Mit diesem Buch bewegt sich Jürgen Becker im Grenzbereich der literarischen Möglichkeiten. Nach dem Journalroman Schnee in den Ardennen und den Journalgeschichten Die folgenden Seiten verbleiben nur mehr Journalsätze, die der Strom der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Imaginationen zurückläßt.
Es sind Sätze, auf die sich, in Partikeln, eine ganze Biographie reduziert. Die den Augenblick mit einer Geschichte versehen, deren Vergangenheit im Ungesagten bleibt. Die Erfahrungen konzentrieren, auf die ein Gedicht oder romanhaftes Erzählen warten könnte.Es sind Sätze, die zufällig entdeckt oder nach langen Recherchen in der Bewußtseinslandschaft entstanden sind. Die das Banale wie das Absurde benennen, das Naheliegende und das Entfernte, die Verstörungen der Kindheit und die Irritationen des Alters. Jürgen Beckers Konzept, journalhaft auf die oft so irreal erscheinende Wirklichkeit zu reagieren, kommt hier zu einer rigorosen Konsequenz: der Minimalisierung des Schreibens.
Es sind Sätze, auf die sich, in Partikeln, eine ganze Biographie reduziert. Die den Augenblick mit einer Geschichte versehen, deren Vergangenheit im Ungesagten bleibt. Die Erfahrungen konzentrieren, auf die ein Gedicht oder romanhaftes Erzählen warten könnte.Es sind Sätze, die zufällig entdeckt oder nach langen Recherchen in der Bewußtseinslandschaft entstanden sind. Die das Banale wie das Absurde benennen, das Naheliegende und das Entfernte, die Verstörungen der Kindheit und die Irritationen des Alters. Jürgen Beckers Konzept, journalhaft auf die oft so irreal erscheinende Wirklichkeit zu reagieren, kommt hier zu einer rigorosen Konsequenz: der Minimalisierung des Schreibens.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.10.2009Die Hummel im Ohr
Das Projekt Verknappung vorantreiben: Jürgen Beckers neuer Prosaband „Im Radio das Meer. Journalsätze”
Ein Garten am späten Vormittag, irgendwo im Rheinland. Schon seit einer Weile hört der Erzähler das Geräusch eines Motors, kann aber nichts erkennen, sosehr er auch sucht und lauscht. Dann, plötzlich, sieht er ein Sportflugzeug am Horizont: Langsam fliegt es auf ihn zu, kippt über die Flügelspitze ab und zieht schließlich in einem weiten Bogen über das Haus.
Eine intensive Szene, doch bei Jürgen Becker steht wenig davon, sehr wenig. Hier heißt es: „Ein kleines gelbes Flugzeug nähert sich. Dann kreist es über dem Haus. Es kreist zweimal, dreimal.” Es ist keine Erzählung, die Jürgen Becker vorträgt, ja nicht einmal ein Bild entwirft er recht eigentlich. Vielmehr sind es einzelne Sätze, die er auf den Seiten notiert, ruhig, sachlich, scheinbar ohne Zusammenhang. Alles andere entspringt den Projektionen des Lesers. Der Satz vor dem Flugzeugsatz lautet: „Am Dienstag weiß man, es geht nicht zurück.” Und gleich danach liest man: „Hörst du nicht, es hat geklingelt.”
Geschichten gegenüber ist Jürgen Becker von jeher skeptisch. Schon in seinen frühen Büchern hat er sich für das Konstellative des Schreibens interessiert. Wie kann man die Wahrnehmung so fassen, dass man sie in all ihren Widersprüchen, Flächen und zeitlichen Schichtungen erfahrbar macht? Wie lassen sie sich so in Sprache überführen, dass man dem Ganzen aus Beobachtung, Erinnerung, Gedanken und Emotionen gerecht wird? Für Jürgen Becker ist das nur innerhalb einer nichtlinearen Form des Schreibens möglich, in einer Sprache, die wie aus der Kausalität gefallen scheint, die sich rückhaltlos auf Assoziationen und das Zusammenspiel von Motiven und Figurationen einlässt.
