Hanns Grössel war für den deutschsprachigen Raum einer der wichtigsten Vermittler französischer und skandinavischer Literatur, nicht nur als Literaturredakteur im WDR und Übersetzer, sondern auch als Essayist und Kritiker. Wenn Hanns Grössel mit ansteckender Neugier und Respekt über Bücher sprach oder schrieb, entfalteten sich die Lebens-, Werk- und Editionsgeschichten zu literaturhistorischen Erzählungen, fundiert, kenntnisreich, manchmal auf originelle Weise eigenwillig und immer begeisternd. Er erzählte mit Lust und machte Lust auf Literatur, insbesondere auf die französische und die skandinavische (vor allem dänische) Literatur, für die er Bedeutendes geleistet hat.
Norbert Wehr hat für eine große Retrospektive Beiträge ausgewählt, die sich in der Zusammenstellung als Hanns Grössels persönliche französische Literaturgeschichte lesen lassen. Der Band bietet mit seinem literaturhistorischen Panorama aus Einzelbetrachtungen nicht nur einen aufschlussreichen Überblick, sondern auch einen ausgezeichneten Einstieg in das literarische Universum der französischen Literatur.
Norbert Wehr hat für eine große Retrospektive Beiträge ausgewählt, die sich in der Zusammenstellung als Hanns Grössels persönliche französische Literaturgeschichte lesen lassen. Der Band bietet mit seinem literaturhistorischen Panorama aus Einzelbetrachtungen nicht nur einen aufschlussreichen Überblick, sondern auch einen ausgezeichneten Einstieg in das literarische Universum der französischen Literatur.
Neugier
und Funkenflug
Essays und Kritiken von
Hanns Grössel über Frankreich
Der 2012 im Alter von 80 Jahren gestorbene Hanns Grössel war der Idealtyp des Literaturredakteurs. In seinen drei Jahrzehnten beim Westdeutschen Rundfunk standen die Bücher selbst im Mittelpunkt. Er förderte junge Begabungen, und seine Mitarbeiterliste liest sich wie eine Auswahl derer, deren Texte auch später noch gültig sein würden. Die Kritikerin Sibylle Cramer etwa erinnerte sich daran, dass Grössel sie nach jedem Eingang eines Manuskripts anrief, und danach „folgte ein Gespräch, das den behandelten Gegenstand in die Lebens- und Werkgeschichte des Autors erweiterte und in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellte.“
Grössels eigene Kritiken und seine Tätigkeit als Übersetzer, für die er viele Preise erhielt, ergänzten sich. Er arbeitete sich nicht an der Atmosphäre des Tagesgeschäfts ab, sondern glänzte durch Belesenheit und Kenntnis der Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichten. Dieser klassische Bildungsbürger war Spezialist für gleich zwei Sprachen, die französische und die dänische. Das war seiner Biografie geschuldet. Als Sohn eines nach Dänemark versetzten Lehrers verbrachte er dort acht Jahre seiner Jugend, und nachdem er 1953/54 ein halbes Jahr in Paris gelebt hatte, sattelte er in seinem Studium von der Altphilologie auf Romanistik um – nicht zuletzt, um den Spuren zu folgen, die sein Vater im von den Deutschen besetzten Paris Anfang der Vierzigerjahre hinterlassen hatte und von denen er wenig wusste. Das verbindet ihn auf überraschende Weise mit dem Nobelpreisträger Patrick Modiano, der die zwielichtige Rolle seines Vaters im Paris der Kollaboration und Résistance immer wieder zum Ausgangspunkt seiner literarischen Exkursionen machte. Hanns Grössel hat bereits in den Achtzigerjahren, als verschiedene Verlage Modiano erfolglos in Deutschland durchzusetzen versuchten, hellsichtige und kenntnisreiche Besprechungen von dessen Büchern geschrieben.
