Nach ihrer sehr persönlichen Erzählung An das Wilde glauben führt auch Nastassja Martins neues Buch wieder nach Kamtschatka, wo die Lesenden auf alte Bekannte stoßen: die Even. Doch in Im Osten der Träume reflektiert die Anthropologin nun die ganze Geschichte ihrer Zeit mit den Even. Nach ihrer Feldforschung bei den Gwich'in in Alaska erscheint es Martin notwendig, sich auf die andere Seite der Beringstraße und des ehemaligen Eisernen Vorhangs zu begeben. In Kamtschatka lernt sie ein Even-Kollektiv kennen, das in der Sowjetunion gezwungen war, in Kolchosen sesshaft zu werden, und nach dem Zusammenbruch des Regimes beschloss, in den Wald zurückzukehren, um eine autonome Lebensweise neu zu erfinden. Diese beruht auf Fischfang, Jagd und Sammeln: ganz untypisch für die Even, die ursprünglich kleinere Rentierherden hüteten. Nastassja Martin begleitet sie und beschreibt, wie das Kollektiv den Dialog mit den Tieren und den Elementen wieder aufnimmt, wobei Träume eine essenzielle Rolle spielen. Mit ihrem neuen Alltag reagiert diese Gruppe auf die jahrzehntelangen Verheerungen, die eine koloniale Machtpolitik ihr zugefügt hat. Und zugleich versucht sie, eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden, während in unmittelbarer Nachbarschaft die Zeitbombe einer bevorstehenden Naturkatastrophe in Gestalt eines zügellosen Nickel-Extraktivismus längst zu ticken begonnen hat.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit Neugier begegnet Rezensentin Eva Behrendt dem neuen Buch der Anthropologin Nastassja Martin, das sich mit dem autochthonen Volk der Ewenen auf der russischen Vulkanhalbinsel Kamtschatka beschäftigt. Dabei geht es, indirekt anknüpfend an einen zuletzt erschienenen autofiktionalen Bericht über einen Bärenangriff, den die Autorin bei ihrer dortigen Forschung erlitt, vorrangig um die Rolle von Träumen, die in der ewenischen Kultur auch zur Kommunikation oder Verbindung mit Tieren und Natur dienen, liest Behrendt. Wie die Autorin sich mit großem Gespür für falsche Schematismen dem Thema nähere und fernab von "esoterischem Bullshit" oder "poetischer Naturvolkverklärung" die kulturelle Bedeutung des Träumens herausarbeite, scheint die Kritikerin lesenswert zu finden, auch wenn es zuweilen etwas wirr zugehe. Ein "Sammelsurium"-artiges, dabei aber stets "anregendes" Buch, so die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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