Fast sechs Jahre ist es her, dass Arvids Vater bei einem Schiffsbrand ums Leben kam, zusammen mit seiner Frau und den beiden jüngsten Söhnen. Nur Arvid, 43, Schriftsteller, und sein älterer Bruder sind übriggeblieben. Doch Arvid fällt es schwer, sich aus der Trauer zu lösen und mit seinen ambivalenten Gefühlen gegenüber dem Vater umzugehen. Behutsam und eindringlich erzählt Petterson, wie ein Sohn im Kielwasser einer Katastrophe versucht, sich selbst nicht zu verlieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2007Erzählen ist das beste Frostschutzmittel
Die Kunst der Auslassung: Mit seinem Roman "Pferde stehlen" erlangte der norwegische Autor Per Petterson internationale Aufmerksamkeit. "Im Kielwasser", sein neuer Roman, ist ein beeindruckendes Vaterbuch, das nebenbei die Geschichte einer Generation erzählt.
Von Wolfgang Schneider
Am Anfang: ein Filmriss. Arvid kann sich nicht erklären, wieso er in aller Herrgottsfrühe vor der Buchhandlung steht, in der er einmal gearbeitet hat. Woher sein ramponierter Zustand? Weshalb die drei gebrochenen Rippen (als Raucher mit schlechtem Gewissen hält er den Schmerz zunächst für Lungenkrebs), das blaue Auge und die offene Hose? Nur langsam lichtet sich der Rausch, nur mühsam findet der Dreiundvierzigjährige zurück in seine Wirklichkeit. Und auch der Leser fasst Fuß in einem derangierten Männerleben.
Es gehört zur Erzähltechnik Per Pettersons, dass er mit den Gründen knausert. Sind sie doch sowieso oft unzureichend oder vorgeschoben. Aber bald ist klar: Dieser Arvid trudelt im Kielwasser einer Katastrophe. Bei einem Fährunglück, wie es von Zeit zu Zeit mit vielen Toten Schlagzeilen macht und dem norwegischen Autor 1990 selbst die halbe Familie entriss, hat er seine Eltern und zwei jüngere Brüder verloren. Er hatte eine Ausrede vorgeschützt, um nicht teilzunehmen an der Überfahrt nach Dänemark. Das ist sechs Jahre her; die Höllenbilder eines Videos haben sich seitdem in sein Hirn gebrannt: ein Gang im Inneren des Unglücksschiffs, mit aneinandergedrängten, erstickten und verbrannten Menschen.
Ein Traum von Stärke.
Nicht leicht, mit jemandem über die Katastrophe zu sprechen: "Alle erinnern sich an den Brand, alle nicken und werden still. . ." So spricht er eben nicht darüber. Aber ohne dass vom Schuldgefühl des Überlebenden, von Schmerz und Trauer viel die Rede wäre - in Arvids verstörtem, schroffem Verhalten ist das alles sehr gegenwärtig. Er ist Schriftsteller, und nicht lange nach dem Unglück meint sein älterer Bruder zu ihm: "Ich beneide dich, du kannst alles, was passiert ist, in Worte fassen." Aber gerade der Schriftsteller leidet unter dem Sprachverlust. Am Ende wirft er die Arbeit von zwei Jahren in den digitalen Papierkorb.
Als die beiden vor dem in den nächsten Hafen geschleppten Schiff stehen, ein Kadaver mit schwarzen Rauchflecken um die Bullaugen, und ein Polizist ihnen den Zugang dorthin versperrt, heißt es: "Da fing ich an zu weinen und wollte mich auf den Polizisten stürzen." In diesem kleinen Satz hat man Arvids Charakterprofil: sentimentalisch und impulsiv, zu körperlichen Attacken neigend. Solch ein Schmerzensmann ist für die Umgebung nicht leicht zu ertragen. Seine Frau hat ihn mit den Töchtern verlassen. Allein lebt er nun im Wohnblock einer unwirtlichen Stadtrandsiedlung, aus der schnellstens wieder wegzieht, wer es sich leisten kann. In seinem alten Mazda fährt er quer durch Norwegen, holt seine Tochter für eine Stunde einvernehmlichen "Kidnappings" von der Schule ab (das Besuchsrecht wurde ihm entzogen), besichtigt Schauplätze seiner Vergangenheit, gerät in somnambule Zustände der Erinnerung und schweift mit den Gedanken immer wieder zur Gestalt des Vaters.
