In einem Vorort von Dublin hält Mr. Mack, Inhaber eines Krämerladens, ein wachsames Auge auf seine Umgebung. Schließlich sind die Slums nicht weit, und eine Familie im Aufwind, wie die Macks es sind, kann nicht vorsichtig genug sein. Kämpft nicht sein älterer Sohn auf dem Kontinent gegen die Deutschen, wie einst er gegen die Buren zog? Und dann Jim, sein Jüngerer, ein richtiger Gelehrter könnte aus ihm werden ...
Jamie O'Neill gelingt es, die ganze Komplexität und Tragik der irischen Geschichte im Leben einer Handvoll Figuren zu konzentrieren und lebendig zu machen.
Jamie O'Neill gelingt es, die ganze Komplexität und Tragik der irischen Geschichte im Leben einer Handvoll Figuren zu konzentrieren und lebendig zu machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2003Badefreuden mit Joyce
Jamie O'Neill bringt der irischen Moderne die Flötentöne bei
Auf der vorletzten Seite dieses mit viel Langmut geschriebenen Romans erlaubt sich der Autor einen kleinen Witz. Wir zählen die Seite 702, der Morgen weht bereits durch die Vorhänge, und Jim Mack träumt noch einmal von seinem Freund, dem Doyler Doyle. Jim und Doyler - Doyler und Jim: Die Reihenfolge ist ganz egal - sind die jugendlichen Helden von Jamie O'Neills Roman; gemeinsam springen sie gegen Ende verliebt über den Rasen. "Kennst du die Geschichte von meiner kleinen Nichte?" fragt Doyler den Träumer Jim, und hier kommt der gereimte Witz: "Sie ging aus dem Haus. Und jetzt ist die Geschichte aus." Doylers triumphierendes Grinsen - "Oh, dieses Grinsen" - gilt dabei nicht allein dem Freund, sondern auch dem übernächtigten Leser, denn "Im Meer, zwei Jungen" ist bei allem Lob, das man diesem ambitionierten Roman zollen muß, stellenweise doch zu ausführlich geraten, und der Autor tut nichts, um dies zu verbergen. Nach zehn Jahren Arbeit an seinem Buch war die Sehnsucht nach einer schneller zu Ende gebrachten Geschichte vermutlich sehr groß.
Am Anfang - in Glasthule, einer Kleinstadt "am Saume der Bucht von Dublin", wir schreiben das Jahr 1915 - steht Jims Vater an einer Straßenecke am Zeitungsstand und kauft eine "Irish Times". Die Zeitung ist doppelt so teuer wie jedes andere Blatt, aber Mr. Mack, "der Gockel der Stadt", läßt sich seinen Ruf gelegentlich gern etwas kosten. Mr. Mack ist der stolze Besitzer der ortsansässigen Gemischtwarenhandlung - "oh, immer im Aufwind, das ist Mr. Mack, ein christlicher illustriger viktualischer Mann". Sein älterer Sohn Gordon zieht für König und Vaterland in den Krieg, der sechzehnjährige Jim besucht als feinsinniger Stipendiat das katholische Presentation College. Es könnte ihm nicht besser gehen, diesem Mr. Mack: Seine Naivität zeichnet Jamie O'Neill mit sanfter Feder.
"Im Meer, zwei Jungen", der dritte Roman des 1962 in Dublin geborenen Autors, spielt vor dem Hintergrund der politischen Unruhen, die am Ostermontag 1916 schließlich in die Besetzung des Dubliner Hauptpostamts durch irische Nationalisten und die blutige Niederschlagung des Aufstands durch britische Truppen mündeten. O'Neill erzählt allerdings keinen konventionellen historischen Roman, in dem das politische Ambiente dieses Augenblicks en détail wiederauflebte; die Protagonisten des Easter Rising - anders als beispielsweise in Roddy Doyles "Henry der Held", in dem der Autor seine Romanfigur sehr viel näher an den politischen Kern der Sache vordringen läßt - bleiben weitgehend am Rande des Geschehens. O'Neill ist vielmehr ein Meister der Anspielung, seine Stärke liegt in der Distanz, die er geduldig zu halten versteht, bevor er Motive miteinander verknüpft und die verschiedenen Ebenen seiner Erzählung aneinander heranführt.