Der Band mit Grössels Essays und Kritiken zur französischen Literatur, den Norbert Wehr jetzt vorgelegt hat, schlägt einen weiten Bogen und lässt sich als eine zwar subjektive, aber gerade deshalb umso ergiebigere und instruktivere kleine französische Literaturgeschichte lesen. Es beginnt mit Stendhal und endet mit Modiano. Grössel setzt Schwerpunkte, seine Analysen sind heute noch unübertroffen. Mit dem Faschismus kollabierende und ihn ideologisch noch befeuernde Autoren wie Drieu La Rochelle und Céline interessieren Grössel aus persönlichen und zeitgeschichtlichen Gründen besonders. Sehr differenziert und mit langem Atem liest er ihre Texte und zeigt ihre Grenzen auf, gerade bei Céline, dessen Sprachgewalt und formale Errungenschaften er genau erkennt. Und auch bei dem weitaus konventionelleren Drieu wendet er sich sachlich und klar gegen eine „Verhätschelung“, die ihm angesichts seiner schillernden und irrlichternden Existenz früh zuteil wurde. Die später erstaunlich relativierte Rolle Friedrich Sieburgs im besetzten Paris benennt Grössel zudem nachdrücklich.
Jean-Paul Sartre war für Grössel ein unumgänglicher Fixpunkt. Es ist brillant, wie er Sartres Umdeutung des kommunistischen Aktivisten Paul Nizan aufdeckt oder seine Definition des „Engagements“ bei dem das L’art pour l’art ins Äußerste treibenden Stéphane Mallarmé nachvollzieht. Wie nebenbei streut Grössel dann doch immer wieder Anmerkungen zu den Erscheinungsformen des aktuellen Literaturbetriebs ein: „Wir brauchten eine fortlaufende Literaturdiskussion, die nicht vom Kalender, sondern von Neugier und Phantasie vorangetrieben wird“, schreibt er 1976. Und in der Süddeutschen Zeitung findet sich in einer Sartre-Besprechung aus dem Jahr 1983 der zukunftsweise Satz: „Könnten die Funken von Sartres kämpferischer Literaturkritik auf die Bundesrepublik überspringen – Autoren und Leser hierzulande hätten aufregende Zeiten vor sich.“
HELMUT BÖTTIGER
Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 542 Seiten, 30 Euro.
Schon, als Patrick Modiano
hierzulande keinen Verlag fand,
schrieb Grössel über seine Bücher
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Funkenflug
Essays und Kritiken von
Hanns Grössel über Frankreich
Der 2012 im Alter von 80 Jahren gestorbene Hanns Grössel war der Idealtyp des Literaturredakteurs. In seinen drei Jahrzehnten beim Westdeutschen Rundfunk standen die Bücher selbst im Mittelpunkt. Er förderte junge Begabungen, und seine Mitarbeiterliste liest sich wie eine Auswahl derer, deren Texte auch später noch gültig sein würden. Die Kritikerin Sibylle Cramer etwa erinnerte sich daran, dass Grössel sie nach jedem Eingang eines Manuskripts anrief, und danach „folgte ein Gespräch, das den behandelten Gegenstand in die Lebens- und Werkgeschichte des Autors erweiterte und in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellte.“
Grössels eigene Kritiken und seine Tätigkeit als Übersetzer, für die er viele Preise erhielt, ergänzten sich. Er arbeitete sich nicht an der Atmosphäre des Tagesgeschäfts ab, sondern glänzte durch Belesenheit und Kenntnis der Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichten. Dieser klassische Bildungsbürger war Spezialist für gleich zwei Sprachen, die französische und die dänische. Das war seiner Biografie geschuldet. Als Sohn eines nach Dänemark versetzten Lehrers verbrachte er dort acht Jahre seiner Jugend, und nachdem er 1953/54 ein halbes Jahr in Paris gelebt hatte, sattelte er in seinem Studium von der Altphilologie auf Romanistik um – nicht zuletzt, um den Spuren zu folgen, die sein Vater im von den Deutschen besetzten Paris Anfang der Vierzigerjahre hinterlassen hatte und von denen er wenig wusste. Das verbindet ihn auf überraschende Weise mit dem Nobelpreisträger Patrick Modiano, der die zwielichtige Rolle seines Vaters im Paris der Kollaboration und Résistance immer wieder zum Ausgangspunkt seiner literarischen Exkursionen machte. Hanns Grössel hat bereits in den Achtzigerjahren, als verschiedene Verlage Modiano erfolglos in Deutschland durchzusetzen versuchten, hellsichtige und kenntnisreiche Besprechungen von dessen Büchern geschrieben.
