywoodmäßig ab.
Das OSS in Washington war die Vorläuferorganisation der heutigen CIA. Die Forschungs- und Analyseabteilung des Geheimdienstes, für welche die Frankfurter damals tätig waren, hatte nach dem Kriegseintritt Amerikas 1941 in erster Linie die Aufgabe, „die ungeheure Flut von militärischen Informationen, die in Washington eingingen, zu sammeln, zu ordnen, zu analysieren und zu filtern“, schreibt Raffaele Laudani im Vorwort zur Edition der Berichte, die 2013 an der Princeton University Press erschienen ist und die nun in deutscher Übersetzung vorliegt.
Während Adorno und Horkheimer in Kalifornien an ihrer „Dialektik der Aufklärung“ arbeiteten, waren Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in eher prekären akademischen Positionen oder wenigstens auf der Suche nach einer solchen an der amerikanischen Ostküste beschäftigt. Die Tätigkeit als Geheimdienstmitarbeiter kam für die drei gerade recht, denn obwohl einige geflohene deutsche und österreichische Intellektuelle an amerikanischen Universitäten untergekommen waren, hatten viele andere doch große Probleme, sich im fremden Land zu etablieren.
Im Fall der Mitglieder der Frankfurter Schule lag das auch daran, dass ihre Theorien zu Gesellschaft und Staat auf marxistischen Grundlagen aufbauten, was sie in den Augen mancher amerikanischer Kollegen und Regierungsvertreter zwar nicht gleich als Kommunisten, aber doch einer vorsichtigen Überprüfung würdig erscheinen ließ. Im Zuge der Mobilmachung nach Kriegseintritt konnte man es sich aber gar nicht leisten, Ressourcen wie die Mitarbeit kooperationsbereiter deutscher Intellektueller nicht zu nutzen – von denen dazu noch zwei, Neumann und Kirchheimer, eine für das Verständnis des NS-Staats wichtige juristische Ausbildung besaßen. Nach mehreren Überprüfungen durch das FBI fanden sich die drei also 1943 in Washington als Mitarbeiter in der Mitteleuropaabteilung des amerikanischen Geheimdienstes wieder.
Ihre Aufgaben bestanden im Verfassen von Berichten zu Themen wie der politischen und gesellschaftlichen Lage in Nazi-Deutschland und der Rolle des preußischen Militarismus für den Imperialismus der Nazis. Später, als sich eine Besetzung des deutschen Staatsgebietes durch die Alliierten abzeichnete, erstellten sie auch Leitfäden etwa für die Aufhebung von NS-Gesetzen während der Besatzungszeit nach dem Krieg, in Vorbereitung der Nürnberger Prozesse und für den Umgang mit Kriegsverbrechern. Die Berichte wurden ursprünglich auf Englisch und anonym vorgelegt, durch andere, inzwischen freigegebene OSS-Dokumente – zum Beispiel Zwischenberichte und Besprechungsprotokolle – lassen sich aber in vielen Fällen einer oder mehrere Autoren bestimmen. In dem Band ist jedem Text ein Hinweis des Herausgebers vorangestellt, in dem der Originaltitel, die Dokumente, die auf den Autor schließen lassen, und die geheimdienstliche Klassifizierung genannt werden.
Diese 31 Berichte sind keine marxistisch-hegelianischen Theoriekonstrukte, sondern durchgehend sehr präzise, oft komplizierte und manchmal auch juristische Analysen, die inzwischen als Zeitdokumente eine scharfe Skizze der deutschen Gesellschaft gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entwerfen. Interessant sind aus heutiger Perspektive Texte, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens von einem anderen als dem historischen Kriegsverlauf ausgingen. Bis Ende 1943 hoffen die Berichte (zum Beispiel „Mögliche Muster für den deutschen Zusammenbruch“) nach der Niederlage Nazi-Deutschlands in Tunesien und vor Stalingrad noch auf die Möglichkeit eines diplomatischen Endes der Kriegshandlungen. Schon im folgenden Jahr beschäftigen sich aber die meisten Berichte mit den Konsequenzen eines alliierten Einmarsches in Deutschland für die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Verwaltung.
Die Berichte sind faszinierende Beispiele einer Wissenschaft aus der Distanz. Und ihre Veröffentlichung, darauf weist Axel Honneth in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe hin, ist Teil des neuen Bildes von einer „politisch aktiven“ Frankfurter Schule ist und somit die Vorstellung von den „Linksintellektuellen“ im akademischen „selbstgewählten Elfenbeinturm“ nicht zu halten ist.
NICOLAS FREUND
Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries. Campus Verlag, Frankfurt und New York 2016. 812 S., 39,95 Euro. E-Book 35,99 Euro.
