Die Welt ist heute wieder ein beunruhigender Ort, vom neuen Nationalismus in China über die gespaltenen Gesellschaften in Europa und den USA bis hin zum furchterregenden Aufstieg des IS. Wenn man einen Blick auf die Flaggen dieser Länder und Organisationen wirft, dann wird vieles klar, was auf den ersten Blick völlig unverständlich erscheint.
Denn seit Jahrtausenden verkörpern Flaggen unsere Hoffnungen und Träume. Wir schwenken sie, wir verbrennen sie, wir marschieren unter ihren Farben. Flaggen wehen vor der UNO, auf arabischen Straßen, in den Vorgärten von Texas. Ihre Symbole trennen oder vereinen uns. Und auch im 21. Jahrhundert sterben noch Menschen dafür.
Denn seit Jahrtausenden verkörpern Flaggen unsere Hoffnungen und Träume. Wir schwenken sie, wir verbrennen sie, wir marschieren unter ihren Farben. Flaggen wehen vor der UNO, auf arabischen Straßen, in den Vorgärten von Texas. Ihre Symbole trennen oder vereinen uns. Und auch im 21. Jahrhundert sterben noch Menschen dafür.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Ein Stückchen Stoff und doch viel mehr
Angetreten zum Appell: Tim Marshall stöbert in der Geschichte der Flaggen und stößt dabei auf skurrile und verstörende Fälle.
Von Hannes Hintermeier
Fahnen sind sichtbar gemachter Wind, notierte Elias Canetti. Wenn sie nur das wären, könnte man es bei diesem poetischen Bild belassen. Im politischen Alltag sind sie rund um den Globus viel mehr - Symbole für Nationalstaaten, die mit ihnen angeblich in den Nationalcharakter eingeschriebene Eigenschaften kommunizieren. Andere Flaggen sind Friedensoder Hilfsangebote, Signale und Handlungsanweisungen. Im Namen politischer Flaggen wird gemordet und gestorben, ihr Missbrauch, gar ihre Zerstörung stehen in vielen Ländern unter empfindlichen Strafen. Wer eine Flagge - und sei es aus Versehen - verkehrt herum hisst, wird ebenso Probleme bekommen wie, wenn sie beim Einholen den Boden berührt. "Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft", heißt es im deutschem Gesetz. Ähnlich regeln das Frankreich, Italien, Österreich, die Schweiz und China.
Was immer Flaggen also für den Einzelnen bedeuten, ernst zu nehmen sind sie in jedem Fall. Das immerhin macht der englische Journalist Tim Marshall in seinem Buch "Im Namen der Flagge" deutlich. Marshall ist hierzulande mit dem Band "Die Macht der Geographie" (2015) bekannt geworden. Nun legt er nach, mit einer Mischung aus Geschichtsbuch, Wikipedia, Anekdote und Reportage. Er kann den langgedienten Auslandskorrespondenten, der für BBC und Sky viele Länder bereist, vier Bücher und diverse Beiträge in führenden Blättern seines Landes veröffentlich hat, nicht leugnen.
Das gründelt nicht immer tief und kippt gelegentlich in verkrampfte Lockerheit ("Zeit für eine Pause. Was uns zur italienischen Flagge bringt. Mittagessen ist angesagt."). Aber Marshall will kein akademisch fundiertes Nachschlagewerk liefern, sondern aus dem prallen Leben erzählen. Das beginnt mit der amerikanischen Flagge und deren Kultstatus. Den Umgang mit den Stars and Stripes regelt ein Buch, darin auch Vorschriften für die richtige Manier, sich von einer zerschlissenen Flagge zu verabschieden. Zur Zeremonie gehörten ein Feuer, das mit vier Holzarten entfacht werden soll (Mammutbaum, Walnuss, Zeder, Eiche), sowie feierliche Sprüche. Man hat es zweifellos mit religiös überhöhter Verehrung zu tun.
