Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.1997Der Keller
Jan Philipp Reemtsma über seine Entführung · Von Michael Maar
Mindestens zwei sind noch frei, über zwei andere hat das Gericht befunden: Die Reemtsma-Entführer Wolfgang Koszics und Peter Richter sind zu Haftstrafen verurteilt worden, die nur knapp unter dem vom Staatsanwalt geforderten Maß liegen. Jan Philipp Reemtsma hatte als Nebenkläger noch um eine Strafe gebeten, der abzulesen sein möge, daß es sich auszahlen kann, sein Opfer laufenzulassen.
Er wurde laufengelassen und wird den Keller doch nicht los, in dem er dreiunddreißig Tage lang angekettet auf das Ende wartete. Noch heute kann ihm passieren, daß er in einem Hotelzimmer plötzlich vor Angst erstarrt und eine Weile braucht, bis er merkt, warum: Er hat auf dem Flur Schritte gehört und wartet auf das Klopfen, mit dem die Entführer sich ankündigen. Das Nachhallen des Kellers und der Abgrund, auf den er in ihm stieß - davon handelt das Buch, mit dem Reemtsma die Flucht in die Öffentlichkeit sucht, der er seit jenem Tag nicht mehr entkam.
"Im Keller", ein Bericht von analytischer Kühle und fern jeder Larmoyanz, ist durchkomponiert wie ein dreiteiliger Roman. Es sind drei Stufen auf einer Wendeltreppe: außen, außen/innen, innen. Der erste Teil schildert knapp und gerafft die äußere Flucht der Ereignisse. Mit ihren retardierenden Arabesken und all den unglaubwürdigen Zufällen, die nur ein illiterater Autor wie das Leben zu erfinden wagt, ist sie auch noch ein Jahr danach von größter und beklemmender Spannung. Der zweite Teil schildert die Zeit im Keller von innen, hält sich aber noch an die Abfolge der äußeren Ereignisse. In den ersten Tagen seiner Gefangenschaft stürzt es den Erzähler, der sich hier als "Er" abspaltet, in quälende Grübeleien, daß man ihm die Uhr zurückgegeben hat - offenbar, so schließt er daraus, haben sie doch vor, ihn zu töten (einen Tag vor der Freilassung wird ihm die Uhr dann wieder abgenommen). In der letzten Woche entwirft er den Plan, beim Scheitern aller anderen Geldübergaben die Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Entführern sein Ehrenwort zu geben, mit dem Lösegeld zurückzukommen, wenn sie ihn freiließen.
Dazwischen liegen dreiunddreißig Tage; die Unzeit der Seele mit ihren vagierenden Ängsten, in deren Inneres der dritte Teil führt. Das Schlimmste ist das Warten; offenbar läßt sich jeder Ist-Zustand besser ertragen als das Dauerflimmern vieler Vielleichts. In diesem Flimmern schwingen die tausend Ängste sich auf: die größte Angst, vielleicht sei seiner Frau etwas zugestoßen (er weiß von der Handgranate; die Anzeigen könnten auch vom Sohn und von der Polizei verfaßt worden sein - vielleicht scheitern die Übergaben, weil seine Frau sie nicht mehr leiten kann?). Die Angst um das Preisschildchen des Supermarkts, das er in Fetzen zerreißt - wenn die Entführer es finden, könnten sie glauben, sie seien verraten, was aber heißt es Bedrohlicheres, wenn sie solche Spuren gar nicht stören? Die Angst, an Wundbrand zu sterben, wenn sie ihm den kleinen Finger abgeschnitten hätten; die Angst, die Glühbirne könnte ausbrennen und er müßte im Dunkeln ausharren.
"Wird am Ostersonnabend Post ausgetragen?" Einen Moment lang scheint alles von dieser Frage abzuhängen; der Leser wird nervös, weil er es kurz selber nicht weiß. Und alles überlagernd die Angst, zurückgelassen zu werden und verdursten zu müssen; die Erleichterung, mit abgezweigten Glasflaschen ein Mittel gefunden zu haben, den Notausgang nehmen zu können (wo genau soll man die Scherbe ansetzen?). Als der Freigelassene später hört, einer der Entführer habe bei seiner Verhaftung versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, erfüllt es ihn mit Befriedigung; ein Geständnis, zu dem Reemtsma nicht gezwungen war, das aber seine skrupulöse Vermeidung alles Schönredens beweist - wenn er in diesen Aufzeichnungen bewundernswert herauskommt, liegt es an dem Vergleich, den der Leser zieht, der sich versuchsweise in seine Lage versetzt, nicht am Autor, der alles unternimmt, damit das Licht, in das er sich rückt, nur kein Lux zu schmeichelhaft ausfällt.