Bis 1943 hoffte man noch
auf ein diplomatisches
Ende der Kriegshandlungen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
aus der Ferne
Die Analysen der Frankfurter
Schule für den US-Geheimdienst
In der Rangliste akademischer Helden belegen die Mitglieder der Frankfurter Schule einige der vorderen Plätze. Wer als Student im Seminar irgendwie mit Adorno und Horkheimer daherkommt, kann auch heute noch bei einem Großteil seiner Kommilitonen Eindruck schinden, selbst wenn der Dozent in diesem Moment die Augen verdreht. Dass mehrere Mitglieder der Frankfurter Schule im amerikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs für den US-Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) tätig waren, rundet das lässige Bild von den Wissenschaftlern fast hollywoodmäßig ab.
Das OSS in Washington war die Vorläuferorganisation der heutigen CIA. Die Forschungs- und Analyseabteilung des Geheimdienstes, für welche die Frankfurter damals tätig waren, hatte nach dem Kriegseintritt Amerikas 1941 in erster Linie die Aufgabe, „die ungeheure Flut von militärischen Informationen, die in Washington eingingen, zu sammeln, zu ordnen, zu analysieren und zu filtern“, schreibt Raffaele Laudani im Vorwort zur Edition der Berichte, die 2013 an der Princeton University Press erschienen ist und die nun in deutscher Übersetzung vorliegt.
Während Adorno und Horkheimer in Kalifornien an ihrer „Dialektik der Aufklärung“ arbeiteten, waren Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in eher prekären akademischen Positionen oder wenigstens auf der Suche nach einer solchen an der amerikanischen Ostküste beschäftigt. Die Tätigkeit als Geheimdienstmitarbeiter kam für die drei gerade recht, denn obwohl einige geflohene deutsche und österreichische Intellektuelle an amerikanischen Universitäten untergekommen waren, hatten viele andere doch große Probleme, sich im fremden Land zu etablieren.
Im Fall der Mitglieder der Frankfurter Schule lag das auch daran, dass ihre Theorien zu Gesellschaft und Staat auf marxistischen Grundlagen aufbauten, was sie in den Augen mancher amerikanischer Kollegen und Regierungsvertreter zwar nicht gleich als Kommunisten, aber doch einer vorsichtigen Überprüfung würdig erscheinen ließ. Im Zuge der Mobilmachung nach Kriegseintritt konnte man es sich aber gar nicht leisten, Ressourcen wie die Mitarbeit kooperationsbereiter deutscher Intellektueller nicht zu nutzen – von denen dazu noch zwei, Neumann und Kirchheimer, eine für das Verständnis des NS-Staats wichtige juristische Ausbildung besaßen. Nach mehreren Überprüfungen durch das FBI fanden sich die drei also 1943 in Washington als Mitarbeiter in der Mitteleuropaabteilung des amerikanischen Geheimdienstes wieder.
Ihre Aufgaben bestanden im Verfassen von Berichten zu Themen wie der politischen und gesellschaftlichen Lage in Nazi-Deutschland und der Rolle des preußischen Militarismus für den Imperialismus der Nazis. Später, als sich eine Besetzung des deutschen Staatsgebietes durch die Alliierten abzeichnete, erstellten sie auch Leitfäden etwa für die Aufhebung von NS-Gesetzen während der Besatzungszeit nach dem Krieg, in Vorbereitung der Nürnberger Prozesse und für den Umgang mit Kriegsverbrechern. Die Berichte wurden ursprünglich auf Englisch und anonym vorgelegt, durch andere, inzwischen freigegebene OSS-Dokumente – zum Beispiel Zwischenberichte und Besprechungsprotokolle – lassen sich aber in vielen Fällen einer oder mehrere Autoren bestimmen. In dem Band ist jedem Text ein Hinweis des Herausgebers vorangestellt, in dem der Originaltitel, die Dokumente, die auf den Autor schließen lassen, und die geheimdienstliche Klassifizierung genannt werden.
Diese 31 Berichte sind keine marxistisch-hegelianischen Theoriekonstrukte, sondern durchgehend sehr präzise, oft komplizierte und manchmal auch juristische Analysen, die inzwischen als Zeitdokumente eine scharfe Skizze der deutschen Gesellschaft gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entwerfen. Interessant sind aus heutiger Perspektive Texte, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens von einem anderen als dem historischen Kriegsverlauf ausgingen. Bis Ende 1943 hoffen die Berichte (zum Beispiel „Mögliche Muster für den deutschen Zusammenbruch“) nach der Niederlage Nazi-Deutschlands in Tunesien und vor Stalingrad noch auf die Möglichkeit eines diplomatischen Endes der Kriegshandlungen. Schon im folgenden Jahr beschäftigen sich aber die meisten Berichte mit den Konsequenzen eines alliierten Einmarsches in Deutschland für die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Verwaltung.
