Mit Sigmund Freud von Südtirol bis Sizilien. Sigmund Freud war süchtig nach Italien. Hier geriet er geradezu in Verzückung: Er mochte den Duft der Zitronenbäume, die Hügellandschaften der Toskana und die prächtigen Barockpaläste. Ein Reisetagebuch, das er während seiner häufigen Besuche geführt haben soll, ist verschollen. Der Journalist Jörg-Dieter Kogel hat sich, unter anderem ausgestattet mit den Reisebriefen des Psychoanalytikers, auf dessen Spuren begeben. Kenntnisreich wie amüsant erzählt er von Freuds Reiselust und Reiseangst, von Lieblingsplätzen, Glücksmomenten und fulminanten Entdeckungen. Der ewige Zauber Italiens entfaltet einen ganz neuen Glanz, sich spiegelnd in den Augen des vielleicht glühendsten Liebhabers unter allen Reisenden, die seit Goethe in den Süden pilgerten. »Soviel an Farbenglanz, Wohlgerüchen, Aussichten - und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt.« Sigmund Freud »Jörg-Dieter Kogel beschreibt hinreißend den Sigmund Freud, der den Himmel des Südens über sich liebt und bei jeder Gelegenheit im Meer badet ... All das ist mit gleich tiefer Sympathie für seinen Hauptdarsteller geschildert wie für das 'Land der Träume' selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.« Rose-Maria Gropp, F.A.Z.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2019Die Kirche ist schön wie eine junge Witwe
Nach dem Süden ging sein Verlangen: Jörg-Dieter Kogel folgt Sigmund Freud auf dessen Reisen nach Italien
Sigmund Freud und Italien, das ist eine Liebesgeschichte. Einmal abgesehen von Neapel: "Erste Enttäuschung. Vesuv raucht nicht", schreibt er im August 1902 an die Seinen in Wien, und dann vom "Hundenest u Affenkäfig, in dem es nicht zu leben war". Kaum in Sorrent, heißt es aber: "Endlich hier ist das Schlaraffenland." Jetzt ist er angekommen; denn nichts ist ihm so erfrischend für Leib und Geist wie seine Reisen nach Italien, in sein "gelobtes Land". Dabei war er nicht gern allein unterwegs, "Alleinsein ist sehr komisch" steht im September 1898 auf einer Postkarte an seine Frau Martha aus Brescia. Er braucht die Gesellschaft von jemandem, den er schätzt, mit dem er seine Begeisterung und sein Vergnügen teilen kann, der bei seinem enormen Besichtigungspensum mithält.
Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Alexander ist so ein Gefährte, der zudem als ein führender Verkehrs- und Bahnexperte der Donaumonarchie ganz pragmatisch organisieren konnte. Sandor Ferenczi, sein Schüler aus Budapest, ist ein weiterer, der ihn, allzeit interessiert und getreulich, begleitet. Da ist Minna Bernays, die jüngere Schwester seiner Frau, die mit den Freuds im Wiener Haushalt lebt. Die Art der Beziehung zu Minna ist bis heute ungeklärt, was immer es bedeuten mag, dass er im Sommer 1898 in das Gästebuch eines Hotels in Maloja für ein Doppelzimmer mit Minna "Dr. Sigm. Freud u Frau" eingetragen hat. Endlich ist da seine jüngste Tochter Anna, die ihn, auch nach seiner verheerenden Krebsdiagnose 1923, noch einmal nach Rom begleitet.
In Jörg-Dieter Kogels so unterhaltsamem wie informativem Buch über Sigmund Freud in Italien erfährt man all dies - und noch viel mehr: über die Hintergründe der Fahrten und über ihre Spuren in den Schriften des Erfinders der Psychoanalyse, der da glatt zum Hedonisten mutiert. Denn Kogel folgt Freuds italienischen Itinerarien zwischen 1895 und 1923, er macht die Leser auf Schritt und Tritt zu Augenzeugen, man wähnt sich gleichsam auf Freuds Fährte. Ständig sind in den erzählerischen Text Zitate aus Freuds Korrespondenz eingeflochten, diesen unermüdlichen Botschaften über die unmittelbaren Eindrücke an die Familie und die Vertrauten. Alle Stellen sind belegt in einem Anhang, der den Lesefluss, den Spaß an der Lektüre nicht stört.