Unter dem Witz und der Contenance, die der Gefangene bis zum Abschiedsgruß bewahrt, flimmern und flackern die Ängste; darunter aber wartet das eigentlich Unheimliche. Die eigentliche Erfahrung des Kellers entzieht sich der Empathie, ja selbst der Benennung "Es ist nicht ,das und das, bloß schlimmer. Es ist ganz anders." Es ist die Erfahrung des Zerfalls, des aus der Welt Geworfenseins und Zerbrechens. "Es war nicht so, daß ihm etwas fehlte, er war nicht da." Was Reemtsma erlebt und nur in Negationen oder Bildern umschreiben kann, ist die Zertrümmerung des Individuums, bei der nicht ein Kern freigelegt wird, sondern ein Nichts - das Ich, der Kern, ist wie in der Materie etwas Interdependentes und vergeht unter der Isolation. Das schreibt sich leicht, lebt sich aber offenbar unerträglich schwer.
Reemtsma weiß, daß es noch weit unerträglicher hätte kommen können; kein anderer wüßte es besser als er, der mit Folteropfern nahen Umgang hatte und das Hamburger Institut für Sozialforschung leitet, das die Folter seit Jahren mit wissenschaftlichen Dokumentationen überzieht. Aber es genügt der Anhauch, der Kontakt mit der absoluten Macht, damit ihr Opfer von innen verstehen können wird, was der iranische Dissident nach sechs Wochen in den Kellern der Geheimdienste in seinem nach Deutschland geschmuggelten Brief erklärt: Sein Leben habe am ersten Tag aufgehört; er lebe nicht mehr.
Über dieses Vernichtungsgefühl hilft auch die Rettung nicht hinweg. Kann Reemtsma sich nicht freuen, daß er freigekommen ist? Nein, denn ebendie Fähigkeit, sich zu freuen, wurde im Keller beschädigt. Auch alles andere ist beschädigt, alle Dinge scheinen dem Zurückgekehrten leicht gebogen, so daß er nichts mehr auf ihnen abstellen kann. Immerhin kann er noch schreiben, und wenn man richtig liest, ist es das, was ihn neben der Familie am Leben hält.
Fast keine Seite in Reemtsmas Buch, in die nicht Literatur hineinlugt. Es raschelt hinter der Hecke, ein Maskierter überfällt ihn, er wehrt sich, wird mit dem Gesicht an die Mauer gestoßen und wundert sich nicht über den fehlenden Schmerz: Er erinnert sich an einen Satz Jean Amérys, der Schlag wirke als seine eigene Anästhesie. Noch am ersten Abend im Keller bittet er um etwas zu lesen. "Mit den Büchern wußte er, daß er eine Chance hatte." In seinem ersten Abschiedsbrief vergleicht er sich mit Twains Indianer-Joe; er will das befürchtete Ende durch den Filter des Zitats etwas mildern, verwirrt damit freilich die Polizei, die den verschlüsselten Hinweis herausliest, er werde in einer unterirdischen Höhle versteckt. In einem nächsten Brief schreibt er von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Untergrund", und diesmal ist es eine Botschaft, diesmal will er, daß die Leser die Abweichung vom üblichen Titel heraushören und auf das "Kellerloch" stoßen, in dem er gefangengehalten wird, bewacht von drei Entführern, wie die weiteren Anspielungen auf Faust II der Polizei hätten bedeuten sollen, die nur dem verräterisch entstellten Zitat hätte folgen müssen, um auf die Drei Gewaltigen zu stoßen.