Der Band mit Grössels Essays und Kritiken zur französischen Literatur, den Norbert Wehr jetzt vorgelegt hat, schlägt einen weiten Bogen und lässt sich als eine zwar subjektive, aber gerade deshalb umso ergiebigere und instruktivere kleine französische Literaturgeschichte lesen. Es beginnt mit Stendhal und endet mit Modiano. Grössel setzt Schwerpunkte, seine Analysen sind heute noch unübertroffen. Mit dem Faschismus kollabierende und ihn ideologisch noch befeuernde Autoren wie Drieu La Rochelle und Céline interessieren Grössel aus persönlichen und zeitgeschichtlichen Gründen besonders. Sehr differenziert und mit langem Atem liest er ihre Texte und zeigt ihre Grenzen auf, gerade bei Céline, dessen Sprachgewalt und formale Errungenschaften er genau erkennt. Und auch bei dem weitaus konventionelleren Drieu wendet er sich sachlich und klar gegen eine „Verhätschelung“, die ihm angesichts seiner schillernden und irrlichternden Existenz früh zuteil wurde. Die später erstaunlich relativierte Rolle Friedrich Sieburgs im besetzten Paris benennt Grössel zudem nachdrücklich.
Jean-Paul Sartre war für Grössel ein unumgänglicher Fixpunkt. Es ist brillant, wie er Sartres Umdeutung des kommunistischen Aktivisten Paul Nizan aufdeckt oder seine Definition des „Engagements“ bei dem das L’art pour l’art ins Äußerste treibenden Stéphane Mallarmé nachvollzieht. Wie nebenbei streut Grössel dann doch immer wieder Anmerkungen zu den Erscheinungsformen des aktuellen Literaturbetriebs ein: „Wir brauchten eine fortlaufende Literaturdiskussion, die nicht vom Kalender, sondern von Neugier und Phantasie vorangetrieben wird“, schreibt er 1976. Und in der Süddeutschen Zeitung findet sich in einer Sartre-Besprechung aus dem Jahr 1983 der zukunftsweise Satz: „Könnten die Funken von Sartres kämpferischer Literaturkritik auf die Bundesrepublik überspringen – Autoren und Leser hierzulande hätten aufregende Zeiten vor sich.“
HELMUT BÖTTIGER
Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 542 Seiten, 30 Euro.
Schon, als Patrick Modiano
hierzulande keinen Verlag fand,
schrieb Grössel über seine Bücher
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2017Neugier
und Funkenflug
Essays und Kritiken von
Hanns Grössel über Frankreich
Der 2012 im Alter von 80 Jahren gestorbene Hanns Grössel war der Idealtyp des Literaturredakteurs. In seinen drei Jahrzehnten beim Westdeutschen Rundfunk standen die Bücher selbst im Mittelpunkt. Er förderte junge Begabungen, und seine Mitarbeiterliste liest sich wie eine Auswahl derer, deren Texte auch später noch gültig sein würden. Die Kritikerin Sibylle Cramer etwa erinnerte sich daran, dass Grössel sie nach jedem Eingang eines Manuskripts anrief, und danach „folgte ein Gespräch, das den behandelten Gegenstand in die Lebens- und Werkgeschichte des Autors erweiterte und in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellte.“
Grössels eigene Kritiken und seine Tätigkeit als Übersetzer, für die er viele Preise erhielt, ergänzten sich. Er arbeitete sich nicht an der Atmosphäre des Tagesgeschäfts ab, sondern glänzte durch Belesenheit und Kenntnis der Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichten. Dieser klassische Bildungsbürger war Spezialist für gleich zwei Sprachen, die französische und die dänische. Das war seiner Biografie geschuldet. Als Sohn eines nach Dänemark versetzten Lehrers verbrachte er dort acht Jahre seiner Jugend, und nachdem er 1953/54 ein halbes Jahr in Paris gelebt hatte, sattelte er in seinem Studium von der Altphilologie auf Romanistik um – nicht zuletzt, um den Spuren zu folgen, die sein Vater im von den Deutschen besetzten Paris Anfang der Vierzigerjahre hinterlassen hatte und von denen er wenig wusste. Das verbindet ihn auf überraschende Weise mit dem Nobelpreisträger Patrick Modiano, der die zwielichtige Rolle seines Vaters im Paris der Kollaboration und Résistance immer wieder zum Ausgangspunkt seiner literarischen Exkursionen machte. Hanns Grössel hat bereits in den Achtzigerjahren, als verschiedene Verlage Modiano erfolglos in Deutschland durchzusetzen versuchten, hellsichtige und kenntnisreiche Besprechungen von dessen Büchern geschrieben.
