Das Tschechische ist mir näher, wenn es um den Reichtum der Gefühle, das Deutsch, wenn es um die Abstraktion geht." Alena Wagnerová publiziert seit Mitte der 60er Jahre in beiden Sprachen. Die Erzählungen "Im Leben unterwegs" wurden in deutscher und tschechischer Sprache verfasst und geben Einblick über das, was die vielseitige Autorin, Publizistin, Übersetzerin ein Leben lang beschäftigt hat.Die persönliche Wahrnehmung findet sich in diesen Erzählungen, die als einzelne Beiträge in tschechischen und deutschen Zeitschriften seit Mitte der 60er Jahre publiziert wurden. Die erste von Wagnerová in deutscher Sprache verfasste Erzählung "Die Landärztin", entstand im Rahmen einer Reportage über die noch im Böhmerwald lebenden Deutschen, wo sie der Tochter von Franz Kafkas jüngerer Schwester Ottilie begegnet, die als Landärztin arbeitete. In der damaligen Tschechoslowakei war eine Publikation nicht möglich. Wie in anderen Erzählungen, z. B. "Ein Garten mit Schriftstellern" spielt die Frage über die Rolle der Frau - was ihr vom gesellschaftlichen Umfeld zugebilligt wird und was nicht - mit. "Hinsetzen" setzt sich mit den Werten auseinander, mit der frau sich auseinandersetzt und danach ihr Leben gestaltet.Vergleichbar mit einem Kaleidoskop spiegeln die Erzählungen die Erfahrungen, Begegnungen einer aktiven Autorin, Ehefrau und Mutter wider, die aus der Perspektive der wahrnehmenden "Fremden" verstehen, nicht richten will. Darin ist sie Milena Jesenská, der Journalistin, sehr nahe.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marta Kijowska ist großer Fan von den Erzählungen der mittlerweile 86 Jahre alten deutsch-tschechischen Autorin Alena Wagnerová: In "Im Leben unterwegs" findet sie ein buntes Panorama historischer wie aktueller Ereignisse, oft durch facettenreiche Frauenfiguren geprägt, wie zum Beispiel eine Nichte Kafkas, die sich gegen die Vergötterung des Onkels und für mehr Aufmerksamkeit für das Schicksal ihrer in Auschwitz ermordeten Mutter einsetzt. Besonders freut sich Kijowska neben der klaren Sprache darüber, dass Wagnerová ihre Geschichten nicht bewertet, sondern dem Lesepublikum überlässt, sich eine eigene Meinung zu bilden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2023Mühen des Hinsetzens und andere Widrigkeiten
Kafka? Den muss man auch nicht nur positiv sehen: Alena Wagnerová ist in ihren Erzählungen dem Buchtitel gemäß "Im Leben unterwegs"
Wer sich für deutsch-tschechische The-men interessiert, etwa für das Schicksal der "guten" Sudetendeutschen, also der Hitler-Gegner, die als solche nach dem Krieg nicht vertrieben, doch aufgrund ihrer Nationalität angefeindet wurden, oder für berühmte Tschechinnen wie Milena Jesenská und Sidonie Nádherny, dem dürfte der Name Alena Wagnerová seit Langem bekannt sein.
Der Erzählband "Im Leben unterwegs" wird aber dennoch auch die Kenner ihrer früheren Bücher erfreuen. Denn er zeigt nicht nur die ganze thematische Bandbreite ihres Werks, sondern gibt auch Einblick in das Leben der heute sechsundachtzigjährigen Autorin. So wirkt es ausgesprochen stimmig, dass den Auftakt des Buches ein sehr persönlicher Text bildet. In "Mühen des Hinsetzens" erklärt Wagnerová nämlich den Unterschied zwischen ebendieser Handlung und dem Sich-Setzen: "Beim Hinsetzen kann man sich natürlich auch setzen, es ist aber keine Bedingung, Hinsetzen kann man sich auch stehend." Denn zum Letzteren brauche man "nichts als einen Zustand stiller innerer Bereitschaft", eine "Seelenhaltung", die sie selbst zum Ausüben des Literatenberufes unbedingt benötige, die allerdings auch einige Gefahren in sich berge: "Plötzlich stünde ich da womöglich mit einem bemerkenswerten Manuskript, fände aber nichts mehr von meiner früheren Welt, gleich jener Magd, die am Karfreitag Wasser holen ging und erst nach hundert Jahren zurückkam."
Einige ihrer Geschichten lässt die studierte Biologin im Böhmerwald spielen. Allen voran "Die Landärztin", einen der interessantesten Texte dieses Bandes, dessen Titelheldin, die zusammen mit ihrer Familie in einem abgelegenen Forsthaus lebt, sich als Tochter von Franz Kafkas jüngerer Schwester Ottilie entpuppt. Von ihrem berühmten Onkel ist darin auch die Rede, doch vor allem ist es eine Hommage an ihre Mutter, die nach Theresienstadt kam, dort in einem Kinderheim arbeitete und zusammen mit ihren Zöglingen freiwillig nach Auschwitz fuhr, wo sie vergast wurde.