Neben diesen Briefen, die er mit literarischen Anspielungen spickt, hält er täglich Notizen fest, die ihm am Ende abgenommen werden, die ihren Dienst aber doch erfüllten. Denn es ist er, der sich an ihnen festhält. Der aus der Welt Gefallene schafft sich ein Ersatz-Ich, ein exterritoriales Ich, auf das er sich stützen kann, das Ich im Exil. Der Herr hat abgedankt, es überlebt das Kuli-Ich, dessen Mine so wenig ausgehen darf wie das zum Schreiben und Lesen notwendige Licht. Das Klammern an die fixierende Sprache und die Literatur hat nichts mit Pose oder der Gewohnheit des Intellektuellen zu tun, es ist die letzte Auskunft vor der drohenden Auflösung. Unmittelbar einleuchtend schlägt diese Bedrohung sich auch in seinen literarischen Vorlieben und Gedankenträumen nieder. Der Gefangene erinnert sich immer öfter an Kinderbücher; das kleingemachte, regredierende Ich lebt wieder mit Tom Sawyer und dem Froschkönig, mit den Fünf Freunden und mit Kasperle auf Burg Himmelhoch. Das Früheste, Jüngste taucht wieder auf aus der Zeit, als die Welt zwar noch zu allem fähig, das Ich aber auch vor allem geschützt war. Als er am Ende in den dunklen Wald entlassen wird, kommt Reemtsma sich vor wie Hänsel.
Ein Märchen lenkt ihn auch zu dem ersten der zwei schwärzesten Momente in diesem Buch. Er zitiert den befreiten Flaschengeist aus "Tausendundeiner Nacht", der seinem Retter erklärt, die ersten tausend Jahre habe er ihm alle Schätze der Welt versprochen - aber jetzt werde er ihn töten. Auf diese Wendung folgt der erste Tiefpunkt. Reemtsma wird von dem Wunsch überwältigt, draußen, in der Freiheit, den Selbstmord nachzuholen, den er hier unten durch das Horten von Glasflaschen vorbereitet. Der zweite Tiefpunkt ist die Spiegelung des ersten. Draußen, in der Freiheit, vermißt er manchmal den Keller. Nur dort hatten seine Gefühle des Nicht-mehr-in-der-Welt-Seins ihren Ort. In der Welt haben sie keinen.
Dieser letzte Tiefpunkt beschließt einen Bericht, der sich und dem Leser jede Illusion und jedes Sedativ erspart. Vielleicht wenigstens hat er die Drachen, die er aus dem Unbenennbaren ins Reich der Sprache locken konnte, wenn nicht gezähmt, so doch gebannt. Vielleicht rettet Literatur auch nach dem Keller, und vielleicht ist das die Botschaft, die uns unverschlüsselt aus ihm erreicht.
Letzter Verlaß ist aber auch nicht auf die Literatur. Kurz vor dem glücklichen Finale ist man draußen noch mit der Dechiffrierung der Briefe beschäftigt, den Botschaften, die entweder keine sind oder mehr bedeuten, als man ihnen entnimmt. Vorsorglich wappnet man sich mit Gegen-Fragen, die man den Entführern bis zur Geldübergabe vorlegen könnte. Im Brief an einen der Geldüberbringer hatte sich Reemtsma durch einen Expertenwink auf Arno Schmidt ausgewiesen. Beim Austüfteln der Fragen, die seinen Lebensbeweis bringen sollen, liegt es nahe, die literarische Sphäre nicht zu wechseln. Worauf könnte nur Jan Philipp Reemtsma, mit Sicherheit aber keiner der Entführer antworten? Die Frage, die man im Geist vorbereitet, lautet: Wie heißt die Hauptfigur in Arno Schmidts Roman "Kaff auch Mare Crisium"?
Als der Freigelassene einige Wochen später davon erfuhr, erbleichte er und mußte sich Halt suchen. Dreiunddreißig Tage lang hatte er diesen Halt an der Literatur gefunden, die ihn mit einer einzigen Kaprice doch noch das Leben hätte kosten können. Der Held in Arno Schmidts "Kaff" heißt Richter.
Jan Philipp Reemtsma: "Im Keller". Hamburger Edition, Hamburg 1997. 200 S., geb., 32,-DM.