Doch was gilt es eigentlich festzuhalten? Vielleicht weniger das, was man gemeinhin die Wirklichkeit nennt, als jene Spuren der Welt, die im Bewusstsein zu finden sind. „Es kommt auf die Bilder im Kopf an”, heißt es einmal in Beckers Buch „Schnee in den Ardennen”, „auf die visuellen Abdrücke, die das Geschehen, die Dinge um uns herum hinterlassen, und wie sie sich vermischen mit der Phantasie, mit den Erinnerungen.” Und auf jene Möglichkeiten, die in der allernächsten Umgebung auf den Schreibenden warten: das eigene Haus oder die Autobahn hinter dem Hügel. Manchmal genügt eine offene Stalltür – schon beginnt das „Geschiebe der Assoziationen”. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an wie eine Mitschrift angelegt, ein Journal, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Im Laufe der Jahre sind diese Formen immer kürzer geworden. Jetzt ist er bei „Journalsätzen” angekommen, die an manchen Stellen bloß noch aus zwei durch einen Punkt getrennten Wörtern bestehen.
250 Seiten voller Sätze – als Leser muss man sich erst einmal zurechtfinden in diesem Gefüge, man springt von Eindruck zu Eindruck, blättert vor und zurück, unschlüssig, ob man den Raum zwischen den Sätzen wirklich als Offenheit oder nicht vielmehr als Zumutung empfinden soll. Doch je weiter die Lektüre voranschreitet, desto klarer treten die Schichten dieses Schreibexperiments hervor. Erinnerungen, Zitate, Gedanken zum Schreiben oder zur Arbeitsweise des Gedächtnisses stehen neben Beobachtungen und Traumbildern, manchmal nur kleinen Geräuschmomenten. Bisweilen wiederholen sich Sätze oder werden fortgesponnen und variiert.
Eine Hummel taucht auf, brummt kurz durchs Zimmer, verschwindet wieder, um dreißig Seiten später erneut auf dem Schreibtisch zu landen. Über Wochentage und Jahreszeiten sind auch Spurenelemente eines zeitlichen Ablaufs in die gesammelten Sätze eingelassen. So wird deutlich, nach welch feinen Mustern Jürgen Becker die vermeintlichen Einzelheiten verwoben hat.
Beim Lesen entsteht der Eindruck einer starken Gleichzeitigkeit und Präsenz der Momente. Und immer wieder stößt man auf poetologische Überzeugungen, die schon in früheren Büchern Beckers zu finden sind: dass sich die Geschehnisse erst im Nachhinein bestimmen lassen, dass alle Begriffe relativ sind und eine Wahrnehmung jenseits von Bildern kaum möglich ist. Ebenso tauchen bekannte Motive auf, ein Geländewagen etwa, den der Erzähler beobachtet, oder Moritz, ein Tankwart, der die Welt auf seine Weise deutet. Vor allem aber ist stets aufs Neue die Vorstellung spürbar, dass die Vergangenheit, die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zumal, in jeder Wahrnehmung mitpulst: „Das Gewitter, das näher kommt, erinnert an das Näherkommen der Front.”
Jürgen Becker hat ein großes Gespür für das, was nicht gesagt wird. Gleichwohl gibt es in diesem Buch auch Sätze, deren Zusammenhang fremd bleibt oder die für sich betrachtet etwas zu einfach wirken. Als Leser wird man an seine Grenzen geführt. Denn immer wieder versucht man sich aus der Leere und Bezugslosigkeit zu retten, indem man Dinge selber verknüpft oder die Wörter mit Bildern und Ideen auflädt. Einerseits erfährt man so etwas über die eigenen Lektüregewohnheiten und die versteckte Sehnsucht nach Kontexten, andererseits treten Zweifel auf, ob Fügungen wie „Mittags Apfelpfannekuchen” oder „Ideen hat er schon” diesen Deutungsaufwand wirklich rechtfertigen.