Der Band mit Grössels Essays und Kritiken zur französischen Literatur, den Norbert Wehr jetzt vorgelegt hat, schlägt einen weiten Bogen und lässt sich als eine zwar subjektive, aber gerade deshalb umso ergiebigere und instruktivere kleine französische Literaturgeschichte lesen. Es beginnt mit Stendhal und endet mit Modiano. Grössel setzt Schwerpunkte, seine Analysen sind heute noch unübertroffen. Mit dem Faschismus kollabierende und ihn ideologisch noch befeuernde Autoren wie Drieu La Rochelle und Céline interessieren Grössel aus persönlichen und zeitgeschichtlichen Gründen besonders. Sehr differenziert und mit langem Atem liest er ihre Texte und zeigt ihre Grenzen auf, gerade bei Céline, dessen Sprachgewalt und formale Errungenschaften er genau erkennt. Und auch bei dem weitaus konventionelleren Drieu wendet er sich sachlich und klar gegen eine „Verhätschelung“, die ihm angesichts seiner schillernden und irrlichternden Existenz früh zuteil wurde. Die später erstaunlich relativierte Rolle Friedrich Sieburgs im besetzten Paris benennt Grössel zudem nachdrücklich.
Jean-Paul Sartre war für Grössel ein unumgänglicher Fixpunkt. Es ist brillant, wie er Sartres Umdeutung des kommunistischen Aktivisten Paul Nizan aufdeckt oder seine Definition des „Engagements“ bei dem das L’art pour l’art ins Äußerste treibenden Stéphane Mallarmé nachvollzieht. Wie nebenbei streut Grössel dann doch immer wieder Anmerkungen zu den Erscheinungsformen des aktuellen Literaturbetriebs ein: „Wir brauchten eine fortlaufende Literaturdiskussion, die nicht vom Kalender, sondern von Neugier und Phantasie vorangetrieben wird“, schreibt er 1976. Und in der Süddeutschen Zeitung findet sich in einer Sartre-Besprechung aus dem Jahr 1983 der zukunftsweise Satz: „Könnten die Funken von Sartres kämpferischer Literaturkritik auf die Bundesrepublik überspringen – Autoren und Leser hierzulande hätten aufregende Zeiten vor sich.“
HELMUT BÖTTIGER
Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 542 Seiten, 30 Euro.