Der Autor kann dabei auf die Edition der Reisebriefe Freuds von 1895 bis 1923 zurückgreifen, die Christfried Tögel 2002 unter dem Titel "Unser Herz zeigt nach dem Süden" veröffentlicht hat (ebenfalls im Aufbau Verlag). Tögels sorgfältige Ausgabe bildet die Grundlage. Man begreift, dass der Süden für Freud die Gegenwelt zum heimischen Wien ist, wo er mit äußerster Disziplin seinen Arbeitsalltag strukturiert. Entsprechend war Freud, in schöner bürgerlicher Tradition, auf die Reisen penibel vorbereitet: Natürlich mit Goethes "Italienischer Reise" und mit Jacob Burckhardts "Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens"; ständiger Ratgeber ist ihm der "Baedeker". Denn Freud verfolgt auch ein synästhetisches Genussprogramm, zu dem die empfohlenen Hotels gehören wie beste Speisen und bester Wein.
En passant räumt Kogel mit der zählebigen Idee des armen Mannes Freud auf. Gemäß Tögels Recherchen verfügte er seit Mitte 1895, als er mit den Italien-Reisen anfing, über Jahreseinkünfte von 25 000 Gulden, umgerechnet auf heute dürften das rund 185 000 Euro sein. Das amtliche Existenzminimum lag damals bei 630 Gulden. (Anzumerken ist, dass der Gulden in Österreich noch bis 1900 im Umlauf war, obwohl ihn seit 1892 die Krone ersetzte.) Allerdings hatte Freud in der Berggasse 19 in Wien einen voluminösen Hausstand zu versorgen, und niemals vergessen hat er seine ärmliche Kindheit im mährischen Freiberg. Durchaus ironisch, zugleich erhellend für Freuds geschliffenen Stil, klingt, was er seiner Frau Martha 1910 aus dem luxuriösen Hotel in Palermo, das seinen Bedürfnissen sehr entgegenkommt, schreibt: "Es thut mir schrecklich leid, daß ich Euch das nicht verschaffen kann. Um das alles zu 7., zu 5 oder auch nur zu 3 . . . zu genießen, hätte ich nicht Psychiater u angeblich Gründer einer neuen Richtung in der Psychologie, sondern Fabrikant von irgend etwas allgemein Brauchbarem, wie Klosettpapier, Zündhölzchen, Schuhknöpfen werden müssen." Allerdings teilte Martha seine Reiselust ohnehin nicht, sie machte sie unpässlich, sondern genoss die gemeinsamen Familienurlaube in gewohnten Gefilden, von denen aus Freud dann aufbrach.
Hier können natürlich nicht all die jubilatorischen Mitteilungen zitiert werden, aus Venedig, aus Mailand oder - einsamer Höhepunkt, siebenmal weilt Freud dort - aus Rom. Die muss man schon selbst lesen in Kogels Buch: Freud schwelgt in Augenfreude und Altertümern, inhaliert regelrecht Düfte und Genüsse, findet sich "fesch" und verjüngt. Das kann man mitgenießen - und will am liebsten gleich hinterherfahren. Als er 1902 mit seinem Bruder Alexander in Venedig ist, war dort gerade, mit Ansage, der Campanile kollabiert. Freud beguckt sich das vom Caffè Quadri auf dem Markusplatz aus, kauft eine Postkarte des Trümmerhaufens und kommentiert an seine Schwägerin Minna: "Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl." Und "Venedig war unglaublich schön", lautet sein Fazit.
Eingefügt hat Kogel immer wieder Exkurse, zurück zu Goethe oder Nietzsche, auch nach vorn, wie einmal zu Ingeborg Bachmann, die in den sechziger Jahren dasselbe Restaurant "La Rosetta" in Rom wie schon Freud kannte. Überhaupt verfügt der Autor über ein stupendes Wissen, das er nie ausspielt, sondern einfach mitschwingen lässt. Da ist der Moses des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, den Freud immer wieder besucht und der ihn zu seiner kühnen Studie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" animiert, die er in seinem Todesjahr 1939 aus dem Londoner Exil veröffentlichen wird. Da ist Pompeji, das Freud fasziniert haben muss, der nachgerade süchtig antike Artefakte sammelte - seine "alten und dreckigen Götter" hat er sie einmal genannt und manche von ihnen sogar in den jährlichen Familienurlaub mitgeschleppt. Die berühmte Metapher von der "Archäologie der Seele" glänzt unter Italiens Sonne besonders hell.
