Mit diesem Buch bewegt sich Jürgen Becker im Grenzbereich der literarischen Möglichkeiten. Nach dem Journalroman Schnee in den Ardennen und den Journalgeschichten Die folgenden Seiten verbleiben nur mehr Journalsätze, die der Strom der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Imaginationen zurückläßt.
Es sind Sätze, auf die sich, in Partikeln, eine ganze Biographie reduziert. Die den Augenblick mit einer Geschichte versehen, deren Vergangenheit im Ungesagten bleibt. Die Erfahrungen konzentrieren, auf die ein Gedicht oder romanhaftes Erzählen warten könnte.Es sind Sätze, die zufällig entdeckt oder nach langen Recherchen in der Bewußtseinslandschaft entstanden sind. Die das Banale wie das Absurde benennen, das Naheliegende und das Entfernte, die Verstörungen der Kindheit und die Irritationen des Alters. Jürgen Beckers Konzept, journalhaft auf die oft so irreal erscheinende Wirklichkeit zu reagieren, kommt hier zu einer rigorosen Konsequenz: der Minimalisierung des Schreibens.
Es sind Sätze, auf die sich, in Partikeln, eine ganze Biographie reduziert. Die den Augenblick mit einer Geschichte versehen, deren Vergangenheit im Ungesagten bleibt. Die Erfahrungen konzentrieren, auf die ein Gedicht oder romanhaftes Erzählen warten könnte.Es sind Sätze, die zufällig entdeckt oder nach langen Recherchen in der Bewußtseinslandschaft entstanden sind. Die das Banale wie das Absurde benennen, das Naheliegende und das Entfernte, die Verstörungen der Kindheit und die Irritationen des Alters. Jürgen Beckers Konzept, journalhaft auf die oft so irreal erscheinende Wirklichkeit zu reagieren, kommt hier zu einer rigorosen Konsequenz: der Minimalisierung des Schreibens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2009Pfannkuchen als letzter Halt
Lapidarium: Jürgen Becker notiert stur vor sich hin
Mit unbedruckten Seiten hat Jürgen Becker 1968 auf sich aufmerksam gemacht - in seinem Prosaband "Ränder" lernt der Leser, wie groß der Abstand zwischen den Zeilen sein kann und wie viel Raum gebundenes Papier für Imagination und Assoziation lässt. Becker ist Lyriker auch außerhalb seiner Gedichte. Das zeigt sich nun auch in seinen "Journalsätzen", wo er alltägliche Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken festhält, sie von ihrem Banalitätszusammenhang loslöst und ihnen dadurch mitunter einen regelrechten Losungscharakter verleiht: "Abends kann man sitzen und etwas tun, das nichts ist."
Becker schreibt nieder, was ihm ein- und auffällt, selten nehmen die Notate mehr als eine Zeile ein. Mal drücken sie eine anthropologische Verwunderung aus ("Wenn wir den Reiher sehen, sagen wir, da oben fliegt der Reiher"), mal eine zivilisationskritische Verärgerung ("Der Briefträger bringt immer mehr Briefe, denen man ansieht, dass man sie gar nicht erst aufmachen muss"). Mitunter sind sie sogar richtig komisch, wenn etwa die Bürokratisierung des Landlebens ad absurdum geführt wird: "Für die Eier seiner Hühner braucht der Nachbar einen Stempel. Er hat keinen Stempel."
Das Arrangement der kurzen Impressionen ist nur scheinbar willkürlich. Die unzähligen "Journalsätze" sind in drei Hefte unterteilt, die wiederum eine weitere, feingliedrigere Kompositionsstruktur vermuten lassen. Denn am Ende eines jeden Hefts steht ein Dirigent Pate: "Das erste Orchester dirigierte Pierre Boulez", das zweite Karlheinz Stockhausen, das dritte Bruno Maderna. Alle drei sind Vertreter der seriellen Musik, die sich dadurch auszeichnet, dass der äußerliche Eindruck der Unordnung einer strengen inneren Ordnung entgegensteht. Wer sich der Freilegung dieser verborgenen Struktur bei Becker hingeben will, wird ein wohlkomponiertes Arrangement von Dissonanzen und Assonanzen finden, von Harmonien und Disharmonien, Fragen und Gewissheiten, Gesetz und Willkür. Zusammengenommen ergibt sich dabei ein reichlich melancholischer Ton. Einige Motive kehren immer wieder, etwa die als Kind erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Eindrücke als ständige Begleiter der Gegenwart auftauchen: "Als nach dem Krieg die Schule wieder anfing, sagten die Lehrer Guten Morgen." Kleinigkeiten, so vermitteln es Beckers Notate, lassen einen ein Leben lang nicht los.