Zum Glück gelingt es Jürgen Becker an vielen anderen Stellen, die Sätze in die Schwebe zu bringen und aufzuladen. Hier zeigt er nicht nur die Kraft der Stimmen, die im Gedächtnis mitschwingen – er findet auch ein labiles Gleichgewicht zwischen Zusammenhang und Auflösung, Bewegung und Stillstand, Erinnerung und Gegenwart. Die Journalsätze sind ein riskantes Unterfangen. Sie sind aber zugleich der bislang konsequenteste Versuch dieses Autors, dem Geschiebe der Assoziationen gerecht zu werden. NICO BLEUTGE
JÜRGEN BECKER: Im Radio das Meer. Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 245 S., 19,80 Euro.
„Ein kleines gelbes Flugzeug nähert sich. Dann kreist es über dem Haus”
„Am Dienstag weiß man, es geht nicht zurück”
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Das Projekt Verknappung vorantreiben: Jürgen Beckers neuer Prosaband „Im Radio das Meer. Journalsätze”
Ein Garten am späten Vormittag, irgendwo im Rheinland. Schon seit einer Weile hört der Erzähler das Geräusch eines Motors, kann aber nichts erkennen, sosehr er auch sucht und lauscht. Dann, plötzlich, sieht er ein Sportflugzeug am Horizont: Langsam fliegt es auf ihn zu, kippt über die Flügelspitze ab und zieht schließlich in einem weiten Bogen über das Haus.
Eine intensive Szene, doch bei Jürgen Becker steht wenig davon, sehr wenig. Hier heißt es: „Ein kleines gelbes Flugzeug nähert sich. Dann kreist es über dem Haus. Es kreist zweimal, dreimal.” Es ist keine Erzählung, die Jürgen Becker vorträgt, ja nicht einmal ein Bild entwirft er recht eigentlich. Vielmehr sind es einzelne Sätze, die er auf den Seiten notiert, ruhig, sachlich, scheinbar ohne Zusammenhang. Alles andere entspringt den Projektionen des Lesers. Der Satz vor dem Flugzeugsatz lautet: „Am Dienstag weiß man, es geht nicht zurück.” Und gleich danach liest man: „Hörst du nicht, es hat geklingelt.”
Geschichten gegenüber ist Jürgen Becker von jeher skeptisch. Schon in seinen frühen Büchern hat er sich für das Konstellative des Schreibens interessiert. Wie kann man die Wahrnehmung so fassen, dass man sie in all ihren Widersprüchen, Flächen und zeitlichen Schichtungen erfahrbar macht? Wie lassen sie sich so in Sprache überführen, dass man dem Ganzen aus Beobachtung, Erinnerung, Gedanken und Emotionen gerecht wird? Für Jürgen Becker ist das nur innerhalb einer nichtlinearen Form des Schreibens möglich, in einer Sprache, die wie aus der Kausalität gefallen scheint, die sich rückhaltlos auf Assoziationen und das Zusammenspiel von Motiven und Figurationen einlässt.
Doch was gilt es eigentlich festzuhalten? Vielleicht weniger das, was man gemeinhin die Wirklichkeit nennt, als jene Spuren der Welt, die im Bewusstsein zu finden sind. „Es kommt auf die Bilder im Kopf an”, heißt es einmal in Beckers Buch „Schnee in den Ardennen”, „auf die visuellen Abdrücke, die das Geschehen, die Dinge um uns herum hinterlassen, und wie sie sich vermischen mit der Phantasie, mit den Erinnerungen.” Und auf jene Möglichkeiten, die in der allernächsten Umgebung auf den Schreibenden warten: das eigene Haus oder die Autobahn hinter dem Hügel. Manchmal genügt eine offene Stalltür – schon beginnt das „Geschiebe der Assoziationen”. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an wie eine Mitschrift angelegt, ein Journal, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Im Laufe der Jahre sind diese Formen immer kürzer geworden. Jetzt ist er bei „Journalsätzen” angekommen, die an manchen Stellen bloß noch aus zwei durch einen Punkt getrennten Wörtern bestehen.