Die Berichte sind faszinierende Beispiele einer Wissenschaft aus der Distanz. Und ihre Veröffentlichung, darauf weist Axel Honneth in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe hin, ist Teil des neuen Bildes von einer „politisch aktiven“ Frankfurter Schule ist und somit die Vorstellung von den „Linksintellektuellen“ im akademischen „selbstgewählten Elfenbeinturm“ nicht zu halten ist.
NICOLAS FREUND
Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949. Herausgegeben von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries. Campus Verlag, Frankfurt und New York 2016. 812 S., 39,95 Euro. E-Book 35,99 Euro.
Bis 1943 hoffte man noch
auf ein diplomatisches
Ende der Kriegshandlungen
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»Ein Buch als eine Zeitkapsel - Texte, die das Deutschland der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts lebendig werden lassen. [...] Die Texte - damals alle als 'geheim' klassifiziert - wirken auch heute, 75 Jahre nach dem sie verfasst wurden, noch ungemein gegenwärtig. Das Buch dringt wie eine Sonde in den nationalsozialistischen Alltag ein, und man fragt sich, woher die Autoren all ihre Informationen hatten und ist erstaunt, wie hellsichtig ihre Analysen damals waren.« Robert Brammer, Deutschlandradio Kultur, 27.02.2016 »Wer nach Möglichkeiten emanzipatorischer Praxis sucht und zugleich wissen will, wie wir wurden, was wir sind, wer aus der Geschichte lernen will und deren Ballast im Hier und Heute zu überwinden trachtet, wer Theorie und vor allem Kritische Theorie dabei nicht als blutleer abtut, für den wird die Lektüre ein Gewinn sein.« Arnold Schmieder, socialnet.de, 18.04.2016 »Ein Lehrstück [...] für jene, die glauben, Geheimdienstakten enthielten nur Spitzelprosa und taugten allenfalls als Reservoir für Denunziationen wie der Stasi-Nachlass im politischen Handgemenge seit 1989. Geheimdienstakten bilden im Ausnahmefall auch eine wertvolle historische Quelle.«, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte »Das umfangreiche und sorgfältig edierte Buch versammelt Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst und ordnet die Texte ihren jeweiligen Verfassern zu. [...] Aus heutiger Sicht beeindruckt, wie radikal die 'Neumann-Gruppe' die europäische Nachkriegsordnung umgestalten wollte.« Matthias Becker, konkret, 24.02.2016 »Die Berichte sind faszinierende Beispiele einer Wissenschaft aus der Distanz.« Nicolas Freund, Süddeutsche Zeitung, 25.07.2016 »Die Ausgabe 'Im Kampf gegen Nazideutschland. Berichte für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949' schließt eine empfindliche Lücke. [...] Den Nachgeborenen wird Einblick gewährt in eine historisch einmalige Konstellation, als kritische Gesellschaftstheoretiker versuchten, einer Weltmacht zur Einsicht zu verhelfen.« Detlev Claussen, die tageszeitung, 12.03.2016 »'Im Kampf gegen Nazideutschland' bietet eine interessante Einsicht in die Indienstnahme sozialwissenschaftlicher Methoden und intellektueller »Ressourcen« durch staatliche Agenturen, wobei der Band sowohl nostalgisch-romantisierende Rückblicke einzelner beteiligter Personen als auch ideologisch durchtränkte Gerüchte über den angeblichen Ausverkauf der kritischen Theorie korrigiert. Darüber hinaus versammelt er bislang öffentlich unzugängliche Analysen prominenter Vertreter des Instituts für Sozialforschung.«, Moleskin Blues, 16.05.2016 »Wo man die auf mehr als 700 Druckseiten entfalteten Expertisen auch aufschlägt, man liest sich fest. Mit ihrer enormen Sachkenntnis, ihrer analytischen Kraft und gedanklichen Klarheit bestehen sie durchweg.« Klaus-Dietmar Henke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2016 "für jeden, der sich für die Geschichte der Frankfurter Schule interessiert, eine aufregende Lektüre" Conrad Lay, SWR2 Die Buchkritik, 07.03.2016 »Die Analysen lesen sich spannend wie ein Krimi.« Dieter Sattler, Jewish Voice from Germany, 02.07.2016 »Mit Raffaele Laudanis Quellenedition liegt ein wichtiges Textkorpus vor, nicht nur für die Wissenschaftsgeschichte. Der Band ermöglicht den unverstellten Blick auf Wahrnehmungen der Zeit und den Stand der Analysen im 'Office of Strategic Services' durch Quellen, die für die Geschichte und Soziologie des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zentral sind.« Eva-Maria Ziege, H-Soz-Kult, 01.12.2016