Auch die Bewohner des Vereinigten Königreichs genießen (noch) den Vorzug, sich unter dem Banner des Union Jack versammeln zu können: "Diese eine Flagge ist das einzige Objekt, das die gesamte nationale Identität repräsentiert", zitiert der Autor den britischen Vexillologen Graham Bartram. Lateinisch "vexillum" (Fahne) gab der Flaggenkunde den Namen. Ein Blick in die Statistik: 193 Mitgliedstaaten haben die Vereinten Nationen, etwa ein Drittel dieser Flaggen operiert mit religiösen Symbolen. "Von diesen vierundsechzig hat ungefähr die Hälfte ein christliches Symbol, und einundzwanzig haben ein islamisches." Die Zahl der Flaggen, die das Kreuz verwenden, beziffert Marshall mit zweiunddreißig, die meisten davon in Europa. Die Rolle, die Flaggen für populistische Bewegungen spielen, streift das Buch nur. Entspannt sieht der Autor jedenfalls die Hinwendung der Deutschen zu ihrer Flagge im Verlauf der Fußball-Weltmeisterschaft 2006: "Der langsam aufkeimende Nationalismus aufgrund der Flüchtlingskrise hat eine andere Qualität als die mörderische Hysterie der Vorkriegszeit und überwiegend nicht die Neigung, sich mit der Nationalflagge zu schmücken."
Ein Streifzug durch die Entstehungsgeschichten diverser Landesflaggen behandelt die Farben Arabiens und die neuen Identitäten der Länder in den Vor- und Hinterhöfen Russlands. Die größte Flagge der Welt weht in Dschidda. An einem 171 Meter hohen Mast hängt eine mehr als 1600 Quadratmeter große und 570 Kilogramm schwere Flagge Saudi-Arabiens. Marshall beschränkt sich nicht nur auf Staatsflaggen, sondern widmet sich auch Organisationen wie dem Roten Kreuz oder der Nato, der Zielflagge und der olympischen Flagge. Ausführlich geht er auf "Flaggen der Angst" ein, wie sie zuletzt erfolgreich Terrororganisationen wie der "Islamische Staat", zuvor bereits die Hizbullah, Hamas, Fatah oder die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden eingesetzt haben. Ähnliche Schrecken hat wohl nur die Piratenflagge verbreitet und tut dies bis heute. Ihr Konterpart, die Parlamentärflagge genannte weiße Fahne als Zeichen der Feuerpause, des freien Geleits oder der Kapitulation, genießt deshalb hohen Schutz: Deren Missbrauch zählt zu den schändlichsten Verbrechen.
Es gibt Fahnen mit hohem Wiedererkennungswert und Beliebtheitsgrad wie etwa die brasilianische, wenig bekannte wie die Mazedoniens, ästhetisch überragende wie jene Südkoreas, und es gibt Flaggenfamilien wie jene der skandinavischen Länder und die viele Variationen der gleichen Farben aufweisenden Flaggen der Länder Afrikas. Welche Wucht Flaggen entwickeln, illustriert Marshall mit einer Szene aus einem Fußballstadion in Belgrad, wo 2014 nach fast fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder die serbische gegen die albanische Nationalmannschaft antrat. Mittels einer Drohne wurde eine Fahne über dem Spielfeld abgesenkt, die eine Karte von Großalbanien zeigte, den doppelköpfigen schwarzen Adler des Landes und Porträts zweier Freiheitskämpfer. "Die Botschaft lautete", schreibt Marshall, "dass die Albaner, die sich als Nachfahren der Illyrer des vierten vorchristlichen Jahrhunderts betrachten, die rechtmäßigen Bewohner der Region seien - und nicht die Slawen, die erst im sechsten Jahrhundert nach Christus kamen." Im Stadion brach ein Tumult aus, die Politik zog nach.
Der englische Originaltitel "Worth Dying For" klingt vollmundiger als die deutsche Übersetzung des Titels. Letztlich aber wird nicht nur diese Frage weiträumig umfahren: Warum setzen Menschen für Flaggen ihr Lebens aufs Spiel? Welche Rolle spielen sie in einem Europa, in dem überall nationalistische Parteien auf dem Vormarsch sind? Darüber erzählt Marshall am Ende dann doch zu wenig.
