'Wie kann', fragt Urs Allemann, 'unter Bedingungen irreversiblen Leierverlusts vielleicht trotzdem so etwas wie Lyrik gemacht werden?'2 x 26 Versuche einer Antwort auf diese Frage enthält Urs Allemanns dritter Gedichtband - Gedichte, die ihren Anfangsbuchstaben nach streng von A bis Z geordnet sind. Ihren Titel im kinde schwirren die ahnen entwenden sie einem Gedicht Hölderlins, Hälfte des Lebens, das sie als selftee nes bebens überschreiben.'Die Überschreibung', sagt Urs Allemann, 'ist ein extremes Verfahren der Auseinandersetzung mit Ahnen-Texten: Es ermöglicht, gleichzeitig äußerste Nähe und äußerste Distanz zur Vorlage herzustellen. Silbe für Silbe überschreibt die Überschreibung das Überschriebene mit einem Reim und stellt so ein Neues, Ungereimtes her.' Auseinandersetzung mit den 'Ahnen' heißt auch Auseinandersetzung mit den von ihnen entwickelten poetischen Gattungen. Insofern setzen diese neuen Gedichte die Bände Holder die Polder und schoen! schoen! fort. Stärker aber noch als in seinen früheren Gedichten zerliest Urs Allemann den Sprachkörper in seine lautlichen und semantischen Organe. Urs Allemann ist ein brillanter Interpret seiner Texte: auf der CD zu diesem Buch ist das zu hören. Urs Allemann liest alle Gedichte dieses Buches
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2008„du feist fass ich fill!”
„im kinde schwirren die ahnen”: Neue Gedichte von Urs Allemann
Wenn er seine Gedichte vorliest – ins Buch ist eine CD einmontiert; danke! –, dann steigt er ziemlich forciert ein: gewissermaßen überdeutlich. Der Furor tut aber gut, denn Urs Allemann erzwingt durch so massive Artikulation Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Dichtarten und Verfahrensweisen, den – mit Hölderlin gesprochen, der eine wichtige Rolle spielt in Allemanns Poemen – „Wechsel der Töne”. Wenn er ein Gedicht mit „abendgesang” überschreibt, dann hört man bei allem Befremden doch das heraus, was man früher ein „Naturgedicht” nannte, ein anschmiegsames, aber nicht sentimentales, das zugleich über seine Gemachtheit spricht; wenn er sein Kalauer-Gedicht liest, dann hört man irritiert die Nachbarschaft zur Kargheit der Einzeiler Günter Eichs heraus; wenn er „semikolon; doppelkoma” anstimmt, lässt er fast knallig hervortreten, dass in diesen Gedichten Satzzeichen und Seufzer das diskutierte Sprachmaterial sind, Satzzeichen und ihre rhythmisierende, gliedernde Funktion – und sage keiner, dass das nichts mit Lyrik zu tun hätte; man denke nur daran, was ein „Ach!” in der deutschen Dichtung alles bedeuten und auslösen kann!
Außerdem ist Allemann ein Komiker von Graden und ein großer Performer seiner selbst, und dazu gehört, dass er bisweilen einfach in Gesang ausbricht, meist nur über zwei, drei Zeilen, aber dann merkt man die ironische Sangbarkeit, die man einem scheinbar gleichgültigen Ablauf von Worten unterlegen kann: Wie klang das, was war denn das noch mal? fragt man sich, und richtig: „Sag zum Abschied leise Servus” kriegt man plötzlich ins Ohr, oder es war die Melodie von Mozarts „Ah vous dirai-je Maman” (besser bekannt als „Morgen kommt der Weihnachtsmann. . .”).
Warum nicht mal lügen?