Jörg-Dieter Kogel beschreibt hinreißend den Sigmund Freud, der den Himmel des Südens über sich liebt und bei jeder Gelegenheit im Meer badet; der immer an die Seinen denkt: Ohne Mitbringsel, er nennt sie "Schnokes", kommt er nie heim. All das ist mit gleich tiefer Sympathie für seinen Hauptdarsteller geschildert wie für das "Land der Träume" selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.
ROSE-MARIA GROPP
Jörg-Dieter Kogel: "Im Land der Träume". Mit Sigmund Freud in
Italien.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 252 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach dem Süden ging sein Verlangen: Jörg-Dieter Kogel folgt Sigmund Freud auf dessen Reisen nach Italien
Sigmund Freud und Italien, das ist eine Liebesgeschichte. Einmal abgesehen von Neapel: "Erste Enttäuschung. Vesuv raucht nicht", schreibt er im August 1902 an die Seinen in Wien, und dann vom "Hundenest u Affenkäfig, in dem es nicht zu leben war". Kaum in Sorrent, heißt es aber: "Endlich hier ist das Schlaraffenland." Jetzt ist er angekommen; denn nichts ist ihm so erfrischend für Leib und Geist wie seine Reisen nach Italien, in sein "gelobtes Land". Dabei war er nicht gern allein unterwegs, "Alleinsein ist sehr komisch" steht im September 1898 auf einer Postkarte an seine Frau Martha aus Brescia. Er braucht die Gesellschaft von jemandem, den er schätzt, mit dem er seine Begeisterung und sein Vergnügen teilen kann, der bei seinem enormen Besichtigungspensum mithält.
Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Alexander ist so ein Gefährte, der zudem als ein führender Verkehrs- und Bahnexperte der Donaumonarchie ganz pragmatisch organisieren konnte. Sandor Ferenczi, sein Schüler aus Budapest, ist ein weiterer, der ihn, allzeit interessiert und getreulich, begleitet. Da ist Minna Bernays, die jüngere Schwester seiner Frau, die mit den Freuds im Wiener Haushalt lebt. Die Art der Beziehung zu Minna ist bis heute ungeklärt, was immer es bedeuten mag, dass er im Sommer 1898 in das Gästebuch eines Hotels in Maloja für ein Doppelzimmer mit Minna "Dr. Sigm. Freud u Frau" eingetragen hat. Endlich ist da seine jüngste Tochter Anna, die ihn, auch nach seiner verheerenden Krebsdiagnose 1923, noch einmal nach Rom begleitet.
In Jörg-Dieter Kogels so unterhaltsamem wie informativem Buch über Sigmund Freud in Italien erfährt man all dies - und noch viel mehr: über die Hintergründe der Fahrten und über ihre Spuren in den Schriften des Erfinders der Psychoanalyse, der da glatt zum Hedonisten mutiert. Denn Kogel folgt Freuds italienischen Itinerarien zwischen 1895 und 1923, er macht die Leser auf Schritt und Tritt zu Augenzeugen, man wähnt sich gleichsam auf Freuds Fährte. Ständig sind in den erzählerischen Text Zitate aus Freuds Korrespondenz eingeflochten, diesen unermüdlichen Botschaften über die unmittelbaren Eindrücke an die Familie und die Vertrauten. Alle Stellen sind belegt in einem Anhang, der den Lesefluss, den Spaß an der Lektüre nicht stört.