Denn wie Pettersons jüngster Roman "Pferde stehlen", der im vergangenen Jahr internationale Preise erhielt und auch hierzulande begeisterte Leser fand, ist "Im Kielwasser" ein Vaterbuch, durchaus nicht im Sinn kritischer Abrechnung, sondern in dem der Verehrung. Arvids Vater, wie er aus dem Gedächtnis überlebensgroß ersteht, ist ein Naturbursche und Alleskönner, in seiner Jugend olympiareifer Boxer und bis ins Alter ein Ausbund an Sportsgeist und Fitness. Auch wenn er nie über den Status des Arbeiters in der Fabrik für rahmengenähte norwegische Qualitätsschuhe hinauskommt - dieser Vater ist ein Traum von Stärke, was die Erfahrung der Schwäche an ihm umso beklemmender macht: Wenn er nach einem Skiunfall im Schnee liegt wie ein "verendetes Tier", wenn er sich, als betrunkener Alter auf einem Familienfest, blutende Wunden schlägt, wenn er schließlich an Krebs erkrankt. Nicht weniger irritierend, dass der Vater Seiten und Erlebnismöglichkeiten hatte, von denen der Sohn erst postum erfährt.
Das Familienleben zeigt in Pettersons Darstellung die üblichen Auflösungserscheinungen. Zugleich wirken die Menschen aneinandergebunden wie mit Schiffstauen, auch wenn sie in chronischem Streit liegen wie Arvid und sein Bruder. Ihr Verhältnis gleicht seit Kindertagen einem Wettkampf, der am Ende sogar noch einmal mit Fäusten ausgetragen wird. Pettersons Figuren sind verschwiegene, den Worten misstrauende Zeitgenossen. Wie für ihren Autor besteht für sie kein Zweifel daran, dass vieles von dem, was zwischen Menschen vorgeht, mit Sätzen eher zugedeckt als ausgedrückt wird. Die herzlichsten Szenen des Romans spielen sich nicht zufällig zwischen Arvid und seinem kurdischen Nachbarn Naim Hajo ab - einem Flüchtling, der gerade drei Worte Norwegisch versteht und sich schon aufgrund einer unerklärten Schnittwunde im Gesicht als Parallelfigur anbietet. Die Kommunikation der beiden nähert sich dem Slapstick an, aber worauf es ankommt, ist auch mit Händen und Füßen gesagt.
Nebenbei erzählt "Im Kielwasser" von der politischen Desillusionierung der um 1950 Geborenen. Einst wollten sie eine "neue Welt" errichten und vertrauten auf die organisierte Arbeiterschaft als geschichtliches Subjekt. Zwar liegt immer noch die Zeitung "Klassekampen" in Arvids Briefkasten, aber die Zeiten des Arbeiterstolzes sind lange vorbei. Auch die Schuhfabrik hatte gegen die internationale Billigkonkurrenz keine Chance.
"Im Kielwasser" ist ein Winterbuch. Harter Schnee liegt im Schatten zwischen den Häuserblocks, die Luft "prickelt und brennt im Hals". Von dieser prickelnden Klarheit ist auch Pettersons Sprache; ihr Lyrismus ist wie bei Hamsun mit trockenem Humor gut vereinbar. Dank der Übersetzung von Ina Kronenberger hat man das Gefühl, ein Original zu lesen: "Graue Wolken jagen über die Bergkämme. Sie verdecken einen Augenblick lang die Sonne und ziehen mit ihrem Schatten weiter am Waldrand entlang über die Felder zu den Hochhäusern des Zentralkrankenhauses unten im Tal und machen grau, was vordem gelb gewesen ist." Das ist unaufwendig, präzise und poetisch. Rhythmisiert wird der Text durch das biblische "und", das auch "Hemningway" (so die pauschale Bezeichnung des Vaters für alle Schriftsteller) kultivierte: "Der Mazda ist klasse, nur ein bisschen verrostet, und er hat einen starken Motor und liegt schwer auf der Straße und fährt sich sanft wie eine amerikanische Limousine."