Langweilig ist das keinen Moment, auch nicht in Fällen, wo man jedes Wort einzeln, aber kein Wort im Zusammenhang versteht; da nimmt sich Allemann die Lizenz, Elias Canettis einst als Maxime formulierter Einsicht zu folgen, dass Sprache keineswegs immer unmittelbar der Kommunikation zu dienen verpflichtet sei, vielmehr auch die Fähigkeit habe, die lustvolle Verweigerung von Kommunikation, nämlich Dunkelheit und Rätsel herzustellen (eventuell sogar Lügen).
Die Titelzeile „im kinde schwirren die ahnen” ist ein schönes Beispiel dafür, wie Allemann in seinen Wortfolgen noch lockend und irritierend eine andere Wortfolge ahnen lässt; das klingt doch irgendwie bekannt, denkt man, da kann man doch was ‚dahinter‘ hören? Ja, nämlich Allemann hält sich an den Vokalismus von Hölderlins „Hälfte des Lebens”, lässt also alle Vokale dieses Gedichts stehen, baut aber dann sein Gedicht aus ganz anderen Wörtern, macht aus den Schlusszeilen von Hölderlins Gedicht, „. . .im Winde klirren die Fahnen” sein bizarres „im kinde schwirren die ahnen”, erzielt so einen zauberhaften Effekt und beabsichtigt keineswegs ein Sakrileg.
Wie Gerhard Rühm einst Lautgedichte schuf, die eben nur Lautgedichte waren und deren Tonfall dennoch unverkennbar wienerisch war , so gibt es bei Allemann, dem Basler, Einsprengsel und ganze Lautgedichte in Schweizerdeutsch, unverkennbar in Baseldütsch, in welchem Idiom auch eine Beschimpfung Allemanns vorgenommen wird, welche er einem Basler Stammtischbruder in den Mund legt, der einer wahrhaft konservativen Ästhetik anhängt und krachend vulgär die ganzen experimentellen Produkte Allemanns verprügelt – da gibt es ja viele, denen die ganze Richtung nicht passt. Aber in Allemann , dem Traditionalisten, schwirren die Ahnen Petrarca und Oskar Pastior, Brecht und der späte Eich.JÖRG DREWS
URS ALLEMANN: im kinde schwirren die ahnen. 52 Gedichte. Mit einer CD. Edition Urs Engeler, Basel 2008. 53 Seiten, 21 Euro.
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„im kinde schwirren die ahnen”: Neue Gedichte von Urs Allemann
Wenn er seine Gedichte vorliest – ins Buch ist eine CD einmontiert; danke! –, dann steigt er ziemlich forciert ein: gewissermaßen überdeutlich. Der Furor tut aber gut, denn Urs Allemann erzwingt durch so massive Artikulation Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Dichtarten und Verfahrensweisen, den – mit Hölderlin gesprochen, der eine wichtige Rolle spielt in Allemanns Poemen – „Wechsel der Töne”. Wenn er ein Gedicht mit „abendgesang” überschreibt, dann hört man bei allem Befremden doch das heraus, was man früher ein „Naturgedicht” nannte, ein anschmiegsames, aber nicht sentimentales, das zugleich über seine Gemachtheit spricht; wenn er sein Kalauer-Gedicht liest, dann hört man irritiert die Nachbarschaft zur Kargheit der Einzeiler Günter Eichs heraus; wenn er „semikolon; doppelkoma” anstimmt, lässt er fast knallig hervortreten, dass in diesen Gedichten Satzzeichen und Seufzer das diskutierte Sprachmaterial sind, Satzzeichen und ihre rhythmisierende, gliedernde Funktion – und sage keiner, dass das nichts mit Lyrik zu tun hätte; man denke nur daran, was ein „Ach!” in der deutschen Dichtung alles bedeuten und auslösen kann!
Außerdem ist Allemann ein Komiker von Graden und ein großer Performer seiner selbst, und dazu gehört, dass er bisweilen einfach in Gesang ausbricht, meist nur über zwei, drei Zeilen, aber dann merkt man die ironische Sangbarkeit, die man einem scheinbar gleichgültigen Ablauf von Worten unterlegen kann: Wie klang das, was war denn das noch mal? fragt man sich, und richtig: „Sag zum Abschied leise Servus” kriegt man plötzlich ins Ohr, oder es war die Melodie von Mozarts „Ah vous dirai-je Maman” (besser bekannt als „Morgen kommt der Weihnachtsmann. . .”).