Der beleuchtete Kiosk, der Kauz, der in der Dunkelheit ruft, die Briefträgerin, die vorbeifährt: Zufälliges wie Beständiges wird zum Gegenstand von Beckers Registrierschule, deren lapidarer Stil von unbeirrbarer Sturheit ist - und die keine fremden Autoritäten nötig hat. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählen Max Raabe, dessen Botschaft, er habe keine Botschaft, kolportiert wird, und Peter Handke, der mit dem Ratschlag zitiert wird: "Rauch nicht so viel." Dass Jürgen Becker und Peter Handke befreundet sind, lassen die Journalsätze unschwer erkennen. Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte. "Mittags Pflaumenpfannekuchen": Die letzten Gewissheiten in der Küche zu suchen scheint eine Überlebensstrategie zu sein, die im Umland von Paris, wo Handke wohnt, ebenso zu funktionieren scheint wie in "Odenthal und Köln", wo Becker lebt - an den Rändern der bergischen Gemütlichkeit.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jürgen Becker: "Im Radio das Meer". Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 244 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lapidarium: Jürgen Becker notiert stur vor sich hin
Mit unbedruckten Seiten hat Jürgen Becker 1968 auf sich aufmerksam gemacht - in seinem Prosaband "Ränder" lernt der Leser, wie groß der Abstand zwischen den Zeilen sein kann und wie viel Raum gebundenes Papier für Imagination und Assoziation lässt. Becker ist Lyriker auch außerhalb seiner Gedichte. Das zeigt sich nun auch in seinen "Journalsätzen", wo er alltägliche Beobachtungen, Erlebnisse und Gedanken festhält, sie von ihrem Banalitätszusammenhang loslöst und ihnen dadurch mitunter einen regelrechten Losungscharakter verleiht: "Abends kann man sitzen und etwas tun, das nichts ist."
Becker schreibt nieder, was ihm ein- und auffällt, selten nehmen die Notate mehr als eine Zeile ein. Mal drücken sie eine anthropologische Verwunderung aus ("Wenn wir den Reiher sehen, sagen wir, da oben fliegt der Reiher"), mal eine zivilisationskritische Verärgerung ("Der Briefträger bringt immer mehr Briefe, denen man ansieht, dass man sie gar nicht erst aufmachen muss"). Mitunter sind sie sogar richtig komisch, wenn etwa die Bürokratisierung des Landlebens ad absurdum geführt wird: "Für die Eier seiner Hühner braucht der Nachbar einen Stempel. Er hat keinen Stempel."
Das Arrangement der kurzen Impressionen ist nur scheinbar willkürlich. Die unzähligen "Journalsätze" sind in drei Hefte unterteilt, die wiederum eine weitere, feingliedrigere Kompositionsstruktur vermuten lassen. Denn am Ende eines jeden Hefts steht ein Dirigent Pate: "Das erste Orchester dirigierte Pierre Boulez", das zweite Karlheinz Stockhausen, das dritte Bruno Maderna. Alle drei sind Vertreter der seriellen Musik, die sich dadurch auszeichnet, dass der äußerliche Eindruck der Unordnung einer strengen inneren Ordnung entgegensteht. Wer sich der Freilegung dieser verborgenen Struktur bei Becker hingeben will, wird ein wohlkomponiertes Arrangement von Dissonanzen und Assonanzen finden, von Harmonien und Disharmonien, Fragen und Gewissheiten, Gesetz und Willkür. Zusammengenommen ergibt sich dabei ein reichlich melancholischer Ton. Einige Motive kehren immer wieder, etwa die als Kind erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Eindrücke als ständige Begleiter der Gegenwart auftauchen: "Als nach dem Krieg die Schule wieder anfing, sagten die Lehrer Guten Morgen." Kleinigkeiten, so vermitteln es Beckers Notate, lassen einen ein Leben lang nicht los.
Der beleuchtete Kiosk, der Kauz, der in der Dunkelheit ruft, die Briefträgerin, die vorbeifährt: Zufälliges wie Beständiges wird zum Gegenstand von Beckers Registrierschule, deren lapidarer Stil von unbeirrbarer Sturheit ist - und die keine fremden Autoritäten nötig hat. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählen Max Raabe, dessen Botschaft, er habe keine Botschaft, kolportiert wird, und Peter Handke, der mit dem Ratschlag zitiert wird: "Rauch nicht so viel." Dass Jürgen Becker und Peter Handke befreundet sind, lassen die Journalsätze unschwer erkennen. Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte. "Mittags Pflaumenpfannekuchen": Die letzten Gewissheiten in der Küche zu suchen scheint eine Überlebensstrategie zu sein, die im Umland von Paris, wo Handke wohnt, ebenso zu funktionieren scheint wie in "Odenthal und Köln", wo Becker lebt - an den Rändern der bergischen Gemütlichkeit.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jürgen Becker: "Im Radio das Meer". Journalsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 244 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nico Bleutge beobachtet mit Spannung, wie Jürgen Becker seine Hinwendung zur immer knapperen Form in seinem jüngsten Buch zu einem neuen Höhepunkt treibt. Der vorliegende Band bietet nurmehr Sätze, mitunter lediglich aus zwei Wörtern bestehend, die die assoziative Weltwahrnehmung des Autors für die "Projektionen" seiner Leser öffnen, wie der Rezensent meint. Becker geht es, folgt man dem Rezensenten, um Möglichkeiten, die verschiedenen Wahrnehmungsschichten festzuhalten, in denen sich Beobachtungen, Assoziationen, Erinnerungen oder Reflexionen überlagern und mischen. Das überzeugt Bleutge an vielen Stellen durch die schiere "Präsenz der Momente". Ihm fällt zudem auf, wie subtil der Autor bei scheinbarer Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit doch "Spurenelemente eines zeitlichen Ablaufs" eingewoben hat. Nur wenn sich die Notate auf Mitteilungen wie "Mittags Apfelpfannekuchen" beschränken, verliert Beutge die Lust. Doch sind solche Schlichtheiten die Ausnahme, versichert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die beiden Autoren teilen einen romantischen Erfahrungs- und Weltbegriff und ähneln sich im Ton, dass man Becker fast einen Apostel Handkes nennen wollte.« Roman Luckscheiter Frankfurter Allgemeine Zeitung 20091211