Kafka selbst schneidet hier nicht besonders gut ab. "Warum hatte man ihn eigentlich so geachtet, den Onkel der Ärztin aus dem Böhmerwald?", fragt sich die Autorin. "Er war doch nur feige, feige und sonst nichts!" Und da ist noch etwas, was sie ärgert: Sie begreift, dass "es keine gemeinsame Welt, sondern nur Männer und Frauen" gebe, was in diesem, aber auch in anderen Fällen, bei denen es sich um männliche Berühmtheiten handle, oft für eine falsche Interpretation von Lebensgeschichten sorge. "Verdiente sie eigentlich nicht mehr Achtung als er?", überlegt Wagnerová mit Bezug auf Kafkas Schwester. "Verdienten Ottla, Milena, Felice nicht mehr Achtung als er, sie, die an ihren Entscheidungen starben, während er nur seiner Unfähigkeit, sich zu entscheiden, zum Opfer fiel?" Ja mehr noch, "man hat ihm sogar das, was seine Schwester getan hatte, zugutegehalten, als hätte er sein Leben geopfert und nicht sie". Und so wird ihr auch klar, warum die Landärztin so zurückhaltend bezüglich ihres Onkels war: Für sie "gab es nur einen Menschen in dieser Geschichte, der wirklich verehrungswürdig war - ihre Mutter".
Es gibt noch etliche weitere eindrucksvolle Frauen in diesem Band: Eine etwa, die kurz vor Kriegsende Zeugin mehrerer aufeinanderfolgender Exekutionen wird und sich dabei ertappt, von dieser "Hinrichtungsparade" fasziniert zu sein ("Und dreimal krähte der Hahn"). Eine, die als verwöhntes Kind eines hohen K.-u.-k.-Offiziers aufgewachsen ist und ihr Leben in Dubrovnik in bitterer Armut beendet ("Frau Jahrhundert"). Eine, die als Kustodin in Adalbert Stifters Geburtshaus arbeitet und zwischen dem Schicksal von dessen Jugendliebe Fanny Greipl und ihrem eigenen Parallelen entdeckt ("Im Geburtshaus des Dichters"). Eine, die während eines Familienurlaubs die Freuden des exzessiven nächtlichen Lesens entdeckt ("Verheißung der Nacht"). Oder sie selbst aus jener Zeit, als sie ihr erstes Stipendium bekommt und zwei Monate in einem "Schriftstellerheim" verbringt, wo sie die Hierarchie des Literatenmilieus im kommunistischen Regime ken-nenlernt ("Ein Garten mit Schriftstel-lern"). Aber auch einige Männer haben hier starke Auftritte: ein Fabrikantensohn aus Prag, der, sobald er seinen Führerschein hat, ständig gegen Fahrregeln verstößt und dessen permanente Ungeschicktheit erst dann ihre humoristische Komponente verliert, als er nach Theresienstadt deportiert wird ("Karel Baumanns gesammelte Verkehrssünden"). Oder ein Arzt, der in den Bergen von einer Schlange gebissen wird und stirbt, weil er nicht imstande ist, sich selbst eine Spritze zu geben ("Tod, wo ist dein Stachel?").
"Im Leben unterwegs" ist also ein Band, in dem Alena Wagnerová die Zeiten der Donaumonarchie, des NS-Regimes, des Kommunismus und der Gegenwart als ein Kaleidoskop von eigenen und fremden Erlebnissen und Erfahrungen erscheinen lässt. Sie tut es in einer wortreichen, aber sehr klaren und präzisen Sprache und umso überzeugender, als sie, trotz mancher Frage, die sie stellt, das Urteil über das Geschilderte jeweils dem Leser überlässt. MARTA KIJOWSKA
Alena Wagnerová: "Im Leben unterwegs". Erzählungen.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2022. 212 S., geb., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kafka? Den muss man auch nicht nur positiv sehen: Alena Wagnerová ist in ihren Erzählungen dem Buchtitel gemäß "Im Leben unterwegs"
Wer sich für deutsch-tschechische The-men interessiert, etwa für das Schicksal der "guten" Sudetendeutschen, also der Hitler-Gegner, die als solche nach dem Krieg nicht vertrieben, doch aufgrund ihrer Nationalität angefeindet wurden, oder für berühmte Tschechinnen wie Milena Jesenská und Sidonie Nádherny, dem dürfte der Name Alena Wagnerová seit Langem bekannt sein.
Der Erzählband "Im Leben unterwegs" wird aber dennoch auch die Kenner ihrer früheren Bücher erfreuen. Denn er zeigt nicht nur die ganze thematische Bandbreite ihres Werks, sondern gibt auch Einblick in das Leben der heute sechsundachtzigjährigen Autorin. So wirkt es ausgesprochen stimmig, dass den Auftakt des Buches ein sehr persönlicher Text bildet. In "Mühen des Hinsetzens" erklärt Wagnerová nämlich den Unterschied zwischen ebendieser Handlung und dem Sich-Setzen: "Beim Hinsetzen kann man sich natürlich auch setzen, es ist aber keine Bedingung, Hinsetzen kann man sich auch stehend." Denn zum Letzteren brauche man "nichts als einen Zustand stiller innerer Bereitschaft", eine "Seelenhaltung", die sie selbst zum Ausüben des Literatenberufes unbedingt benötige, die allerdings auch einige Gefahren in sich berge: "Plötzlich stünde ich da womöglich mit einem bemerkenswerten Manuskript, fände aber nichts mehr von meiner früheren Welt, gleich jener Magd, die am Karfreitag Wasser holen ging und erst nach hundert Jahren zurückkam."