Warum nicht mal lügen?
Langweilig ist das keinen Moment, auch nicht in Fällen, wo man jedes Wort einzeln, aber kein Wort im Zusammenhang versteht; da nimmt sich Allemann die Lizenz, Elias Canettis einst als Maxime formulierter Einsicht zu folgen, dass Sprache keineswegs immer unmittelbar der Kommunikation zu dienen verpflichtet sei, vielmehr auch die Fähigkeit habe, die lustvolle Verweigerung von Kommunikation, nämlich Dunkelheit und Rätsel herzustellen (eventuell sogar Lügen).
Die Titelzeile „im kinde schwirren die ahnen” ist ein schönes Beispiel dafür, wie Allemann in seinen Wortfolgen noch lockend und irritierend eine andere Wortfolge ahnen lässt; das klingt doch irgendwie bekannt, denkt man, da kann man doch was ‚dahinter‘ hören? Ja, nämlich Allemann hält sich an den Vokalismus von Hölderlins „Hälfte des Lebens”, lässt also alle Vokale dieses Gedichts stehen, baut aber dann sein Gedicht aus ganz anderen Wörtern, macht aus den Schlusszeilen von Hölderlins Gedicht, „. . .im Winde klirren die Fahnen” sein bizarres „im kinde schwirren die ahnen”, erzielt so einen zauberhaften Effekt und beabsichtigt keineswegs ein Sakrileg.
Wie Gerhard Rühm einst Lautgedichte schuf, die eben nur Lautgedichte waren und deren Tonfall dennoch unverkennbar wienerisch war , so gibt es bei Allemann, dem Basler, Einsprengsel und ganze Lautgedichte in Schweizerdeutsch, unverkennbar in Baseldütsch, in welchem Idiom auch eine Beschimpfung Allemanns vorgenommen wird, welche er einem Basler Stammtischbruder in den Mund legt, der einer wahrhaft konservativen Ästhetik anhängt und krachend vulgär die ganzen experimentellen Produkte Allemanns verprügelt – da gibt es ja viele, denen die ganze Richtung nicht passt. Aber in Allemann , dem Traditionalisten, schwirren die Ahnen Petrarca und Oskar Pastior, Brecht und der späte Eich.JÖRG DREWS
URS ALLEMANN: im kinde schwirren die ahnen. 52 Gedichte. Mit einer CD. Edition Urs Engeler, Basel 2008. 53 Seiten, 21 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Samuel Moser verehrt Urs Allemann als "dialektischsten aller Poeten", der in seinem neuen Band mit 52 durchnummerierten und alphabetisch geordneten Gedichten einmal mehr in die gefährlich-schöne Vieldeutigkeit des "Niemandslandes zwischen Schrift und Laut" führt. Der Rezensent betont, dass Allemanns Gedichte, die zwar inhaltlich anarchisch, aber dafür in strenger Form gefertigt sind, keineswegs als bloße Wort- oder Lautspielerei verstanden werden dürften, denn so sehr der Lyriker auch auf die Musikalität der Worte setze, so arbeite er doch auch stets mit deren Bedeutung. Gleichzeitig vernimmt Moser in den Fremdsprachen, Kunstsprachen und Dialekt einsetzenden Gedichten auch so etwas wie ein "liebendes Echo der deutschen Poesie", das in den im Titel genannten "Ahnen", sei es Goethe, Sappho oder Pastior, ihren Brennstoff findet. Die dem Band beigegebene CD übrigens, auf der der Autor seine Gedichte vorträgt, ist zum Teil wunderbar komisch, und demonstriert, dass die Lyrik Allemanns vor allem eins ist: "Mundwerk" und damit Ohrenschmaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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