Als Doyler Doyle, der Sohn von Mr. Macks ehemaligem Kameraden Mick, nach Jahren, die er auf dem Land verbrachte, in die Kleinstadt zurückkehrt, ist der Osteraufstand scheinbar noch in weiter Ferne und Doyler in Mr. Macks Augen vor allem ein Bengel aus den Slums, in die seine Familie inzwischen hinabgesunken ist. Doyler und Jim besuchten einst gemeinsam die Volksschule; als sie sich an Jims sechzehnten Geburtstag nach Jahren zum erstenmal wiedersehen, trägt Jim noch kurze Hosen, während der muskulöse Doyler als Bursche des Fuhrmanns den Mist wegkarrt und sich am Forty Foot, der "Badestelle für Herren", hingebungsvoll schon mal ein Silberstück verdient.
Die zwei Jungen könnten auf den ersten Blick nicht verschiedener sein, und ihre gegensätzlichen Temperamente scheinen der Erneuerung ihrer unvergessenen Freundschaft inzwischen ebenso im Weg zu stehen wie das Klassenbewußtsein von Mr. Mack. Nachdem ihm ein großzügiger Gentleman allerdings die paar Shilling überlassen hat, mit denen er seine verpfändete Studierflöte zurückkaufen kann, tritt Doyler dem Spielmannszug bei, in dem auch Jim flötet: Anthony MacMurrough, der Neffe der formidablen Herrin von Ballygihen House, deren Vater man im "heiligen Irland" noch Jahre nach seinem Tod patriotische Balladen singt, wird auf diese Weise ganz beiläufig zum Stifter einer sich mit großer Behutsamkeit vorantastenden Liebe. Als Homosexueller, der nach dem Verbüßen einer mehrjährigen Gefängnisstrafe - gewissermaßen nach dem Vorbild Oscar Wildes, den er mit Vorliebe zitiert - um die bigotte Scheinmoral der bürgerlichen Gesellschaft weiß, ist MacMurrough die tragische Mittlerfigur, die Jim und Doyler den gemeinsamen Weg bahnt und O'Neills Roman zusammenhält.
Durch "Two Boys, At Swim" - so der Originaltitel - weht nicht allein aufgrund der präzisen zeitgeschichtlichen Verankerung der Geist der irischen Revolution: Bereits der Titel ist eine Verbeugung vor "At Swim - Two Birds", Flann O'Briens Glanzstück der irischen Moderne. Der "Ulysses" schließlich ist der überragende literarische Leuchtturm, an dem sich O'Neill selbstbewußt orientiert. Mr. Mack kommt wie ein verlorengegangener Bruder des liebenswerten Kleinbürgers Leopold Bloom daher; der Martello-Turm nahe der Badestelle am Forty Foot, von wo aus Doyler und Jim am Ostersonntag 1916 zu den Felsen der Muglins hinausschwimmen, um die irische Fahne zu hissen und sich endlich auch ihrer Körper zu ergeben, kommt auch im "Ulysses" schon auf der ersten Seite vor.
Das unablässige Echo, das derart klangvoll durch O'Neills Romanwerk hallt, verschafft der eigenen Stimme des Autors dabei jedoch nicht immer Gehör. O'Neill delektiert sich an vorbildlich komponierten Rhythmen - "A porcelain shepherdess proffered tiny sugared treats on a tray, offered them twice" -, denen Hans-Christian Oeser in seiner hervorragenden Übersetzung aber glücklicherweise nicht zwanghaft folgt - "Auf einem Tablett bot eine Porzellanschäferin winzige Naschereien an, und zwar gleich zweimal" -, und bettet seine jungen Helden auf die weichen Kissen einer Poesie, deren zum Teil erdrückende Bildhaftigkeit James Joyce zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermutlich ordentlich aufgemischt hätte.