Sehr kunstvoll ist die Komposition, die Zeitenschichtung. In Arvids Gegenwart schwingt ständig Vergangenes mit, die Realität ist mit Träumen durchsetzt. Ganz buchstäblich ist dies ein Roman der Übergänge und Schwellensituationen: immer wieder Blicke aus Fenstern, Begegnungen an Türen. Mag Arvid einmal wie Shakespeares verzweifelter König Richard II., der sein kummerzerstörtes Gesicht nicht mehr sehen will, einen Spiegel zerschlagen - auch die Beschreibungen sind symbolisch aufgeladene Spiegelungen seiner inneren Zustände.
Eine Poetik des Verschwiegenen.
Haarscharf schrammt Arvid am Tod vorbei, als er einmal im Schnee einschläft. Gerade noch rechtzeitig wird er von einem tief fliegenden Hubschrauber geweckt. Und dann leuchtet ihm ein Licht in der Winternacht. Es kommt aus der Wohnung von Frau Grinde im Block gegenüber. Die Krankenschwester lässt den bis in die Seele verfrorenen Mann hinein, und er erzählt ihr vom krebskranken Vater, vom Moment, als er ihn in einer Haltung unverkennbaren Schmerzes erblickte, weinend. Damals konnte er keine Worte finden und verdrückte sich. Jetzt spricht er davon, und als er fertig ist, hat er für diese Nacht Frau Grinde und ein warmes Bett gewonnen: "Wieder einmal wird mir klar, was eine Geschichte auslösen kann." Ungeachtet der Poetik des Sprachlosen und Verschwiegenen gibt es in diesem Buch Gesprächsszenen von großer Nähe, wenn zwei Menschen nicht ihre akuten Angelegenheiten verhandeln, sondern wenn einer erzählt, was er bisher noch niemandem erzählt hat.
So entwickeln sich unerwartete Gegenkräfte zur Verzweiflung. Ein Kurde, eine Krankenschwester. Und die großartigen Epiphanien der Natur: Pferde, die reglos im Regen stehen, ein für tot gehaltener Elch, der sich unter Schneegestöber mächtig wieder aufrichtet. Auch ein beiläufig-pointierter Schluss gelingt dem Autor. Vier Jahre hat er an diesen knapp zweihundert Seiten gearbeitet. Man merkt es ihnen an. "Im Kielwasser" ist rahmengenähte Qualitätsarbeit, Stich für Stich.
- Per Petterson: "Im Kielwasser". Roman.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Hanser Verlag, München 2007. 189 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kunst der Auslassung: Mit seinem Roman "Pferde stehlen" erlangte der norwegische Autor Per Petterson internationale Aufmerksamkeit. "Im Kielwasser", sein neuer Roman, ist ein beeindruckendes Vaterbuch, das nebenbei die Geschichte einer Generation erzählt.
Von Wolfgang Schneider
Am Anfang: ein Filmriss. Arvid kann sich nicht erklären, wieso er in aller Herrgottsfrühe vor der Buchhandlung steht, in der er einmal gearbeitet hat. Woher sein ramponierter Zustand? Weshalb die drei gebrochenen Rippen (als Raucher mit schlechtem Gewissen hält er den Schmerz zunächst für Lungenkrebs), das blaue Auge und die offene Hose? Nur langsam lichtet sich der Rausch, nur mühsam findet der Dreiundvierzigjährige zurück in seine Wirklichkeit. Und auch der Leser fasst Fuß in einem derangierten Männerleben.
