Beeindruckend ungewöhnlich
„Im Morgenlicht“ von Téa Obreht, erschienen 2024 bei Rowohlt Berlin, ist ein ausnehmend ungewöhnlicher Roman, der sehr schwer zu beschreiben ist, aber unbedingt gelesen werden sollte.
Die junge Sil kommt gemeinsam mit ihrer Mutter in Island City an, einer
dystopischen Stadt inmitten eines Unlandes, in dem es scheinbar zu einer Reihung von Katastrophen gekommen…mehrBeeindruckend ungewöhnlich
„Im Morgenlicht“ von Téa Obreht, erschienen 2024 bei Rowohlt Berlin, ist ein ausnehmend ungewöhnlicher Roman, der sehr schwer zu beschreiben ist, aber unbedingt gelesen werden sollte.
Die junge Sil kommt gemeinsam mit ihrer Mutter in Island City an, einer dystopischen Stadt inmitten eines Unlandes, in dem es scheinbar zu einer Reihung von Katastrophen gekommen ist, weshalb große Teile überschwemmt und unbewohnbar sind, weshalb viele Menschen umgesiedelt werden müssen. Sil landet mit ihrer Mutter bei ihrer Tante Ena in einem Hochhaus, das den Namen „Morgenlicht“ trägt. Sil, die nur wenig über ihre eigene Vergangenheit weiß und von ihrer Mutter streng verordnet bekommt, nicht über die Vergangenheit zu sprechen, mäandert im Morgenlicht durch die Räume und schlägt die Zeit tot, denn für ein wirkliches Ankommen fehlt ihr eine Perspektive.
Die Familiengeschichte von Sil deckt sich nur langsam und in dünnen Schichten auf, es gibt viele Rätsel und letztlich folgen wir dem, was Sil herausfindet, wodurch man schnell eine gute Verbindung zu ihr empfindet. Das World Building gelingt elegant, Island City füllt sich mit immer mehr Details, je weiter die Handlung voranschreitet und auch wenn es keine Klarheit gibt, was genau die Katastrophe erzeugt hat, kommen immer mehr Versatzstücke ans Licht, Dürre, Erdrutsch, Krieg... Die Figuren tragen alle ein Geheimnis, so dass jede einzige sehr spannend ist. Die Sprache ist einfach toll, es sind einzigartige Wortschöpfungen und Kombinationen dabei, und Obreht zeigt sich als Meisterin der Atmosphäre. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr ziehen Mystik und vielleicht auch Magie in das rätselhafte Geschehen ein und immer mehr Geschichten in der Geschichte, die jedoch alle ihren Sinn haben – und zunehmend auch eine schwelende Bedrohung. Bis zum Schluss lässt sich nicht entscheiden, ob wir uns in einer Fantasy bewege oder in der phantastischen Wahrnehmung eines Kindes, das Phantasie und Überhöhung als Coping-Mechanismus für Leid benutzt.
Obreht webt viele zeitgeschichtliche Bezüge in ihr Buch ein, ohne sie explizit zu machen, die Balkankriege, die Täter des 3. Reiches, Flucht und Migration, Umweltkatastrophen, die Frage nach der Bedeutung von Herkunft, um nur ein paar zu nennen, aber all das geschieht ganz unterschwellig im Untergrund der Haupthandlung. Hier ist alles geboten, Fiktion, Märchen und Dystopie, alles sehr gut miteinander verknüpft, absolut spannend auf einem sprachlich hohen Niveau geschrieben und zu keiner Zeit langweilig. Der ungewöhnliche Genre-Mix funktioniert ausgezeichnet und wird von durchweg starken Charakteren getragen. Ein wirklich besonderes Buch, das alte Mythen mit einer düsteren Zukunft verknüpft. Kleine Abzüge gibt es dennoch, denn Obreht entscheidet sich, wie so viele Autor:innen in letzter Zeit, für ein offenes Ende, das viele Stränge nicht vollendet oder erklärt. Das fand ich in diesem Fall leider sehr schade, denn gerne hätte ich noch mehr erfahren über diese Welt und ihren Weg ins Chaos und über die Frage, was nun wirklich geschah und was nur die Phantasie eines Kindes ist. Darum kann ich nicht die volle Sternenzahl an den Himmel werfen – ganz sicher aber leuchtet das Morgenlicht auch so stark genug, um unbedingt gelesen zu werden, denn, um den Kreis zum Anfang zu schließen: Dieses Buch ist einzigartig ungewöhnlich und muss erlebt werden.