Eine in dieser Hinsicht etwas maßvollere Ausstattung hätte O'Neills Roman sicher nicht geschadet und ihn auf ein handlicheres Format zurückschrumpfen lassen, das dem Leser dann stellenweise vielleicht weniger Ausdauer abverlangt hätte. Naturgemäß jongliert O'Neill auch mit allen seit Joyce mehr oder minder gebräuchlichen Perspektivwechseln und führt Alltags- und Traumwelten eng zusammen. Der Wagemut, mit dem der Autor hier vielschichtig den irischen Geist beschwört, die draufgängerische Art und Weise, mit der er das reiche Erbe der Tradition ohne die geringste Scham für seine Helden Doyler und Jim beansprucht, bleibt dem Autor hoffentlich auch für seinen nächsten Roman erhalten.
THOMAS DAVID
Jamie O'Neill: "Im Meer, zwei Jungen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 703 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jamie O'Neill bringt der irischen Moderne die Flötentöne bei
Auf der vorletzten Seite dieses mit viel Langmut geschriebenen Romans erlaubt sich der Autor einen kleinen Witz. Wir zählen die Seite 702, der Morgen weht bereits durch die Vorhänge, und Jim Mack träumt noch einmal von seinem Freund, dem Doyler Doyle. Jim und Doyler - Doyler und Jim: Die Reihenfolge ist ganz egal - sind die jugendlichen Helden von Jamie O'Neills Roman; gemeinsam springen sie gegen Ende verliebt über den Rasen. "Kennst du die Geschichte von meiner kleinen Nichte?" fragt Doyler den Träumer Jim, und hier kommt der gereimte Witz: "Sie ging aus dem Haus. Und jetzt ist die Geschichte aus." Doylers triumphierendes Grinsen - "Oh, dieses Grinsen" - gilt dabei nicht allein dem Freund, sondern auch dem übernächtigten Leser, denn "Im Meer, zwei Jungen" ist bei allem Lob, das man diesem ambitionierten Roman zollen muß, stellenweise doch zu ausführlich geraten, und der Autor tut nichts, um dies zu verbergen. Nach zehn Jahren Arbeit an seinem Buch war die Sehnsucht nach einer schneller zu Ende gebrachten Geschichte vermutlich sehr groß.
Am Anfang - in Glasthule, einer Kleinstadt "am Saume der Bucht von Dublin", wir schreiben das Jahr 1915 - steht Jims Vater an einer Straßenecke am Zeitungsstand und kauft eine "Irish Times". Die Zeitung ist doppelt so teuer wie jedes andere Blatt, aber Mr. Mack, "der Gockel der Stadt", läßt sich seinen Ruf gelegentlich gern etwas kosten. Mr. Mack ist der stolze Besitzer der ortsansässigen Gemischtwarenhandlung - "oh, immer im Aufwind, das ist Mr. Mack, ein christlicher illustriger viktualischer Mann". Sein älterer Sohn Gordon zieht für König und Vaterland in den Krieg, der sechzehnjährige Jim besucht als feinsinniger Stipendiat das katholische Presentation College. Es könnte ihm nicht besser gehen, diesem Mr. Mack: Seine Naivität zeichnet Jamie O'Neill mit sanfter Feder.
"Im Meer, zwei Jungen", der dritte Roman des 1962 in Dublin geborenen Autors, spielt vor dem Hintergrund der politischen Unruhen, die am Ostermontag 1916 schließlich in die Besetzung des Dubliner Hauptpostamts durch irische Nationalisten und die blutige Niederschlagung des Aufstands durch britische Truppen mündeten. O'Neill erzählt allerdings keinen konventionellen historischen Roman, in dem das politische Ambiente dieses Augenblicks en détail wiederauflebte; die Protagonisten des Easter Rising - anders als beispielsweise in Roddy Doyles "Henry der Held", in dem der Autor seine Romanfigur sehr viel näher an den politischen Kern der Sache vordringen läßt - bleiben weitgehend am Rande des Geschehens. O'Neill ist vielmehr ein Meister der Anspielung, seine Stärke liegt in der Distanz, die er geduldig zu halten versteht, bevor er Motive miteinander verknüpft und die verschiedenen Ebenen seiner Erzählung aneinander heranführt.