Es gehört zur Erzähltechnik Per Pettersons, dass er mit den Gründen knausert. Sind sie doch sowieso oft unzureichend oder vorgeschoben. Aber bald ist klar: Dieser Arvid trudelt im Kielwasser einer Katastrophe. Bei einem Fährunglück, wie es von Zeit zu Zeit mit vielen Toten Schlagzeilen macht und dem norwegischen Autor 1990 selbst die halbe Familie entriss, hat er seine Eltern und zwei jüngere Brüder verloren. Er hatte eine Ausrede vorgeschützt, um nicht teilzunehmen an der Überfahrt nach Dänemark. Das ist sechs Jahre her; die Höllenbilder eines Videos haben sich seitdem in sein Hirn gebrannt: ein Gang im Inneren des Unglücksschiffs, mit aneinandergedrängten, erstickten und verbrannten Menschen.
Ein Traum von Stärke.
Nicht leicht, mit jemandem über die Katastrophe zu sprechen: "Alle erinnern sich an den Brand, alle nicken und werden still. . ." So spricht er eben nicht darüber. Aber ohne dass vom Schuldgefühl des Überlebenden, von Schmerz und Trauer viel die Rede wäre - in Arvids verstörtem, schroffem Verhalten ist das alles sehr gegenwärtig. Er ist Schriftsteller, und nicht lange nach dem Unglück meint sein älterer Bruder zu ihm: "Ich beneide dich, du kannst alles, was passiert ist, in Worte fassen." Aber gerade der Schriftsteller leidet unter dem Sprachverlust. Am Ende wirft er die Arbeit von zwei Jahren in den digitalen Papierkorb.
Als die beiden vor dem in den nächsten Hafen geschleppten Schiff stehen, ein Kadaver mit schwarzen Rauchflecken um die Bullaugen, und ein Polizist ihnen den Zugang dorthin versperrt, heißt es: "Da fing ich an zu weinen und wollte mich auf den Polizisten stürzen." In diesem kleinen Satz hat man Arvids Charakterprofil: sentimentalisch und impulsiv, zu körperlichen Attacken neigend. Solch ein Schmerzensmann ist für die Umgebung nicht leicht zu ertragen. Seine Frau hat ihn mit den Töchtern verlassen. Allein lebt er nun im Wohnblock einer unwirtlichen Stadtrandsiedlung, aus der schnellstens wieder wegzieht, wer es sich leisten kann. In seinem alten Mazda fährt er quer durch Norwegen, holt seine Tochter für eine Stunde einvernehmlichen "Kidnappings" von der Schule ab (das Besuchsrecht wurde ihm entzogen), besichtigt Schauplätze seiner Vergangenheit, gerät in somnambule Zustände der Erinnerung und schweift mit den Gedanken immer wieder zur Gestalt des Vaters.
Denn wie Pettersons jüngster Roman "Pferde stehlen", der im vergangenen Jahr internationale Preise erhielt und auch hierzulande begeisterte Leser fand, ist "Im Kielwasser" ein Vaterbuch, durchaus nicht im Sinn kritischer Abrechnung, sondern in dem der Verehrung. Arvids Vater, wie er aus dem Gedächtnis überlebensgroß ersteht, ist ein Naturbursche und Alleskönner, in seiner Jugend olympiareifer Boxer und bis ins Alter ein Ausbund an Sportsgeist und Fitness. Auch wenn er nie über den Status des Arbeiters in der Fabrik für rahmengenähte norwegische Qualitätsschuhe hinauskommt - dieser Vater ist ein Traum von Stärke, was die Erfahrung der Schwäche an ihm umso beklemmender macht: Wenn er nach einem Skiunfall im Schnee liegt wie ein "verendetes Tier", wenn er sich, als betrunkener Alter auf einem Familienfest, blutende Wunden schlägt, wenn er schließlich an Krebs erkrankt. Nicht weniger irritierend, dass der Vater Seiten und Erlebnismöglichkeiten hatte, von denen der Sohn erst postum erfährt.