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Jan Philipp Reemtsma über seine Entführung · Von Michael Maar
Mindestens zwei sind noch frei, über zwei andere hat das Gericht befunden: Die Reemtsma-Entführer Wolfgang Koszics und Peter Richter sind zu Haftstrafen verurteilt worden, die nur knapp unter dem vom Staatsanwalt geforderten Maß liegen. Jan Philipp Reemtsma hatte als Nebenkläger noch um eine Strafe gebeten, der abzulesen sein möge, daß es sich auszahlen kann, sein Opfer laufenzulassen.
Er wurde laufengelassen und wird den Keller doch nicht los, in dem er dreiunddreißig Tage lang angekettet auf das Ende wartete. Noch heute kann ihm passieren, daß er in einem Hotelzimmer plötzlich vor Angst erstarrt und eine Weile braucht, bis er merkt, warum: Er hat auf dem Flur Schritte gehört und wartet auf das Klopfen, mit dem die Entführer sich ankündigen. Das Nachhallen des Kellers und der Abgrund, auf den er in ihm stieß - davon handelt das Buch, mit dem Reemtsma die Flucht in die Öffentlichkeit sucht, der er seit jenem Tag nicht mehr entkam.
"Im Keller", ein Bericht von analytischer Kühle und fern jeder Larmoyanz, ist durchkomponiert wie ein dreiteiliger Roman. Es sind drei Stufen auf einer Wendeltreppe: außen, außen/innen, innen. Der erste Teil schildert knapp und gerafft die äußere Flucht der Ereignisse. Mit ihren retardierenden Arabesken und all den unglaubwürdigen Zufällen, die nur ein illiterater Autor wie das Leben zu erfinden wagt, ist sie auch noch ein Jahr danach von größter und beklemmender Spannung. Der zweite Teil schildert die Zeit im Keller von innen, hält sich aber noch an die Abfolge der äußeren Ereignisse. In den ersten Tagen seiner Gefangenschaft stürzt es den Erzähler, der sich hier als "Er" abspaltet, in quälende Grübeleien, daß man ihm die Uhr zurückgegeben hat - offenbar, so schließt er daraus, haben sie doch vor, ihn zu töten (einen Tag vor der Freilassung wird ihm die Uhr dann wieder abgenommen). In der letzten Woche entwirft er den Plan, beim Scheitern aller anderen Geldübergaben die Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Entführern sein Ehrenwort zu geben, mit dem Lösegeld zurückzukommen, wenn sie ihn freiließen.
Dazwischen liegen dreiunddreißig Tage; die Unzeit der Seele mit ihren vagierenden Ängsten, in deren Inneres der dritte Teil führt. Das Schlimmste ist das Warten; offenbar läßt sich jeder Ist-Zustand besser ertragen als das Dauerflimmern vieler Vielleichts. In diesem Flimmern schwingen die tausend Ängste sich auf: die größte Angst, vielleicht sei seiner Frau etwas zugestoßen (er weiß von der Handgranate; die Anzeigen könnten auch vom Sohn und von der Polizei verfaßt worden sein - vielleicht scheitern die Übergaben, weil seine Frau sie nicht mehr leiten kann?). Die Angst um das Preisschildchen des Supermarkts, das er in Fetzen zerreißt - wenn die Entführer es finden, könnten sie glauben, sie seien verraten, was aber heißt es Bedrohlicheres, wenn sie solche Spuren gar nicht stören? Die Angst, an Wundbrand zu sterben, wenn sie ihm den kleinen Finger abgeschnitten hätten; die Angst, die Glühbirne könnte ausbrennen und er müßte im Dunkeln ausharren.
"Wird am Ostersonnabend Post ausgetragen?" Einen Moment lang scheint alles von dieser Frage abzuhängen; der Leser wird nervös, weil er es kurz selber nicht weiß. Und alles überlagernd die Angst, zurückgelassen zu werden und verdursten zu müssen; die Erleichterung, mit abgezweigten Glasflaschen ein Mittel gefunden zu haben, den Notausgang nehmen zu können (wo genau soll man die Scherbe ansetzen?). Als der Freigelassene später hört, einer der Entführer habe bei seiner Verhaftung versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, erfüllt es ihn mit Befriedigung; ein Geständnis, zu dem Reemtsma nicht gezwungen war, das aber seine skrupulöse Vermeidung alles Schönredens beweist - wenn er in diesen Aufzeichnungen bewundernswert herauskommt, liegt es an dem Vergleich, den der Leser zieht, der sich versuchsweise in seine Lage versetzt, nicht am Autor, der alles unternimmt, damit das Licht, in das er sich rückt, nur kein Lux zu schmeichelhaft ausfällt.