Tim Marshall: "Im Namen der Flagge". Die Macht politischer Symbole.
Aus dem Englischen von Birgit Brandau.
dtv Verlagsgesellschaft, München 2017.
320 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angetreten zum Appell: Tim Marshall stöbert in der Geschichte der Flaggen und stößt dabei auf skurrile und verstörende Fälle.
Von Hannes Hintermeier
Fahnen sind sichtbar gemachter Wind, notierte Elias Canetti. Wenn sie nur das wären, könnte man es bei diesem poetischen Bild belassen. Im politischen Alltag sind sie rund um den Globus viel mehr - Symbole für Nationalstaaten, die mit ihnen angeblich in den Nationalcharakter eingeschriebene Eigenschaften kommunizieren. Andere Flaggen sind Friedensoder Hilfsangebote, Signale und Handlungsanweisungen. Im Namen politischer Flaggen wird gemordet und gestorben, ihr Missbrauch, gar ihre Zerstörung stehen in vielen Ländern unter empfindlichen Strafen. Wer eine Flagge - und sei es aus Versehen - verkehrt herum hisst, wird ebenso Probleme bekommen wie, wenn sie beim Einholen den Boden berührt. "Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft", heißt es im deutschem Gesetz. Ähnlich regeln das Frankreich, Italien, Österreich, die Schweiz und China.
Was immer Flaggen also für den Einzelnen bedeuten, ernst zu nehmen sind sie in jedem Fall. Das immerhin macht der englische Journalist Tim Marshall in seinem Buch "Im Namen der Flagge" deutlich. Marshall ist hierzulande mit dem Band "Die Macht der Geographie" (2015) bekannt geworden. Nun legt er nach, mit einer Mischung aus Geschichtsbuch, Wikipedia, Anekdote und Reportage. Er kann den langgedienten Auslandskorrespondenten, der für BBC und Sky viele Länder bereist, vier Bücher und diverse Beiträge in führenden Blättern seines Landes veröffentlich hat, nicht leugnen.
Das gründelt nicht immer tief und kippt gelegentlich in verkrampfte Lockerheit ("Zeit für eine Pause. Was uns zur italienischen Flagge bringt. Mittagessen ist angesagt."). Aber Marshall will kein akademisch fundiertes Nachschlagewerk liefern, sondern aus dem prallen Leben erzählen. Das beginnt mit der amerikanischen Flagge und deren Kultstatus. Den Umgang mit den Stars and Stripes regelt ein Buch, darin auch Vorschriften für die richtige Manier, sich von einer zerschlissenen Flagge zu verabschieden. Zur Zeremonie gehörten ein Feuer, das mit vier Holzarten entfacht werden soll (Mammutbaum, Walnuss, Zeder, Eiche), sowie feierliche Sprüche. Man hat es zweifellos mit religiös überhöhter Verehrung zu tun.
Auch die Bewohner des Vereinigten Königreichs genießen (noch) den Vorzug, sich unter dem Banner des Union Jack versammeln zu können: "Diese eine Flagge ist das einzige Objekt, das die gesamte nationale Identität repräsentiert", zitiert der Autor den britischen Vexillologen Graham Bartram. Lateinisch "vexillum" (Fahne) gab der Flaggenkunde den Namen. Ein Blick in die Statistik: 193 Mitgliedstaaten haben die Vereinten Nationen, etwa ein Drittel dieser Flaggen operiert mit religiösen Symbolen. "Von diesen vierundsechzig hat ungefähr die Hälfte ein christliches Symbol, und einundzwanzig haben ein islamisches." Die Zahl der Flaggen, die das Kreuz verwenden, beziffert Marshall mit zweiunddreißig, die meisten davon in Europa. Die Rolle, die Flaggen für populistische Bewegungen spielen, streift das Buch nur. Entspannt sieht der Autor jedenfalls die Hinwendung der Deutschen zu ihrer Flagge im Verlauf der Fußball-Weltmeisterschaft 2006: "Der langsam aufkeimende Nationalismus aufgrund der Flüchtlingskrise hat eine andere Qualität als die mörderische Hysterie der Vorkriegszeit und überwiegend nicht die Neigung, sich mit der Nationalflagge zu schmücken."