Der Autor kann dabei auf die Edition der Reisebriefe Freuds von 1895 bis 1923 zurückgreifen, die Christfried Tögel 2002 unter dem Titel "Unser Herz zeigt nach dem Süden" veröffentlicht hat (ebenfalls im Aufbau Verlag). Tögels sorgfältige Ausgabe bildet die Grundlage. Man begreift, dass der Süden für Freud die Gegenwelt zum heimischen Wien ist, wo er mit äußerster Disziplin seinen Arbeitsalltag strukturiert. Entsprechend war Freud, in schöner bürgerlicher Tradition, auf die Reisen penibel vorbereitet: Natürlich mit Goethes "Italienischer Reise" und mit Jacob Burckhardts "Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens"; ständiger Ratgeber ist ihm der "Baedeker". Denn Freud verfolgt auch ein synästhetisches Genussprogramm, zu dem die empfohlenen Hotels gehören wie beste Speisen und bester Wein.
En passant räumt Kogel mit der zählebigen Idee des armen Mannes Freud auf. Gemäß Tögels Recherchen verfügte er seit Mitte 1895, als er mit den Italien-Reisen anfing, über Jahreseinkünfte von 25 000 Gulden, umgerechnet auf heute dürften das rund 185 000 Euro sein. Das amtliche Existenzminimum lag damals bei 630 Gulden. (Anzumerken ist, dass der Gulden in Österreich noch bis 1900 im Umlauf war, obwohl ihn seit 1892 die Krone ersetzte.) Allerdings hatte Freud in der Berggasse 19 in Wien einen voluminösen Hausstand zu versorgen, und niemals vergessen hat er seine ärmliche Kindheit im mährischen Freiberg. Durchaus ironisch, zugleich erhellend für Freuds geschliffenen Stil, klingt, was er seiner Frau Martha 1910 aus dem luxuriösen Hotel in Palermo, das seinen Bedürfnissen sehr entgegenkommt, schreibt: "Es thut mir schrecklich leid, daß ich Euch das nicht verschaffen kann. Um das alles zu 7., zu 5 oder auch nur zu 3 . . . zu genießen, hätte ich nicht Psychiater u angeblich Gründer einer neuen Richtung in der Psychologie, sondern Fabrikant von irgend etwas allgemein Brauchbarem, wie Klosettpapier, Zündhölzchen, Schuhknöpfen werden müssen." Allerdings teilte Martha seine Reiselust ohnehin nicht, sie machte sie unpässlich, sondern genoss die gemeinsamen Familienurlaube in gewohnten Gefilden, von denen aus Freud dann aufbrach.
Hier können natürlich nicht all die jubilatorischen Mitteilungen zitiert werden, aus Venedig, aus Mailand oder - einsamer Höhepunkt, siebenmal weilt Freud dort - aus Rom. Die muss man schon selbst lesen in Kogels Buch: Freud schwelgt in Augenfreude und Altertümern, inhaliert regelrecht Düfte und Genüsse, findet sich "fesch" und verjüngt. Das kann man mitgenießen - und will am liebsten gleich hinterherfahren. Als er 1902 mit seinem Bruder Alexander in Venedig ist, war dort gerade, mit Ansage, der Campanile kollabiert. Freud beguckt sich das vom Caffè Quadri auf dem Markusplatz aus, kauft eine Postkarte des Trümmerhaufens und kommentiert an seine Schwägerin Minna: "Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl." Und "Venedig war unglaublich schön", lautet sein Fazit.
Eingefügt hat Kogel immer wieder Exkurse, zurück zu Goethe oder Nietzsche, auch nach vorn, wie einmal zu Ingeborg Bachmann, die in den sechziger Jahren dasselbe Restaurant "La Rosetta" in Rom wie schon Freud kannte. Überhaupt verfügt der Autor über ein stupendes Wissen, das er nie ausspielt, sondern einfach mitschwingen lässt. Da ist der Moses des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, den Freud immer wieder besucht und der ihn zu seiner kühnen Studie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" animiert, die er in seinem Todesjahr 1939 aus dem Londoner Exil veröffentlichen wird. Da ist Pompeji, das Freud fasziniert haben muss, der nachgerade süchtig antike Artefakte sammelte - seine "alten und dreckigen Götter" hat er sie einmal genannt und manche von ihnen sogar in den jährlichen Familienurlaub mitgeschleppt. Die berühmte Metapher von der "Archäologie der Seele" glänzt unter Italiens Sonne besonders hell.