250 Seiten voller Sätze – als Leser muss man sich erst einmal zurechtfinden in diesem Gefüge, man springt von Eindruck zu Eindruck, blättert vor und zurück, unschlüssig, ob man den Raum zwischen den Sätzen wirklich als Offenheit oder nicht vielmehr als Zumutung empfinden soll. Doch je weiter die Lektüre voranschreitet, desto klarer treten die Schichten dieses Schreibexperiments hervor. Erinnerungen, Zitate, Gedanken zum Schreiben oder zur Arbeitsweise des Gedächtnisses stehen neben Beobachtungen und Traumbildern, manchmal nur kleinen Geräuschmomenten. Bisweilen wiederholen sich Sätze oder werden fortgesponnen und variiert.
Eine Hummel taucht auf, brummt kurz durchs Zimmer, verschwindet wieder, um dreißig Seiten später erneut auf dem Schreibtisch zu landen. Über Wochentage und Jahreszeiten sind auch Spurenelemente eines zeitlichen Ablaufs in die gesammelten Sätze eingelassen. So wird deutlich, nach welch feinen Mustern Jürgen Becker die vermeintlichen Einzelheiten verwoben hat.
Beim Lesen entsteht der Eindruck einer starken Gleichzeitigkeit und Präsenz der Momente. Und immer wieder stößt man auf poetologische Überzeugungen, die schon in früheren Büchern Beckers zu finden sind: dass sich die Geschehnisse erst im Nachhinein bestimmen lassen, dass alle Begriffe relativ sind und eine Wahrnehmung jenseits von Bildern kaum möglich ist. Ebenso tauchen bekannte Motive auf, ein Geländewagen etwa, den der Erzähler beobachtet, oder Moritz, ein Tankwart, der die Welt auf seine Weise deutet. Vor allem aber ist stets aufs Neue die Vorstellung spürbar, dass die Vergangenheit, die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zumal, in jeder Wahrnehmung mitpulst: „Das Gewitter, das näher kommt, erinnert an das Näherkommen der Front.”
Jürgen Becker hat ein großes Gespür für das, was nicht gesagt wird. Gleichwohl gibt es in diesem Buch auch Sätze, deren Zusammenhang fremd bleibt oder die für sich betrachtet etwas zu einfach wirken. Als Leser wird man an seine Grenzen geführt. Denn immer wieder versucht man sich aus der Leere und Bezugslosigkeit zu retten, indem man Dinge selber verknüpft oder die Wörter mit Bildern und Ideen auflädt. Einerseits erfährt man so etwas über die eigenen Lektüregewohnheiten und die versteckte Sehnsucht nach Kontexten, andererseits treten Zweifel auf, ob Fügungen wie „Mittags Apfelpfannekuchen” oder „Ideen hat er schon” diesen Deutungsaufwand wirklich rechtfertigen.
Zum Glück gelingt es Jürgen Becker an vielen anderen Stellen, die Sätze in die Schwebe zu bringen und aufzuladen. Hier zeigt er nicht nur die Kraft der Stimmen, die im Gedächtnis mitschwingen – er findet auch ein labiles Gleichgewicht zwischen Zusammenhang und Auflösung, Bewegung und Stillstand, Erinnerung und Gegenwart. Die Journalsätze sind ein riskantes Unterfangen. Sie sind aber zugleich der bislang konsequenteste Versuch dieses Autors, dem Geschiebe der Assoziationen gerecht zu werden. NICO BLEUTGE
JÜRGEN BECKER: Im Radio das Meer. Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 245 S., 19,80 Euro.
„Ein kleines gelbes Flugzeug nähert sich. Dann kreist es über dem Haus”
„Am Dienstag weiß man, es geht nicht zurück”
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2009Pfannkuchen als letzter Halt
Lapidarium: Jürgen Becker notiert stur vor sich hin
Mit unbedruckten Seiten hat Jürgen Becker 1968 auf sich aufmerksam gemacht - in seinem Prosaband "Ränder" lernt der Leser, wie groß der Abstand zwischen den Zeilen sein kann und wie viel Raum gebundenes Papier für Imagination und Assoziation lässt. Becker ist Lyriker auch außerhalb seiner Gedichte. Das zeigt sich nun auch in seinen "Journalsätzen", wo er alltägliche Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken festhält, sie von ihrem Banalitätszusammenhang loslöst und ihnen dadurch mitunter einen regelrechten Losungscharakter verleiht: "Abends kann man sitzen und etwas tun, das nichts ist."