Unter dem Witz und der Contenance, die der Gefangene bis zum Abschiedsgruß bewahrt, flimmern und flackern die Ängste; darunter aber wartet das eigentlich Unheimliche. Die eigentliche Erfahrung des Kellers entzieht sich der Empathie, ja selbst der Benennung "Es ist nicht ,das und das, bloß schlimmer. Es ist ganz anders." Es ist die Erfahrung des Zerfalls, des aus der Welt Geworfenseins und Zerbrechens. "Es war nicht so, daß ihm etwas fehlte, er war nicht da." Was Reemtsma erlebt und nur in Negationen oder Bildern umschreiben kann, ist die Zertrümmerung des Individuums, bei der nicht ein Kern freigelegt wird, sondern ein Nichts - das Ich, der Kern, ist wie in der Materie etwas Interdependentes und vergeht unter der Isolation. Das schreibt sich leicht, lebt sich aber offenbar unerträglich schwer.
Reemtsma weiß, daß es noch weit unerträglicher hätte kommen können; kein anderer wüßte es besser als er, der mit Folteropfern nahen Umgang hatte und das Hamburger Institut für Sozialforschung leitet, das die Folter seit Jahren mit wissenschaftlichen Dokumentationen überzieht. Aber es genügt der Anhauch, der Kontakt mit der absoluten Macht, damit ihr Opfer von innen verstehen können wird, was der iranische Dissident nach sechs Wochen in den Kellern der Geheimdienste in seinem nach Deutschland geschmuggelten Brief erklärt: Sein Leben habe am ersten Tag aufgehört; er lebe nicht mehr.
Über dieses Vernichtungsgefühl hilft auch die Rettung nicht hinweg. Kann Reemtsma sich nicht freuen, daß er freigekommen ist? Nein, denn ebendie Fähigkeit, sich zu freuen, wurde im Keller beschädigt. Auch alles andere ist beschädigt, alle Dinge scheinen dem Zurückgekehrten leicht gebogen, so daß er nichts mehr auf ihnen abstellen kann. Immerhin kann er noch schreiben, und wenn man richtig liest, ist es das, was ihn neben der Familie am Leben hält.
Fast keine Seite in Reemtsmas Buch, in die nicht Literatur hineinlugt. Es raschelt hinter der Hecke, ein Maskierter überfällt ihn, er wehrt sich, wird mit dem Gesicht an die Mauer gestoßen und wundert sich nicht über den fehlenden Schmerz: Er erinnert sich an einen Satz Jean Amérys, der Schlag wirke als seine eigene Anästhesie. Noch am ersten Abend im Keller bittet er um etwas zu lesen. "Mit den Büchern wußte er, daß er eine Chance hatte." In seinem ersten Abschiedsbrief vergleicht er sich mit Twains Indianer-Joe; er will das befürchtete Ende durch den Filter des Zitats etwas mildern, verwirrt damit freilich die Polizei, die den verschlüsselten Hinweis herausliest, er werde in einer unterirdischen Höhle versteckt. In einem nächsten Brief schreibt er von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Untergrund", und diesmal ist es eine Botschaft, diesmal will er, daß die Leser die Abweichung vom üblichen Titel heraushören und auf das "Kellerloch" stoßen, in dem er gefangengehalten wird, bewacht von drei Entführern, wie die weiteren Anspielungen auf Faust II der Polizei hätten bedeuten sollen, die nur dem verräterisch entstellten Zitat hätte folgen müssen, um auf die Drei Gewaltigen zu stoßen.