Das Familienleben zeigt in Pettersons Darstellung die üblichen Auflösungserscheinungen. Zugleich wirken die Menschen aneinandergebunden wie mit Schiffstauen, auch wenn sie in chronischem Streit liegen wie Arvid und sein Bruder. Ihr Verhältnis gleicht seit Kindertagen einem Wettkampf, der am Ende sogar noch einmal mit Fäusten ausgetragen wird. Pettersons Figuren sind verschwiegene, den Worten misstrauende Zeitgenossen. Wie für ihren Autor besteht für sie kein Zweifel daran, dass vieles von dem, was zwischen Menschen vorgeht, mit Sätzen eher zugedeckt als ausgedrückt wird. Die herzlichsten Szenen des Romans spielen sich nicht zufällig zwischen Arvid und seinem kurdischen Nachbarn Naim Hajo ab - einem Flüchtling, der gerade drei Worte Norwegisch versteht und sich schon aufgrund einer unerklärten Schnittwunde im Gesicht als Parallelfigur anbietet. Die Kommunikation der beiden nähert sich dem Slapstick an, aber worauf es ankommt, ist auch mit Händen und Füßen gesagt.
Nebenbei erzählt "Im Kielwasser" von der politischen Desillusionierung der um 1950 Geborenen. Einst wollten sie eine "neue Welt" errichten und vertrauten auf die organisierte Arbeiterschaft als geschichtliches Subjekt. Zwar liegt immer noch die Zeitung "Klassekampen" in Arvids Briefkasten, aber die Zeiten des Arbeiterstolzes sind lange vorbei. Auch die Schuhfabrik hatte gegen die internationale Billigkonkurrenz keine Chance.
"Im Kielwasser" ist ein Winterbuch. Harter Schnee liegt im Schatten zwischen den Häuserblocks, die Luft "prickelt und brennt im Hals". Von dieser prickelnden Klarheit ist auch Pettersons Sprache; ihr Lyrismus ist wie bei Hamsun mit trockenem Humor gut vereinbar. Dank der Übersetzung von Ina Kronenberger hat man das Gefühl, ein Original zu lesen: "Graue Wolken jagen über die Bergkämme. Sie verdecken einen Augenblick lang die Sonne und ziehen mit ihrem Schatten weiter am Waldrand entlang über die Felder zu den Hochhäusern des Zentralkrankenhauses unten im Tal und machen grau, was vordem gelb gewesen ist." Das ist unaufwendig, präzise und poetisch. Rhythmisiert wird der Text durch das biblische "und", das auch "Hemningway" (so die pauschale Bezeichnung des Vaters für alle Schriftsteller) kultivierte: "Der Mazda ist klasse, nur ein bisschen verrostet, und er hat einen starken Motor und liegt schwer auf der Straße und fährt sich sanft wie eine amerikanische Limousine."
Sehr kunstvoll ist die Komposition, die Zeitenschichtung. In Arvids Gegenwart schwingt ständig Vergangenes mit, die Realität ist mit Träumen durchsetzt. Ganz buchstäblich ist dies ein Roman der Übergänge und Schwellensituationen: immer wieder Blicke aus Fenstern, Begegnungen an Türen. Mag Arvid einmal wie Shakespeares verzweifelter König Richard II., der sein kummerzerstörtes Gesicht nicht mehr sehen will, einen Spiegel zerschlagen - auch die Beschreibungen sind symbolisch aufgeladene Spiegelungen seiner inneren Zustände.
Eine Poetik des Verschwiegenen.
Haarscharf schrammt Arvid am Tod vorbei, als er einmal im Schnee einschläft. Gerade noch rechtzeitig wird er von einem tief fliegenden Hubschrauber geweckt. Und dann leuchtet ihm ein Licht in der Winternacht. Es kommt aus der Wohnung von Frau Grinde im Block gegenüber. Die Krankenschwester lässt den bis in die Seele verfrorenen Mann hinein, und er erzählt ihr vom krebskranken Vater, vom Moment, als er ihn in einer Haltung unverkennbaren Schmerzes erblickte, weinend. Damals konnte er keine Worte finden und verdrückte sich. Jetzt spricht er davon, und als er fertig ist, hat er für diese Nacht Frau Grinde und ein warmes Bett gewonnen: "Wieder einmal wird mir klar, was eine Geschichte auslösen kann." Ungeachtet der Poetik des Sprachlosen und Verschwiegenen gibt es in diesem Buch Gesprächsszenen von großer Nähe, wenn zwei Menschen nicht ihre akuten Angelegenheiten verhandeln, sondern wenn einer erzählt, was er bisher noch niemandem erzählt hat.