Ein Streifzug durch die Entstehungsgeschichten diverser Landesflaggen behandelt die Farben Arabiens und die neuen Identitäten der Länder in den Vor- und Hinterhöfen Russlands. Die größte Flagge der Welt weht in Dschidda. An einem 171 Meter hohen Mast hängt eine mehr als 1600 Quadratmeter große und 570 Kilogramm schwere Flagge Saudi-Arabiens. Marshall beschränkt sich nicht nur auf Staatsflaggen, sondern widmet sich auch Organisationen wie dem Roten Kreuz oder der Nato, der Zielflagge und der olympischen Flagge. Ausführlich geht er auf "Flaggen der Angst" ein, wie sie zuletzt erfolgreich Terrororganisationen wie der "Islamische Staat", zuvor bereits die Hizbullah, Hamas, Fatah oder die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden eingesetzt haben. Ähnliche Schrecken hat wohl nur die Piratenflagge verbreitet und tut dies bis heute. Ihr Konterpart, die Parlamentärflagge genannte weiße Fahne als Zeichen der Feuerpause, des freien Geleits oder der Kapitulation, genießt deshalb hohen Schutz: Deren Missbrauch zählt zu den schändlichsten Verbrechen.
Es gibt Fahnen mit hohem Wiedererkennungswert und Beliebtheitsgrad wie etwa die brasilianische, wenig bekannte wie die Mazedoniens, ästhetisch überragende wie jene Südkoreas, und es gibt Flaggenfamilien wie jene der skandinavischen Länder und die viele Variationen der gleichen Farben aufweisenden Flaggen der Länder Afrikas. Welche Wucht Flaggen entwickeln, illustriert Marshall mit einer Szene aus einem Fußballstadion in Belgrad, wo 2014 nach fast fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder die serbische gegen die albanische Nationalmannschaft antrat. Mittels einer Drohne wurde eine Fahne über dem Spielfeld abgesenkt, die eine Karte von Großalbanien zeigte, den doppelköpfigen schwarzen Adler des Landes und Porträts zweier Freiheitskämpfer. "Die Botschaft lautete", schreibt Marshall, "dass die Albaner, die sich als Nachfahren der Illyrer des vierten vorchristlichen Jahrhunderts betrachten, die rechtmäßigen Bewohner der Region seien - und nicht die Slawen, die erst im sechsten Jahrhundert nach Christus kamen." Im Stadion brach ein Tumult aus, die Politik zog nach.
Der englische Originaltitel "Worth Dying For" klingt vollmundiger als die deutsche Übersetzung des Titels. Letztlich aber wird nicht nur diese Frage weiträumig umfahren: Warum setzen Menschen für Flaggen ihr Lebens aufs Spiel? Welche Rolle spielen sie in einem Europa, in dem überall nationalistische Parteien auf dem Vormarsch sind? Darüber erzählt Marshall am Ende dann doch zu wenig.
Tim Marshall: "Im Namen der Flagge". Die Macht politischer Symbole.
Aus dem Englischen von Birgit Brandau.
dtv Verlagsgesellschaft, München 2017.
320 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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Flaggen sind selten harmlos. Sie erzählen Geschichten von Hoffnungen und Umstürzen, sehr oft aber auch von Blut und Krieg. (...) Spannend sind vor allem die Fahnen jenseits der Nationalflaggen. Frankfurter Neue Presse
Marshall hat sehr gründlich recherchiert, das Ergebnis ist ein Panoptikum an Farben, Symbolen, Anekdoten und Wissen, das dem Leser hilft, die Welt besser zu verstehen. Stephan Klemm Kölner Stadt-Anzeiger, 26. November 2017