Jörg-Dieter Kogel beschreibt hinreißend den Sigmund Freud, der den Himmel des Südens über sich liebt und bei jeder Gelegenheit im Meer badet; der immer an die Seinen denkt: Ohne Mitbringsel, er nennt sie "Schnokes", kommt er nie heim. All das ist mit gleich tiefer Sympathie für seinen Hauptdarsteller geschildert wie für das "Land der Träume" selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.
ROSE-MARIA GROPP
Jörg-Dieter Kogel: "Im Land der Träume". Mit Sigmund Freud in
Italien.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 252 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Alles ist mit einer tiefen Sympathie für den Hauptdarsteller geschildert wie für das "Land der Träume" selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190719
Die Kirche ist schön wie eine junge Witwe
Nach dem Süden ging sein Verlangen: Jörg-Dieter Kogel folgt Sigmund Freud auf dessen Reisen nach Italien
Sigmund Freud und Italien, das ist eine Liebesgeschichte. Einmal abgesehen von Neapel: "Erste Enttäuschung. Vesuv raucht nicht", schreibt er im August 1902 an die Seinen in Wien, und dann vom "Hundenest u Affenkäfig, in dem es nicht zu leben war". Kaum in Sorrent, heißt es aber: "Endlich hier ist das Schlaraffenland." Jetzt ist er angekommen; denn nichts ist ihm so erfrischend für Leib und Geist wie seine Reisen nach Italien, in sein "gelobtes Land". Dabei war er nicht gern allein unterwegs, "Alleinsein ist sehr komisch" steht im September 1898 auf einer Postkarte an seine Frau Martha aus Brescia. Er braucht die Gesellschaft von jemandem, den er schätzt, mit dem er seine Begeisterung und sein Vergnügen teilen kann, der bei seinem enormen Besichtigungspensum mithält.
Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Alexander ist so ein Gefährte, der zudem als ein führender Verkehrs- und Bahnexperte der Donaumonarchie ganz pragmatisch organisieren konnte. Sandor Ferenczi, sein Schüler aus Budapest, ist ein weiterer, der ihn, allzeit interessiert und getreulich, begleitet. Da ist Minna Bernays, die jüngere Schwester seiner Frau, die mit den Freuds im Wiener Haushalt lebt. Die Art der Beziehung zu Minna ist bis heute ungeklärt, was immer es bedeuten mag, dass er im Sommer 1898 in das Gästebuch eines Hotels in Maloja für ein Doppelzimmer mit Minna "Dr. Sigm. Freud u Frau" eingetragen hat. Endlich ist da seine jüngste Tochter Anna, die ihn, auch nach seiner verheerenden Krebsdiagnose 1923, noch einmal nach Rom begleitet.
In Jörg-Dieter Kogels so unterhaltsamem wie informativem Buch über Sigmund Freud in Italien erfährt man all dies - und noch viel mehr: über die Hintergründe der Fahrten und über ihre Spuren in den Schriften des Erfinders der Psychoanalyse, der da glatt zum Hedonisten mutiert. Denn Kogel folgt Freuds italienischen Itinerarien zwischen 1895 und 1923, er macht die Leser auf Schritt und Tritt zu Augenzeugen, man wähnt sich gleichsam auf Freuds Fährte. Ständig sind in den erzählerischen Text Zitate aus Freuds Korrespondenz eingeflochten, diesen unermüdlichen Botschaften über die unmittelbaren Eindrücke an die Familie und die Vertrauten. Alle Stellen sind belegt in einem Anhang, der den Lesefluss, den Spaß an der Lektüre nicht stört.
Der Autor kann dabei auf die Edition der Reisebriefe Freuds von 1895 bis 1923 zurückgreifen, die Christfried Tögel 2002 unter dem Titel "Unser Herz zeigt nach dem Süden" veröffentlicht hat (ebenfalls im Aufbau Verlag). Tögels sorgfältige Ausgabe bildet die Grundlage. Man begreift, dass der Süden für Freud die Gegenwelt zum heimischen Wien ist, wo er mit äußerster Disziplin seinen Arbeitsalltag strukturiert. Entsprechend war Freud, in schöner bürgerlicher Tradition, auf die Reisen penibel vorbereitet: Natürlich mit Goethes "Italienischer Reise" und mit Jacob Burckhardts "Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens"; ständiger Ratgeber ist ihm der "Baedeker". Denn Freud verfolgt auch ein synästhetisches Genussprogramm, zu dem die empfohlenen Hotels gehören wie beste Speisen und bester Wein.