Schon, als Patrick Modiano
hierzulande keinen Verlag fand,
schrieb Grössel über seine Bücher
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und Funkenflug
Essays und Kritiken von
Hanns Grössel über Frankreich
Der 2012 im Alter von 80 Jahren gestorbene Hanns Grössel war der Idealtyp des Literaturredakteurs. In seinen drei Jahrzehnten beim Westdeutschen Rundfunk standen die Bücher selbst im Mittelpunkt. Er förderte junge Begabungen, und seine Mitarbeiterliste liest sich wie eine Auswahl derer, deren Texte auch später noch gültig sein würden. Die Kritikerin Sibylle Cramer etwa erinnerte sich daran, dass Grössel sie nach jedem Eingang eines Manuskripts anrief, und danach „folgte ein Gespräch, das den behandelten Gegenstand in die Lebens- und Werkgeschichte des Autors erweiterte und in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang stellte.“
Grössels eigene Kritiken und seine Tätigkeit als Übersetzer, für die er viele Preise erhielt, ergänzten sich. Er arbeitete sich nicht an der Atmosphäre des Tagesgeschäfts ab, sondern glänzte durch Belesenheit und Kenntnis der Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichten. Dieser klassische Bildungsbürger war Spezialist für gleich zwei Sprachen, die französische und die dänische. Das war seiner Biografie geschuldet. Als Sohn eines nach Dänemark versetzten Lehrers verbrachte er dort acht Jahre seiner Jugend, und nachdem er 1953/54 ein halbes Jahr in Paris gelebt hatte, sattelte er in seinem Studium von der Altphilologie auf Romanistik um – nicht zuletzt, um den Spuren zu folgen, die sein Vater im von den Deutschen besetzten Paris Anfang der Vierzigerjahre hinterlassen hatte und von denen er wenig wusste. Das verbindet ihn auf überraschende Weise mit dem Nobelpreisträger Patrick Modiano, der die zwielichtige Rolle seines Vaters im Paris der Kollaboration und Résistance immer wieder zum Ausgangspunkt seiner literarischen Exkursionen machte. Hanns Grössel hat bereits in den Achtzigerjahren, als verschiedene Verlage Modiano erfolglos in Deutschland durchzusetzen versuchten, hellsichtige und kenntnisreiche Besprechungen von dessen Büchern geschrieben.
Der Band mit Grössels Essays und Kritiken zur französischen Literatur, den Norbert Wehr jetzt vorgelegt hat, schlägt einen weiten Bogen und lässt sich als eine zwar subjektive, aber gerade deshalb umso ergiebigere und instruktivere kleine französische Literaturgeschichte lesen. Es beginnt mit Stendhal und endet mit Modiano. Grössel setzt Schwerpunkte, seine Analysen sind heute noch unübertroffen. Mit dem Faschismus kollabierende und ihn ideologisch noch befeuernde Autoren wie Drieu La Rochelle und Céline interessieren Grössel aus persönlichen und zeitgeschichtlichen Gründen besonders. Sehr differenziert und mit langem Atem liest er ihre Texte und zeigt ihre Grenzen auf, gerade bei Céline, dessen Sprachgewalt und formale Errungenschaften er genau erkennt. Und auch bei dem weitaus konventionelleren Drieu wendet er sich sachlich und klar gegen eine „Verhätschelung“, die ihm angesichts seiner schillernden und irrlichternden Existenz früh zuteil wurde. Die später erstaunlich relativierte Rolle Friedrich Sieburgs im besetzten Paris benennt Grössel zudem nachdrücklich.
Jean-Paul Sartre war für Grössel ein unumgänglicher Fixpunkt. Es ist brillant, wie er Sartres Umdeutung des kommunistischen Aktivisten Paul Nizan aufdeckt oder seine Definition des „Engagements“ bei dem das L’art pour l’art ins Äußerste treibenden Stéphane Mallarmé nachvollzieht. Wie nebenbei streut Grössel dann doch immer wieder Anmerkungen zu den Erscheinungsformen des aktuellen Literaturbetriebs ein: „Wir brauchten eine fortlaufende Literaturdiskussion, die nicht vom Kalender, sondern von Neugier und Phantasie vorangetrieben wird“, schreibt er 1976. Und in der Süddeutschen Zeitung findet sich in einer Sartre-Besprechung aus dem Jahr 1983 der zukunftsweise Satz: „Könnten die Funken von Sartres kämpferischer Literaturkritik auf die Bundesrepublik überspringen – Autoren und Leser hierzulande hätten aufregende Zeiten vor sich.“
HELMUT BÖTTIGER
Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 542 Seiten, 30 Euro.