Als Doyler Doyle, der Sohn von Mr. Macks ehemaligem Kameraden Mick, nach Jahren, die er auf dem Land verbrachte, in die Kleinstadt zurückkehrt, ist der Osteraufstand scheinbar noch in weiter Ferne und Doyler in Mr. Macks Augen vor allem ein Bengel aus den Slums, in die seine Familie inzwischen hinabgesunken ist. Doyler und Jim besuchten einst gemeinsam die Volksschule; als sie sich an Jims sechzehnten Geburtstag nach Jahren zum erstenmal wiedersehen, trägt Jim noch kurze Hosen, während der muskulöse Doyler als Bursche des Fuhrmanns den Mist wegkarrt und sich am Forty Foot, der "Badestelle für Herren", hingebungsvoll schon mal ein Silberstück verdient.
Die zwei Jungen könnten auf den ersten Blick nicht verschiedener sein, und ihre gegensätzlichen Temperamente scheinen der Erneuerung ihrer unvergessenen Freundschaft inzwischen ebenso im Weg zu stehen wie das Klassenbewußtsein von Mr. Mack. Nachdem ihm ein großzügiger Gentleman allerdings die paar Shilling überlassen hat, mit denen er seine verpfändete Studierflöte zurückkaufen kann, tritt Doyler dem Spielmannszug bei, in dem auch Jim flötet: Anthony MacMurrough, der Neffe der formidablen Herrin von Ballygihen House, deren Vater man im "heiligen Irland" noch Jahre nach seinem Tod patriotische Balladen singt, wird auf diese Weise ganz beiläufig zum Stifter einer sich mit großer Behutsamkeit vorantastenden Liebe. Als Homosexueller, der nach dem Verbüßen einer mehrjährigen Gefängnisstrafe - gewissermaßen nach dem Vorbild Oscar Wildes, den er mit Vorliebe zitiert - um die bigotte Scheinmoral der bürgerlichen Gesellschaft weiß, ist MacMurrough die tragische Mittlerfigur, die Jim und Doyler den gemeinsamen Weg bahnt und O'Neills Roman zusammenhält.
Durch "Two Boys, At Swim" - so der Originaltitel - weht nicht allein aufgrund der präzisen zeitgeschichtlichen Verankerung der Geist der irischen Revolution: Bereits der Titel ist eine Verbeugung vor "At Swim - Two Birds", Flann O'Briens Glanzstück der irischen Moderne. Der "Ulysses" schließlich ist der überragende literarische Leuchtturm, an dem sich O'Neill selbstbewußt orientiert. Mr. Mack kommt wie ein verlorengegangener Bruder des liebenswerten Kleinbürgers Leopold Bloom daher; der Martello-Turm nahe der Badestelle am Forty Foot, von wo aus Doyler und Jim am Ostersonntag 1916 zu den Felsen der Muglins hinausschwimmen, um die irische Fahne zu hissen und sich endlich auch ihrer Körper zu ergeben, kommt auch im "Ulysses" schon auf der ersten Seite vor.
Das unablässige Echo, das derart klangvoll durch O'Neills Romanwerk hallt, verschafft der eigenen Stimme des Autors dabei jedoch nicht immer Gehör. O'Neill delektiert sich an vorbildlich komponierten Rhythmen - "A porcelain shepherdess proffered tiny sugared treats on a tray, offered them twice" -, denen Hans-Christian Oeser in seiner hervorragenden Übersetzung aber glücklicherweise nicht zwanghaft folgt - "Auf einem Tablett bot eine Porzellanschäferin winzige Naschereien an, und zwar gleich zweimal" -, und bettet seine jungen Helden auf die weichen Kissen einer Poesie, deren zum Teil erdrückende Bildhaftigkeit James Joyce zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermutlich ordentlich aufgemischt hätte.