Einige ihrer Geschichten lässt die studierte Biologin im Böhmerwald spielen. Allen voran "Die Landärztin", einen der interessantesten Texte dieses Bandes, dessen Titelheldin, die zusammen mit ihrer Familie in einem abgelegenen Forsthaus lebt, sich als Tochter von Franz Kafkas jüngerer Schwester Ottilie entpuppt. Von ihrem berühmten Onkel ist darin auch die Rede, doch vor allem ist es eine Hommage an ihre Mutter, die nach Theresienstadt kam, dort in einem Kinderheim arbeitete und zusammen mit ihren Zöglingen freiwillig nach Auschwitz fuhr, wo sie vergast wurde.
Kafka selbst schneidet hier nicht besonders gut ab. "Warum hatte man ihn eigentlich so geachtet, den Onkel der Ärztin aus dem Böhmerwald?", fragt sich die Autorin. "Er war doch nur feige, feige und sonst nichts!" Und da ist noch etwas, was sie ärgert: Sie begreift, dass "es keine gemeinsame Welt, sondern nur Männer und Frauen" gebe, was in diesem, aber auch in anderen Fällen, bei denen es sich um männliche Berühmtheiten handle, oft für eine falsche Interpretation von Lebensgeschichten sorge. "Verdiente sie eigentlich nicht mehr Achtung als er?", überlegt Wagnerová mit Bezug auf Kafkas Schwester. "Verdienten Ottla, Milena, Felice nicht mehr Achtung als er, sie, die an ihren Entscheidungen starben, während er nur seiner Unfähigkeit, sich zu entscheiden, zum Opfer fiel?" Ja mehr noch, "man hat ihm sogar das, was seine Schwester getan hatte, zugutegehalten, als hätte er sein Leben geopfert und nicht sie". Und so wird ihr auch klar, warum die Landärztin so zurückhaltend bezüglich ihres Onkels war: Für sie "gab es nur einen Menschen in dieser Geschichte, der wirklich verehrungswürdig war - ihre Mutter".
Es gibt noch etliche weitere eindrucksvolle Frauen in diesem Band: Eine etwa, die kurz vor Kriegsende Zeugin mehrerer aufeinanderfolgender Exekutionen wird und sich dabei ertappt, von dieser "Hinrichtungsparade" fasziniert zu sein ("Und dreimal krähte der Hahn"). Eine, die als verwöhntes Kind eines hohen K.-u.-k.-Offiziers aufgewachsen ist und ihr Leben in Dubrovnik in bitterer Armut beendet ("Frau Jahrhundert"). Eine, die als Kustodin in Adalbert Stifters Geburtshaus arbeitet und zwischen dem Schicksal von dessen Jugendliebe Fanny Greipl und ihrem eigenen Parallelen entdeckt ("Im Geburtshaus des Dichters"). Eine, die während eines Familienurlaubs die Freuden des exzessiven nächtlichen Lesens entdeckt ("Verheißung der Nacht"). Oder sie selbst aus jener Zeit, als sie ihr erstes Stipendium bekommt und zwei Monate in einem "Schriftstellerheim" verbringt, wo sie die Hierarchie des Literatenmilieus im kommunistischen Regime ken-nenlernt ("Ein Garten mit Schriftstel-lern"). Aber auch einige Männer haben hier starke Auftritte: ein Fabrikantensohn aus Prag, der, sobald er seinen Führerschein hat, ständig gegen Fahrregeln verstößt und dessen permanente Ungeschicktheit erst dann ihre humoristische Komponente verliert, als er nach Theresienstadt deportiert wird ("Karel Baumanns gesammelte Verkehrssünden"). Oder ein Arzt, der in den Bergen von einer Schlange gebissen wird und stirbt, weil er nicht imstande ist, sich selbst eine Spritze zu geben ("Tod, wo ist dein Stachel?").
"Im Leben unterwegs" ist also ein Band, in dem Alena Wagnerová die Zeiten der Donaumonarchie, des NS-Regimes, des Kommunismus und der Gegenwart als ein Kaleidoskop von eigenen und fremden Erlebnissen und Erfahrungen erscheinen lässt. Sie tut es in einer wortreichen, aber sehr klaren und präzisen Sprache und umso überzeugender, als sie, trotz mancher Frage, die sie stellt, das Urteil über das Geschilderte jeweils dem Leser überlässt. MARTA KIJOWSKA
Alena Wagnerová: "Im Leben unterwegs". Erzählungen.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2022. 212 S., geb., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main