En passant räumt Kogel mit der zählebigen Idee des armen Mannes Freud auf. Gemäß Tögels Recherchen verfügte er seit Mitte 1895, als er mit den Italien-Reisen anfing, über Jahreseinkünfte von 25 000 Gulden, umgerechnet auf heute dürften das rund 185 000 Euro sein. Das amtliche Existenzminimum lag damals bei 630 Gulden. (Anzumerken ist, dass der Gulden in Österreich noch bis 1900 im Umlauf war, obwohl ihn seit 1892 die Krone ersetzte.) Allerdings hatte Freud in der Berggasse 19 in Wien einen voluminösen Hausstand zu versorgen, und niemals vergessen hat er seine ärmliche Kindheit im mährischen Freiberg. Durchaus ironisch, zugleich erhellend für Freuds geschliffenen Stil, klingt, was er seiner Frau Martha 1910 aus dem luxuriösen Hotel in Palermo, das seinen Bedürfnissen sehr entgegenkommt, schreibt: "Es thut mir schrecklich leid, daß ich Euch das nicht verschaffen kann. Um das alles zu 7., zu 5 oder auch nur zu 3 . . . zu genießen, hätte ich nicht Psychiater u angeblich Gründer einer neuen Richtung in der Psychologie, sondern Fabrikant von irgend etwas allgemein Brauchbarem, wie Klosettpapier, Zündhölzchen, Schuhknöpfen werden müssen." Allerdings teilte Martha seine Reiselust ohnehin nicht, sie machte sie unpässlich, sondern genoss die gemeinsamen Familienurlaube in gewohnten Gefilden, von denen aus Freud dann aufbrach.
Hier können natürlich nicht all die jubilatorischen Mitteilungen zitiert werden, aus Venedig, aus Mailand oder - einsamer Höhepunkt, siebenmal weilt Freud dort - aus Rom. Die muss man schon selbst lesen in Kogels Buch: Freud schwelgt in Augenfreude und Altertümern, inhaliert regelrecht Düfte und Genüsse, findet sich "fesch" und verjüngt. Das kann man mitgenießen - und will am liebsten gleich hinterherfahren. Als er 1902 mit seinem Bruder Alexander in Venedig ist, war dort gerade, mit Ansage, der Campanile kollabiert. Freud beguckt sich das vom Caffè Quadri auf dem Markusplatz aus, kauft eine Postkarte des Trümmerhaufens und kommentiert an seine Schwägerin Minna: "Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl." Und "Venedig war unglaublich schön", lautet sein Fazit.
Eingefügt hat Kogel immer wieder Exkurse, zurück zu Goethe oder Nietzsche, auch nach vorn, wie einmal zu Ingeborg Bachmann, die in den sechziger Jahren dasselbe Restaurant "La Rosetta" in Rom wie schon Freud kannte. Überhaupt verfügt der Autor über ein stupendes Wissen, das er nie ausspielt, sondern einfach mitschwingen lässt. Da ist der Moses des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, den Freud immer wieder besucht und der ihn zu seiner kühnen Studie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" animiert, die er in seinem Todesjahr 1939 aus dem Londoner Exil veröffentlichen wird. Da ist Pompeji, das Freud fasziniert haben muss, der nachgerade süchtig antike Artefakte sammelte - seine "alten und dreckigen Götter" hat er sie einmal genannt und manche von ihnen sogar in den jährlichen Familienurlaub mitgeschleppt. Die berühmte Metapher von der "Archäologie der Seele" glänzt unter Italiens Sonne besonders hell.
Jörg-Dieter Kogel beschreibt hinreißend den Sigmund Freud, der den Himmel des Südens über sich liebt und bei jeder Gelegenheit im Meer badet; der immer an die Seinen denkt: Ohne Mitbringsel, er nennt sie "Schnokes", kommt er nie heim. All das ist mit gleich tiefer Sympathie für seinen Hauptdarsteller geschildert wie für das "Land der Träume" selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.