Becker schreibt nieder, was ihm ein- und auffällt, selten nehmen die Notate mehr als eine Zeile ein. Mal drücken sie eine anthropologische Verwunderung aus ("Wenn wir den Reiher sehen, sagen wir, da oben fliegt der Reiher"), mal eine zivilisationskritische Verärgerung ("Der Briefträger bringt immer mehr Briefe, denen man ansieht, dass man sie gar nicht erst aufmachen muss"). Mitunter sind sie sogar richtig komisch, wenn etwa die Bürokratisierung des Landlebens ad absurdum geführt wird: "Für die Eier seiner Hühner braucht der Nachbar einen Stempel. Er hat keinen Stempel."
Das Arrangement der kurzen Impressionen ist nur scheinbar willkürlich. Die unzähligen "Journalsätze" sind in drei Hefte unterteilt, die wiederum eine weitere, feingliedrigere Kompositionsstruktur vermuten lassen. Denn am Ende eines jeden Hefts steht ein Dirigent Pate: "Das erste Orchester dirigierte Pierre Boulez", das zweite Karlheinz Stockhausen, das dritte Bruno Maderna. Alle drei sind Vertreter der seriellen Musik, die sich dadurch auszeichnet, dass der äußerliche Eindruck der Unordnung einer strengen inneren Ordnung entgegensteht. Wer sich der Freilegung dieser verborgenen Struktur bei Becker hingeben will, wird ein wohlkomponiertes Arrangement von Dissonanzen und Assonanzen finden, von Harmonien und Disharmonien, Fragen und Gewissheiten, Gesetz und Willkür. Zusammengenommen ergibt sich dabei ein reichlich melancholischer Ton. Einige Motive kehren immer wieder, etwa die als Kind erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Eindrücke als ständige Begleiter der Gegenwart auftauchen: "Als nach dem Krieg die Schule wieder anfing, sagten die Lehrer Guten Morgen." Kleinigkeiten, so vermitteln es Beckers Notate, lassen einen ein Leben lang nicht los.
Der beleuchtete Kiosk, der Kauz, der in der Dunkelheit ruft, die Briefträgerin, die vorbeifährt: Zufälliges wie Beständiges wird zum Gegenstand von Beckers Registrierschule, deren lapidarer Stil von unbeirrbarer Sturheit ist - und die keine fremden Autoritäten nötig hat. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählen Max Raabe, dessen Botschaft, er habe keine Botschaft, kolportiert wird, und Peter Handke, der mit dem Ratschlag zitiert wird: "Rauch nicht so viel." Dass Jürgen Becker und Peter Handke befreundet sind, lassen die Journalsätze unschwer erkennen. Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte. "Mittags Pflaumenpfannekuchen": Die letzten Gewissheiten in der Küche zu suchen scheint eine Überlebensstrategie zu sein, die im Umland von Paris, wo Handke wohnt, ebenso zu funktionieren scheint wie in "Odenthal und Köln", wo Becker lebt - an den Rändern der bergischen Gemütlichkeit.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jürgen Becker: "Im Radio das Meer". Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 244 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lapidarium: Jürgen Becker notiert stur vor sich hin
Mit unbedruckten Seiten hat Jürgen Becker 1968 auf sich aufmerksam gemacht - in seinem Prosaband "Ränder" lernt der Leser, wie groß der Abstand zwischen den Zeilen sein kann und wie viel Raum gebundenes Papier für Imagination und Assoziation lässt. Becker ist Lyriker auch außerhalb seiner Gedichte. Das zeigt sich nun auch in seinen "Journalsätzen", wo er alltägliche Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken festhält, sie von ihrem Banalitätszusammenhang loslöst und ihnen dadurch mitunter einen regelrechten Losungscharakter verleiht: "Abends kann man sitzen und etwas tun, das nichts ist."