Eine in dieser Hinsicht etwas maßvollere Ausstattung hätte O'Neills Roman sicher nicht geschadet und ihn auf ein handlicheres Format zurückschrumpfen lassen, das dem Leser dann stellenweise vielleicht weniger Ausdauer abverlangt hätte. Naturgemäß jongliert O'Neill auch mit allen seit Joyce mehr oder minder gebräuchlichen Perspektivwechseln und führt Alltags- und Traumwelten eng zusammen. Der Wagemut, mit dem der Autor hier vielschichtig den irischen Geist beschwört, die draufgängerische Art und Weise, mit der er das reiche Erbe der Tradition ohne die geringste Scham für seine Helden Doyler und Jim beansprucht, bleibt dem Autor hoffentlich auch für seinen nächsten Roman erhalten.
THOMAS DAVID
Jamie O'Neill: "Im Meer, zwei Jungen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 703 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2003Lerne sündigen, ohne zu beichten
Jamie O’Neill erzählt vom irischen Osteraufstand
Zehn Jahre lang hat Jamie O’Neill in London als Nachtportier in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet, um seinen ersten Roman schreiben zu können. Oft sei er gefragt worden, ob er Ire sei. „Nein, ich bin schwul”, war stets seine Antwort. Zu „inkompatibel” erschienen dem 1962 im Dubliner Vorort Dun Laoghaire geborenen Autor seine beiden Identitäten. „Im Meer, zwei Jungen” – der Titel erinnert eher grundlos an Flann O’Briens „At Swim-Two-Birds” – unternimmt dennoch den Versuch einer Synthese: Die beiden jugendlichen Helden sind homosexuell und zugleich als glühende Patrioten bereit, im Freiheitskampf Irlands ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Die Sehnsucht nach Anerkennung einer schwulen Liebe ist die keineswegs geheime Triebfeder dieses Romans; ihren Ausdruck findet sie in der unerschrockenen, auch in der virtuosen deutschen Übersetzung gegenwärtigen Sprachgewalt des Autors. Als Erzähler ist Jamie O’Neill ein Meister divergenter Sprachebenen, der auch vor grellem rosa Kitsch keine Angst hat und doch immer wieder von den Überschneidungen zwischen Emotion und Prostitution erzählt.
Jim Mack, Sohn eines opportunistischen Kleinbürgers, und Doyler Doyle, der seinen leiblichen Vater nicht kennt, könnten Freunde sein wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Doch sie werden ein Liebespaar und erleben ihre glücklichsten Augenblicke an Ostern 1916, unmittelbar vor dem Aufstand der Iren gegen die Herrschaft der Briten, bei dem Doyler ums Leben kommen wird. Gemeinsam steigen sie am „Forty Foot Cove”, dem Ort, an dem James Joyce seinen „Ulysses” beginnt, ins Meer und schwimmen hinaus zu den Felsen der Muglins, um dort eine grüne Fahne zu hissen und endlich die lange erhoffte körperliche Vereinigung zu erleben.
Wenn O’Neill die Freunde nach der ersten Liebesnacht ohne Beichte zur Kommunion gehen lässt, stellt er unmissverständlich klar, was er von den Sünden der Unkeuschheit und der gnadenlosen Rigorosität der katholischen Amtskirche seiner Heimat und dem machthungrigen Patriotismus ihrer Vertreter hält. Allein die Befreiung vom britischen Joch bedeutet noch längst nicht die Freiheit, nach der sich die Figuren dieses Romans sehnen; stets geht es auch darum, was anno 1916 schief gelaufen sein könnte. So bekommt die Liebe der beiden Freunde, verbunden mit einem Diskurs über Männerfreundschaften von der Antike bis zum Christentum, eine allegorische Dimension.
Zur Strafe einen Kuss
An der Geburt – oder besser Wiedergeburt – der irischen Nation hatten, so der Autor, alle ihren Anteil, die Armen aus den Slums und die Reichen aus den Herrenhäusern, Sozialisten und Aristokraten, fanatische Katholiken, noble Frauen und leidenschaftliche Schwule: Rebellen mit nie und nimmer auf einen Nenner zu bringenden Idealen und in ihrer Summe immer noch eine Minorität gegenüber einer teilnahmslosen oder ängstlichen Mehrheit und dem Opportunismus der irischen Oberschicht.