Schon, als Patrick Modiano
hierzulande keinen Verlag fand,
schrieb Grössel über seine Bücher
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2017Takt und Verantwortung
Kostbare Literaturgeschichte: Die Kritiken Hanns Grössels
Warum, um Himmels willen, sollen wir alte Feuilletons lesen? Und das in einer Zeit, da der Literaturmarkt Büchern gerade eine Aufmerksamkeitsspanne von Leipzig bis Frankfurt zugesteht? Was gehen uns Kritiken über französische Romane und Autobiographien an, die zwischen 1966 und 2002 verstreut in Zeitungen erschienen sind? Und zwar aus der Feder eines Rezensenten, den heute - eine kleine exquisite Gemeinde ausgenommen - keiner mehr kennt? Richtig, der Verdacht liegt nahe, dass hier etwas zu entdecken sein könnte. Wiederzufinden auch.
Es war einmal das präzise Lesen. Es war einmal der stilistische Takt. Es war einmal die Achtung vor der Arbeitsleistung und dem Mut, die in jedem hinreichend gelungenen Buch stecken (und in manchem missglückten auch). Es war einmal die Demut, die sich mit Klugheit verband. Es war einmal die Ausnahmeerscheinung des Radioredakteurs und Übersetzers Hanns Grössel.
1932 in Leipzig geboren, zog Grössel siebenjährig mit der Familie nach Kopenhagen, wohin der Vater, Pianist und Musiklehrer - seine Mutter war Geigerin -, versetzt worden war. Nun wuchs der Junge bis zum fünfzehnten Lebensjahr zweisprachig, Deutsch und Dänisch, auf. Die Liebe zum Französischen kam hinzu. In Göttingen studierte Grössel einige Semester Altphilologie, dann Romanistik und Philosophie. Sechs Jahre arbeitete er als Lektor, vor allem beim Rowohlt Verlag; dreißig Jahre war er beim WDR für Literatur zuständig. Er hat an die sechzig Bücher übersetzt, aus dem Dänischen, Französischen, Schwedischen. Seine langjährige Freundin Inger Christensen wie den Vertrauten, den Nobelpreisträger Tomas Tranströmer, lesen wir in seiner deutschen Stimme.
Norbert Wehr, sein Schüler und Kollege beim WDR, schon seit seinen frühen Studienjahren Herausgeber der mittlerweile legendären Zeitschrift "Schreibheft", hat, unterstützt von der Kunststiftung NRW, nun Grössels Feuilletons und Essays gesammelt und ediert. Ein erster Band mit den Texten zur französischen Literatur liegt vor; ein zweiter, zu seinem skandinavischen Kosmos, soll folgen.
Der Band ist chronologisch geordnet nach den Geburtsdaten der Autoren, beginnend im ersten Kapitel, "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", mit Flaubert. Das letzte Kapitel "Im Labyrinth der Welt", beschäftigt sich mit dem Nouveau Roman und seinen Folgen; es schließt mit dem jüngsten französischen Nobelpreisträger Patrick Modiano, dem sich Grössel bereits 1984 das erste Mal widmete. Es gibt ein Kapitel "Außenseiter - Fünf Innenansichten", eine Porträtreihe mit einem Schwerpunkt auf Michel Leiris; ein anderer Hauptteil des Buchs beschäftigt sich mit den Surrealisten, tragend hier das Dreigestirn Breton, Éluard, Soupault. Im Kapitel "Der Mensch, das ungeschützte Tier" lesen wir frühe Texte über den "tödlichen Ernst des Obszönen" bei Georgse Bataille.