Becker schreibt nieder, was ihm ein- und auffällt, selten nehmen die Notate mehr als eine Zeile ein. Mal drücken sie eine anthropologische Verwunderung aus ("Wenn wir den Reiher sehen, sagen wir, da oben fliegt der Reiher"), mal eine zivilisationskritische Verärgerung ("Der Briefträger bringt immer mehr Briefe, denen man ansieht, dass man sie gar nicht erst aufmachen muss"). Mitunter sind sie sogar richtig komisch, wenn etwa die Bürokratisierung des Landlebens ad absurdum geführt wird: "Für die Eier seiner Hühner braucht der Nachbar einen Stempel. Er hat keinen Stempel."
Das Arrangement der kurzen Impressionen ist nur scheinbar willkürlich. Die unzähligen "Journalsätze" sind in drei Hefte unterteilt, die wiederum eine weitere, feingliedrigere Kompositionsstruktur vermuten lassen. Denn am Ende eines jeden Hefts steht ein Dirigent Pate: "Das erste Orchester dirigierte Pierre Boulez", das zweite Karlheinz Stockhausen, das dritte Bruno Maderna. Alle drei sind Vertreter der seriellen Musik, die sich dadurch auszeichnet, dass der äußerliche Eindruck der Unordnung einer strengen inneren Ordnung entgegensteht. Wer sich der Freilegung dieser verborgenen Struktur bei Becker hingeben will, wird ein wohlkomponiertes Arrangement von Dissonanzen und Assonanzen finden, von Harmonien und Disharmonien, Fragen und Gewissheiten, Gesetz und Willkür. Zusammengenommen ergibt sich dabei ein reichlich melancholischer Ton. Einige Motive kehren immer wieder, etwa die als Kind erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Eindrücke als ständige Begleiter der Gegenwart auftauchen: "Als nach dem Krieg die Schule wieder anfing, sagten die Lehrer Guten Morgen." Kleinigkeiten, so vermitteln es Beckers Notate, lassen einen ein Leben lang nicht los.
Der beleuchtete Kiosk, der Kauz, der in der Dunkelheit ruft, die Briefträgerin, die vorbeifährt: Zufälliges wie Beständiges wird zum Gegenstand von Beckers Registrierschule, deren lapidarer Stil von unbeirrbarer Sturheit ist - und die keine fremden Autoritäten nötig hat. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählen Max Raabe, dessen Botschaft, er habe keine Botschaft, kolportiert wird, und Peter Handke, der mit dem Ratschlag zitiert wird: "Rauch nicht so viel." Dass Jürgen Becker und Peter Handke befreundet sind, lassen die Journalsätze unschwer erkennen. Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte. "Mittags Pflaumenpfannekuchen": Die letzten Gewissheiten in der Küche zu suchen scheint eine Überlebensstrategie zu sein, die im Umland von Paris, wo Handke wohnt, ebenso zu funktionieren scheint wie in "Odenthal und Köln", wo Becker lebt - an den Rändern der bergischen Gemütlichkeit.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jürgen Becker: "Im Radio das Meer". Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 244 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nico Bleutge beobachtet mit Spannung, wie Jürgen Becker seine Hinwendung zur immer knapperen Form in seinem jüngsten Buch zu einem neuen Höhepunkt treibt. Der vorliegende Band bietet nurmehr Sätze, mitunter lediglich aus zwei Wörtern bestehend, die die assoziative Weltwahrnehmung des Autors für die "Projektionen" seiner Leser öffnen, wie der Rezensent meint. Becker geht es, folgt man dem Rezensenten, um Möglichkeiten, die verschiedenen Wahrnehmungsschichten festzuhalten, in denen sich Beobachtungen, Assoziationen, Erinnerungen oder Reflexionen überlagern und mischen. Das überzeugt Bleutge an vielen Stellen durch die schiere "Präsenz der Momente". Ihm fällt zudem auf, wie subtil der Autor bei scheinbarer Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit doch "Spurenelemente eines zeitlichen Ablaufs" eingewoben hat. Nur wenn sich die Notate auf Mitteilungen wie "Mittags Apfelpfannekuchen" beschränken, verliert Beutge die Lust. Doch sind solche Schlichtheiten die Ausnahme, versichert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte.« Roman Luckscheiter Frankfurter Allgemeine Zeitung 20091211