ROSE-MARIA GROPP
Jörg-Dieter Kogel: "Im Land der Träume". Mit Sigmund Freud in
Italien.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 252 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach dem Süden ging sein Verlangen: Jörg-Dieter Kogel folgt Sigmund Freud auf dessen Reisen nach Italien
Sigmund Freud und Italien, das ist eine Liebesgeschichte. Einmal abgesehen von Neapel: "Erste Enttäuschung. Vesuv raucht nicht", schreibt er im August 1902 an die Seinen in Wien, und dann vom "Hundenest u Affenkäfig, in dem es nicht zu leben war". Kaum in Sorrent, heißt es aber: "Endlich hier ist das Schlaraffenland." Jetzt ist er angekommen; denn nichts ist ihm so erfrischend für Leib und Geist wie seine Reisen nach Italien, in sein "gelobtes Land". Dabei war er nicht gern allein unterwegs, "Alleinsein ist sehr komisch" steht im September 1898 auf einer Postkarte an seine Frau Martha aus Brescia. Er braucht die Gesellschaft von jemandem, den er schätzt, mit dem er seine Begeisterung und sein Vergnügen teilen kann, der bei seinem enormen Besichtigungspensum mithält.
Sein zehn Jahre jüngerer Bruder Alexander ist so ein Gefährte, der zudem als ein führender Verkehrs- und Bahnexperte der Donaumonarchie ganz pragmatisch organisieren konnte. Sandor Ferenczi, sein Schüler aus Budapest, ist ein weiterer, der ihn, allzeit interessiert und getreulich, begleitet. Da ist Minna Bernays, die jüngere Schwester seiner Frau, die mit den Freuds im Wiener Haushalt lebt. Die Art der Beziehung zu Minna ist bis heute ungeklärt, was immer es bedeuten mag, dass er im Sommer 1898 in das Gästebuch eines Hotels in Maloja für ein Doppelzimmer mit Minna "Dr. Sigm. Freud u Frau" eingetragen hat. Endlich ist da seine jüngste Tochter Anna, die ihn, auch nach seiner verheerenden Krebsdiagnose 1923, noch einmal nach Rom begleitet.
In Jörg-Dieter Kogels so unterhaltsamem wie informativem Buch über Sigmund Freud in Italien erfährt man all dies - und noch viel mehr: über die Hintergründe der Fahrten und über ihre Spuren in den Schriften des Erfinders der Psychoanalyse, der da glatt zum Hedonisten mutiert. Denn Kogel folgt Freuds italienischen Itinerarien zwischen 1895 und 1923, er macht die Leser auf Schritt und Tritt zu Augenzeugen, man wähnt sich gleichsam auf Freuds Fährte. Ständig sind in den erzählerischen Text Zitate aus Freuds Korrespondenz eingeflochten, diesen unermüdlichen Botschaften über die unmittelbaren Eindrücke an die Familie und die Vertrauten. Alle Stellen sind belegt in einem Anhang, der den Lesefluss, den Spaß an der Lektüre nicht stört.
Der Autor kann dabei auf die Edition der Reisebriefe Freuds von 1895 bis 1923 zurückgreifen, die Christfried Tögel 2002 unter dem Titel "Unser Herz zeigt nach dem Süden" veröffentlicht hat (ebenfalls im Aufbau Verlag). Tögels sorgfältige Ausgabe bildet die Grundlage. Man begreift, dass der Süden für Freud die Gegenwelt zum heimischen Wien ist, wo er mit äußerster Disziplin seinen Arbeitsalltag strukturiert. Entsprechend war Freud, in schöner bürgerlicher Tradition, auf die Reisen penibel vorbereitet: Natürlich mit Goethes "Italienischer Reise" und mit Jacob Burckhardts "Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens"; ständiger Ratgeber ist ihm der "Baedeker". Denn Freud verfolgt auch ein synästhetisches Genussprogramm, zu dem die empfohlenen Hotels gehören wie beste Speisen und bester Wein.