Ein Herzstück des Buchs ist sicher das Kapitel "Paris unter der Besatzung", in dem Grössels lebenslange Auseinandersetzung mit der moralisch-literarischen Provokation Louis-Ferdinand Céline Raum findet. Dessen Lebenslinien - Céline floh 1945 nach Dänemark - haben sich mit denen von Grössels Vaters, der im besetzten Paris als Leutnant der Wehrmacht Dienst tat, gekreuzt. Die Fragen nach den Jahren der Besatzung, nach Kollaboration und Résistance müssen, so lässt der Herausgeber Norbert Wehr vermuten, auch Suchbewegungen nach dem Vater und der eigenen Identität gewesen sein.
Grössel sah nicht nur (im Sinne Lukács') die Verantwortung der Literatur. "Genauso groß", schrieb er, "ist die Verantwortung der Kritik, die einen Teil der Literatur darstellt." Das Schreiben über Dichtung vollzog sich als ein Akt des Antwortens auf Augenhöhe mit dem Autor. Als literarischer Übersetzer hatte er den handwerklichen Zugang zur Produktion. So führten seine Kritiken immer auch in die Poetologie, die er wiederum elegant an der Biographie spiegeln konnte.
Bei einer Trauerfeier zitierte Walter van Rossum, der bei ihm gelernt und dann für ihn gearbeitet hatte, einen Satz aus Sartres "Die Wörter", nach dem der Wunsch zu schreiben eine Weigerung zu leben verberge. Er fährt fort: "Hanns Grössel wusste gewiss, was damit gemeint war . . . Leben war nichts Selbstverständliches für ihn. Und er war sich selbst wohl nie ganz selbstverständlich. Er hat sich hinter den Wällen der Literatur eingerichtet und von da seine Ausritte ins Weltgelände organisiert. Er war gewissermaßen von Natur aus allein - ohne je die Aura der Einsamkeit zu verströmen."
Die Sammlung seiner Essays und Kritiken stellt eine kostbare persönliche Literaturgeschichte der französischen Moderne dar, geschrieben wie Erzählungen. Es ist eine Lust, sie zu lesen. Und immer bleibt interessant, was einen solchen Mann, der an eine Romanfigur erinnern darf, interessiert hat.
ANGELIKA OVERATH
Hanns Grössel: "Im
Labyrinth der Welt".
Essays und Kritiken zur
französischen Literatur.
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 543 S., br., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kostbare Literaturgeschichte: Die Kritiken Hanns Grössels
Warum, um Himmels willen, sollen wir alte Feuilletons lesen? Und das in einer Zeit, da der Literaturmarkt Büchern gerade eine Aufmerksamkeitsspanne von Leipzig bis Frankfurt zugesteht? Was gehen uns Kritiken über französische Romane und Autobiographien an, die zwischen 1966 und 2002 verstreut in Zeitungen erschienen sind? Und zwar aus der Feder eines Rezensenten, den heute - eine kleine exquisite Gemeinde ausgenommen - keiner mehr kennt? Richtig, der Verdacht liegt nahe, dass hier etwas zu entdecken sein könnte. Wiederzufinden auch.
Es war einmal das präzise Lesen. Es war einmal der stilistische Takt. Es war einmal die Achtung vor der Arbeitsleistung und dem Mut, die in jedem hinreichend gelungenen Buch stecken (und in manchem missglückten auch). Es war einmal die Demut, die sich mit Klugheit verband. Es war einmal die Ausnahmeerscheinung des Radioredakteurs und Übersetzers Hanns Grössel.
1932 in Leipzig geboren, zog Grössel siebenjährig mit der Familie nach Kopenhagen, wohin der Vater, Pianist und Musiklehrer - seine Mutter war Geigerin -, versetzt worden war. Nun wuchs der Junge bis zum fünfzehnten Lebensjahr zweisprachig, Deutsch und Dänisch, auf. Die Liebe zum Französischen kam hinzu. In Göttingen studierte Grössel einige Semester Altphilologie, dann Romanistik und Philosophie. Sechs Jahre arbeitete er als Lektor, vor allem beim Rowohlt Verlag; dreißig Jahre war er beim WDR für Literatur zuständig. Er hat an die sechzig Bücher übersetzt, aus dem Dänischen, Französischen, Schwedischen. Seine langjährige Freundin Inger Christensen wie den Vertrauten, den Nobelpreisträger Tomas Tranströmer, lesen wir in seiner deutschen Stimme.