So entwickeln sich unerwartete Gegenkräfte zur Verzweiflung. Ein Kurde, eine Krankenschwester. Und die großartigen Epiphanien der Natur: Pferde, die reglos im Regen stehen, ein für tot gehaltener Elch, der sich unter Schneegestöber mächtig wieder aufrichtet. Auch ein beiläufig-pointierter Schluss gelingt dem Autor. Vier Jahre hat er an diesen knapp zweihundert Seiten gearbeitet. Man merkt es ihnen an. "Im Kielwasser" ist rahmengenähte Qualitätsarbeit, Stich für Stich.
- Per Petterson: "Im Kielwasser". Roman.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Hanser Verlag, München 2007. 189 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit "Kielwasser" liegt nun auch der Vorgänger-Roman von Per Pettersons "Pferde stehlen" vor, der Nico Bleutge bereits letztes Jahr begeistert hat. In diesem Buch, in dessen Mittelpunkt ein Schriftsteller steht, dessen ganze Familie bis auf den älteren Bruder bei einem Fährunglück ums Leben gekommen ist, zeigt sich der norwegische Autor ein weiteres Mal als "Meister der Gleichzeitigkeit", so der Rezensent beeindruckt. Während der Protagonist sich zögernd den Erinnerungen hingibt und sich verzweifelt seiner Identität zu vergewissern sucht, fließt Vergangenheit und Gegenwart ineinander und die Chronologie scheint zu verschwimmen, erklärt Bleutge. Er preist die kraftvolle Komposition, die sich beispielsweise an der Figur des Vaters beweist, der in seiner ganzen Ambivalenz dargestellt ist, und sieht sich in den mäandernden Reflexionen des Ich-Erzählers an Schwarzweißfilme erinnert. Einzig der Versuch von Petterson, die Lebensbilanz des Ich-Erzählers in ein Gesellschaftsporträt zu weiten, erscheint dem ansonsten sehr eingenommenen Rezensenten etwas prätentiös und wenig überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine Schule hellsichtiger Wahrnehmung und aufrichtiger Gefühle." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 06.02.07
"Petterson hat mit "Pferde stehlen" und nun mit "Im Kielwasser" binnen kurzer Zeit zwei großartige Romane vorgelegt. Das kann kein Zufall mehr sein." Christoph Schröder, Die Tageszeitung, 17./ 18.02.07
"Ein schmerzhaft schöner Roman, das Glanzlicht dieser Saison." Ulrich Baron, Die Zeit, 22.03.07
"Ein beeindruckendes Vaterbuch, das nebenbei die Geschichte einer Generation erzählt." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.07
In Per Pettersons Romanen ist "kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, kein Wort am falschen Platz. Sie entwickeln eine Sogkraft, einen leisen, aber mächtigen Zauber." Sigrid Löffler, Literaturen, 04/07
"Petterson hat mit "Pferde stehlen" und nun mit "Im Kielwasser" binnen kurzer Zeit zwei großartige Romane vorgelegt. Das kann kein Zufall mehr sein." Christoph Schröder, Die Tageszeitung, 17./ 18.02.07
"Ein schmerzhaft schöner Roman, das Glanzlicht dieser Saison." Ulrich Baron, Die Zeit, 22.03.07
"Ein beeindruckendes Vaterbuch, das nebenbei die Geschichte einer Generation erzählt." Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.07
In Per Pettersons Romanen ist "kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, kein Wort am falschen Platz. Sie entwickeln eine Sogkraft, einen leisen, aber mächtigen Zauber." Sigrid Löffler, Literaturen, 04/07