Wie sein prominenter Kollege Roddy Doyle in „Henry der Held” mischt O’Neill recherchierte Fakten und Fiktion. Die legendäre, im Aufstand aktive Countess Markiewicz wird so konsequent zum Vorbild für die fiktive Eveline MacMurrough, dass die Gräfin, wenn sie gegen Ende persönlich auftritt, namenlos bleiben muss und ihr schwuler Neffe Anthony denkt, „niemandem glich sie so sehr” wie seiner Tante. Anthony, ein Dandy, der sich von der Tante aushalten lässt, hat immer wieder das Beispiel Oscar Wildes vor Augen. Mutig zieht er beim „Forty Foot” einen Mann aus dem Meer; als er feststellt, dass er ausgerechnet Edward Carson, Wildes Ankläger vor Gericht, das Leben gerettet hat, küsst er ihn auf den Mund, als könne es für Carson keine schlimmere Strafe geben.
Jamie O’Neills Roman bezieht seine Kraft ebenso aus der emotionalen Leidenschaft des Autors wie aus seinem intellektuellen ikonoklastischen Engagement. Er lässt seine Helden mit zwei Heroen des Osteraufstandes, James Connolly und Patrick Pearse, zusammentreffen und meldet seine Zweifel an: „Pfadfindermores und Muskelverehrung, das christusähnliche Opfer der Jugend. Dieselben Ansichten hatten halb Europa in die Schützengräben gesungen.” Die private Geschichte und die politischen Ereignisse erreichen synchron ihren Höhepunkt; die Liebesgeschichte erzählt vor allem davon, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde.
H. G. PFLAUM
JAMIE O'NEILL: Im Meer, zwei Jungen. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Luchterhand Verlag, München 2003. 703 Seiten, 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Jamie O’Neill erzählt vom irischen Osteraufstand
Zehn Jahre lang hat Jamie O’Neill in London als Nachtportier in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet, um seinen ersten Roman schreiben zu können. Oft sei er gefragt worden, ob er Ire sei. „Nein, ich bin schwul”, war stets seine Antwort. Zu „inkompatibel” erschienen dem 1962 im Dubliner Vorort Dun Laoghaire geborenen Autor seine beiden Identitäten. „Im Meer, zwei Jungen” – der Titel erinnert eher grundlos an Flann O’Briens „At Swim-Two-Birds” – unternimmt dennoch den Versuch einer Synthese: Die beiden jugendlichen Helden sind homosexuell und zugleich als glühende Patrioten bereit, im Freiheitskampf Irlands ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
Die Sehnsucht nach Anerkennung einer schwulen Liebe ist die keineswegs geheime Triebfeder dieses Romans; ihren Ausdruck findet sie in der unerschrockenen, auch in der virtuosen deutschen Übersetzung gegenwärtigen Sprachgewalt des Autors. Als Erzähler ist Jamie O’Neill ein Meister divergenter Sprachebenen, der auch vor grellem rosa Kitsch keine Angst hat und doch immer wieder von den Überschneidungen zwischen Emotion und Prostitution erzählt.
Jim Mack, Sohn eines opportunistischen Kleinbürgers, und Doyler Doyle, der seinen leiblichen Vater nicht kennt, könnten Freunde sein wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Doch sie werden ein Liebespaar und erleben ihre glücklichsten Augenblicke an Ostern 1916, unmittelbar vor dem Aufstand der Iren gegen die Herrschaft der Briten, bei dem Doyler ums Leben kommen wird. Gemeinsam steigen sie am „Forty Foot Cove”, dem Ort, an dem James Joyce seinen „Ulysses” beginnt, ins Meer und schwimmen hinaus zu den Felsen der Muglins, um dort eine grüne Fahne zu hissen und endlich die lange erhoffte körperliche Vereinigung zu erleben.