En passant räumt Kogel mit der zählebigen Idee des armen Mannes Freud auf. Gemäß Tögels Recherchen verfügte er seit Mitte 1895, als er mit den Italien-Reisen anfing, über Jahreseinkünfte von 25 000 Gulden, umgerechnet auf heute dürften das rund 185 000 Euro sein. Das amtliche Existenzminimum lag damals bei 630 Gulden. (Anzumerken ist, dass der Gulden in Österreich noch bis 1900 im Umlauf war, obwohl ihn seit 1892 die Krone ersetzte.) Allerdings hatte Freud in der Berggasse 19 in Wien einen voluminösen Hausstand zu versorgen, und niemals vergessen hat er seine ärmliche Kindheit im mährischen Freiberg. Durchaus ironisch, zugleich erhellend für Freuds geschliffenen Stil, klingt, was er seiner Frau Martha 1910 aus dem luxuriösen Hotel in Palermo, das seinen Bedürfnissen sehr entgegenkommt, schreibt: "Es thut mir schrecklich leid, daß ich Euch das nicht verschaffen kann. Um das alles zu 7., zu 5 oder auch nur zu 3 . . . zu genießen, hätte ich nicht Psychiater u angeblich Gründer einer neuen Richtung in der Psychologie, sondern Fabrikant von irgend etwas allgemein Brauchbarem, wie Klosettpapier, Zündhölzchen, Schuhknöpfen werden müssen." Allerdings teilte Martha seine Reiselust ohnehin nicht, sie machte sie unpässlich, sondern genoss die gemeinsamen Familienurlaube in gewohnten Gefilden, von denen aus Freud dann aufbrach.
Hier können natürlich nicht all die jubilatorischen Mitteilungen zitiert werden, aus Venedig, aus Mailand oder - einsamer Höhepunkt, siebenmal weilt Freud dort - aus Rom. Die muss man schon selbst lesen in Kogels Buch: Freud schwelgt in Augenfreude und Altertümern, inhaliert regelrecht Düfte und Genüsse, findet sich "fesch" und verjüngt. Das kann man mitgenießen - und will am liebsten gleich hinterherfahren. Als er 1902 mit seinem Bruder Alexander in Venedig ist, war dort gerade, mit Ansage, der Campanile kollabiert. Freud beguckt sich das vom Caffè Quadri auf dem Markusplatz aus, kauft eine Postkarte des Trümmerhaufens und kommentiert an seine Schwägerin Minna: "Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl." Und "Venedig war unglaublich schön", lautet sein Fazit.
Eingefügt hat Kogel immer wieder Exkurse, zurück zu Goethe oder Nietzsche, auch nach vorn, wie einmal zu Ingeborg Bachmann, die in den sechziger Jahren dasselbe Restaurant "La Rosetta" in Rom wie schon Freud kannte. Überhaupt verfügt der Autor über ein stupendes Wissen, das er nie ausspielt, sondern einfach mitschwingen lässt. Da ist der Moses des Michelangelo in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli, den Freud immer wieder besucht und der ihn zu seiner kühnen Studie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" animiert, die er in seinem Todesjahr 1939 aus dem Londoner Exil veröffentlichen wird. Da ist Pompeji, das Freud fasziniert haben muss, der nachgerade süchtig antike Artefakte sammelte - seine "alten und dreckigen Götter" hat er sie einmal genannt und manche von ihnen sogar in den jährlichen Familienurlaub mitgeschleppt. Die berühmte Metapher von der "Archäologie der Seele" glänzt unter Italiens Sonne besonders hell.
Jörg-Dieter Kogel beschreibt hinreißend den Sigmund Freud, der den Himmel des Südens über sich liebt und bei jeder Gelegenheit im Meer badet; der immer an die Seinen denkt: Ohne Mitbringsel, er nennt sie "Schnokes", kommt er nie heim. All das ist mit gleich tiefer Sympathie für seinen Hauptdarsteller geschildert wie für das "Land der Träume" selbst. Charmanter kann ein Begleiter dorthin nicht sein.
ROSE-MARIA GROPP
Jörg-Dieter Kogel: "Im Land der Träume". Mit Sigmund Freud in
Italien.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 252 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main