Neben diesen Briefen, die er mit literarischen Anspielungen spickt, hält er täglich Notizen fest, die ihm am Ende abgenommen werden, die ihren Dienst aber doch erfüllten. Denn es ist er, der sich an ihnen festhält. Der aus der Welt Gefallene schafft sich ein Ersatz-Ich, ein exterritoriales Ich, auf das er sich stützen kann, das Ich im Exil. Der Herr hat abgedankt, es überlebt das Kuli-Ich, dessen Mine so wenig ausgehen darf wie das zum Schreiben und Lesen notwendige Licht. Das Klammern an die fixierende Sprache und die Literatur hat nichts mit Pose oder der Gewohnheit des Intellektuellen zu tun, es ist die letzte Auskunft vor der drohenden Auflösung. Unmittelbar einleuchtend schlägt diese Bedrohung sich auch in seinen literarischen Vorlieben und Gedankenträumen nieder. Der Gefangene erinnert sich immer öfter an Kinderbücher; das kleingemachte, regredierende Ich lebt wieder mit Tom Sawyer und dem Froschkönig, mit den Fünf Freunden und mit Kasperle auf Burg Himmelhoch. Das Früheste, Jüngste taucht wieder auf aus der Zeit, als die Welt zwar noch zu allem fähig, das Ich aber auch vor allem geschützt war. Als er am Ende in den dunklen Wald entlassen wird, kommt Reemtsma sich vor wie Hänsel.
Ein Märchen lenkt ihn auch zu dem ersten der zwei schwärzesten Momente in diesem Buch. Er zitiert den befreiten Flaschengeist aus "Tausendundeiner Nacht", der seinem Retter erklärt, die ersten tausend Jahre habe er ihm alle Schätze der Welt versprochen - aber jetzt werde er ihn töten. Auf diese Wendung folgt der erste Tiefpunkt. Reemtsma wird von dem Wunsch überwältigt, draußen, in der Freiheit, den Selbstmord nachzuholen, den er hier unten durch das Horten von Glasflaschen vorbereitet. Der zweite Tiefpunkt ist die Spiegelung des ersten. Draußen, in der Freiheit, vermißt er manchmal den Keller. Nur dort hatten seine Gefühle des Nicht-mehr-in-der-Welt-Seins ihren Ort. In der Welt haben sie keinen.
Dieser letzte Tiefpunkt beschließt einen Bericht, der sich und dem Leser jede Illusion und jedes Sedativ erspart. Vielleicht wenigstens hat er die Drachen, die er aus dem Unbenennbaren ins Reich der Sprache locken konnte, wenn nicht gezähmt, so doch gebannt. Vielleicht rettet Literatur auch nach dem Keller, und vielleicht ist das die Botschaft, die uns unverschlüsselt aus ihm erreicht.
Letzter Verlaß ist aber auch nicht auf die Literatur. Kurz vor dem glücklichen Finale ist man draußen noch mit der Dechiffrierung der Briefe beschäftigt, den Botschaften, die entweder keine sind oder mehr bedeuten, als man ihnen entnimmt. Vorsorglich wappnet man sich mit Gegen-Fragen, die man den Entführern bis zur Geldübergabe vorlegen könnte. Im Brief an einen der Geldüberbringer hatte sich Reemtsma durch einen Expertenwink auf Arno Schmidt ausgewiesen. Beim Austüfteln der Fragen, die seinen Lebensbeweis bringen sollen, liegt es nahe, die literarische Sphäre nicht zu wechseln. Worauf könnte nur Jan Philipp Reemtsma, mit Sicherheit aber keiner der Entführer antworten? Die Frage, die man im Geist vorbereitet, lautet: Wie heißt die Hauptfigur in Arno Schmidts Roman "Kaff auch Mare Crisium"?
Als der Freigelassene einige Wochen später davon erfuhr, erbleichte er und mußte sich Halt suchen. Dreiunddreißig Tage lang hatte er diesen Halt an der Literatur gefunden, die ihn mit einer einzigen Kaprice doch noch das Leben hätte kosten können. Der Held in Arno Schmidts "Kaff" heißt Richter.
Jan Philipp Reemtsma: "Im Keller". Hamburger Edition, Hamburg 1997. 200 S., geb., 32,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was er erlebte und erlitt, ist in der Tat ein geballter Filmstoff. Wann hat es das je gegeben, daß das Opfer einer Entführung derart reflexionsfähig gewesen wäre wie Jan Philipp Reemtsma? Der Spiegel