Wenn O’Neill die Freunde nach der ersten Liebesnacht ohne Beichte zur Kommunion gehen lässt, stellt er unmissverständlich klar, was er von den Sünden der Unkeuschheit und der gnadenlosen Rigorosität der katholischen Amtskirche seiner Heimat und dem machthungrigen Patriotismus ihrer Vertreter hält. Allein die Befreiung vom britischen Joch bedeutet noch längst nicht die Freiheit, nach der sich die Figuren dieses Romans sehnen; stets geht es auch darum, was anno 1916 schief gelaufen sein könnte. So bekommt die Liebe der beiden Freunde, verbunden mit einem Diskurs über Männerfreundschaften von der Antike bis zum Christentum, eine allegorische Dimension.
Zur Strafe einen Kuss
An der Geburt – oder besser Wiedergeburt – der irischen Nation hatten, so der Autor, alle ihren Anteil, die Armen aus den Slums und die Reichen aus den Herrenhäusern, Sozialisten und Aristokraten, fanatische Katholiken, noble Frauen und leidenschaftliche Schwule: Rebellen mit nie und nimmer auf einen Nenner zu bringenden Idealen und in ihrer Summe immer noch eine Minorität gegenüber einer teilnahmslosen oder ängstlichen Mehrheit und dem Opportunismus der irischen Oberschicht.
Wie sein prominenter Kollege Roddy Doyle in „Henry der Held” mischt O’Neill recherchierte Fakten und Fiktion. Die legendäre, im Aufstand aktive Countess Markiewicz wird so konsequent zum Vorbild für die fiktive Eveline MacMurrough, dass die Gräfin, wenn sie gegen Ende persönlich auftritt, namenlos bleiben muss und ihr schwuler Neffe Anthony denkt, „niemandem glich sie so sehr” wie seiner Tante. Anthony, ein Dandy, der sich von der Tante aushalten lässt, hat immer wieder das Beispiel Oscar Wildes vor Augen. Mutig zieht er beim „Forty Foot” einen Mann aus dem Meer; als er feststellt, dass er ausgerechnet Edward Carson, Wildes Ankläger vor Gericht, das Leben gerettet hat, küsst er ihn auf den Mund, als könne es für Carson keine schlimmere Strafe geben.
Jamie O’Neills Roman bezieht seine Kraft ebenso aus der emotionalen Leidenschaft des Autors wie aus seinem intellektuellen ikonoklastischen Engagement. Er lässt seine Helden mit zwei Heroen des Osteraufstandes, James Connolly und Patrick Pearse, zusammentreffen und meldet seine Zweifel an: „Pfadfindermores und Muskelverehrung, das christusähnliche Opfer der Jugend. Dieselben Ansichten hatten halb Europa in die Schützengräben gesungen.” Die private Geschichte und die politischen Ereignisse erreichen synchron ihren Höhepunkt; die Liebesgeschichte erzählt vor allem davon, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde.
H. G. PFLAUM
JAMIE O'NEILL: Im Meer, zwei Jungen. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Luchterhand Verlag, München 2003. 703 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Uwe Pralle jubelt: das neueste Werk von Jamie O'Neill sei kein Roman, wie er alle Jahre, "sondern allenfalls einmal alle zehn Jahre entsteht". Die im Schatten des aufziehenden Ersten Weltkriegs in Irland spielende Dreiecksgeschichte zwischen zwei Sechzehnjährigen und einem alternden Päderasten hat ihm ausgesprochen gut gefallen. O'Neill beschreibe die homosexuelle Liebe zwar einerseits "drastisch", sein Protagonist MacEmm könne es aber an "scharfzüngiger Kultiviertheit und Lüsternheit fast mit seinem Idol Oscar Wilde aufnehmen". Auch der historische Hintergrund, der Dubliner Osteraufstand von 1916, werde mit ausreichender Distanz geschildert, lobt der Rezensent. "Wunderbar" ist seiner Meinung nach zudem der "Sprach- und Melodienreichtum" dieses "eigenen literarischen Kosmos", unterstützt durch die "makellose" Übersetzung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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