Norbert Wehr, sein Schüler und Kollege beim WDR, schon seit seinen frühen Studienjahren Herausgeber der mittlerweile legendären Zeitschrift "Schreibheft", hat, unterstützt von der Kunststiftung NRW, nun Grössels Feuilletons und Essays gesammelt und ediert. Ein erster Band mit den Texten zur französischen Literatur liegt vor; ein zweiter, zu seinem skandinavischen Kosmos, soll folgen.
Der Band ist chronologisch geordnet nach den Geburtsdaten der Autoren, beginnend im ersten Kapitel, "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", mit Flaubert. Das letzte Kapitel "Im Labyrinth der Welt", beschäftigt sich mit dem Nouveau Roman und seinen Folgen; es schließt mit dem jüngsten französischen Nobelpreisträger Patrick Modiano, dem sich Grössel bereits 1984 das erste Mal widmete. Es gibt ein Kapitel "Außenseiter - Fünf Innenansichten", eine Porträtreihe mit einem Schwerpunkt auf Michel Leiris; ein anderer Hauptteil des Buchs beschäftigt sich mit den Surrealisten, tragend hier das Dreigestirn Breton, Éluard, Soupault. Im Kapitel "Der Mensch, das ungeschützte Tier" lesen wir frühe Texte über den "tödlichen Ernst des Obszönen" bei Georgse Bataille.
Ein Herzstück des Buchs ist sicher das Kapitel "Paris unter der Besatzung", in dem Grössels lebenslange Auseinandersetzung mit der moralisch-literarischen Provokation Louis-Ferdinand Céline Raum findet. Dessen Lebenslinien - Céline floh 1945 nach Dänemark - haben sich mit denen von Grössels Vaters, der im besetzten Paris als Leutnant der Wehrmacht Dienst tat, gekreuzt. Die Fragen nach den Jahren der Besatzung, nach Kollaboration und Résistance müssen, so lässt der Herausgeber Norbert Wehr vermuten, auch Suchbewegungen nach dem Vater und der eigenen Identität gewesen sein.
Grössel sah nicht nur (im Sinne Lukács') die Verantwortung der Literatur. "Genauso groß", schrieb er, "ist die Verantwortung der Kritik, die einen Teil der Literatur darstellt." Das Schreiben über Dichtung vollzog sich als ein Akt des Antwortens auf Augenhöhe mit dem Autor. Als literarischer Übersetzer hatte er den handwerklichen Zugang zur Produktion. So führten seine Kritiken immer auch in die Poetologie, die er wiederum elegant an der Biographie spiegeln konnte.
Bei einer Trauerfeier zitierte Walter van Rossum, der bei ihm gelernt und dann für ihn gearbeitet hatte, einen Satz aus Sartres "Die Wörter", nach dem der Wunsch zu schreiben eine Weigerung zu leben verberge. Er fährt fort: "Hanns Grössel wusste gewiss, was damit gemeint war . . . Leben war nichts Selbstverständliches für ihn. Und er war sich selbst wohl nie ganz selbstverständlich. Er hat sich hinter den Wällen der Literatur eingerichtet und von da seine Ausritte ins Weltgelände organisiert. Er war gewissermaßen von Natur aus allein - ohne je die Aura der Einsamkeit zu verströmen."
Die Sammlung seiner Essays und Kritiken stellt eine kostbare persönliche Literaturgeschichte der französischen Moderne dar, geschrieben wie Erzählungen. Es ist eine Lust, sie zu lesen. Und immer bleibt interessant, was einen solchen Mann, der an eine Romanfigur erinnern darf, interessiert hat.
ANGELIKA OVERATH
Hanns Grössel: "Im
Labyrinth der Welt".
Essays und Kritiken zur
französischen Literatur.
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 543 S., br., 30,- [Euro].
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