Was sagt uns der Grundriss einer amerikanischen Stadt über den amerikanischen Traum? Wie haben Eisenbahn, Auto und Flugzeug unseren Sinn für Distanzen verändert? Auf solche Fragen geben herkömmliche Geschichtsbücher keine Antwort. Karl Schlögel findet sie an überraschenden Stellen: in Fahrplänen und Adressbüchern, auf Landkarten und Grundrissen. Er holt damit die Geschichte an ihre Schauplätze zurück, macht sie anschaulich, lebendig und wunderbar lesbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Materialistischer Schuß vor den Bug der Geschichte
Karl Schlögel beobachtet die Historiker bei der Kehre zum Raum und schreibt ihnen dazu das Adreßbuch / Von Christoph Albrecht
Der verlorene Sohn, der sich lange in der Fremde herumgetrieben hat, kehrt heim. Für den Vater ist das ein Tag des Jubels. Doch der daheimgebliebene Bruder blickt sorgenvoll auf sein Erbteil. Nur das neugierige Gesinde, die Zuschauer des Spektakels, wir also, werden in jedem Fall gut unterhalten: Wir lauschen den Abenteuern aus der Fremde, und wir weiden uns schadenfroh an den kleinlichen Ängsten des Erstgeborenen, seinem Neid und seiner Mißgunst. Hat er uns mit seinem Moralisieren über Gehorsam, Fleiß und Sparsamkeit nicht genug gelangweilt?
Eine solche Heimkehr ist uns verkündet. Für nächstes Jahr im September. In Kiel. Auf dem 45. Deutschen Historikertag. "Raum" kehrt wieder - ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, ohne Beiwörter, die ihn auf etwas geographisch oder geschichtlich Bestimmtes eingrenzen. "Kommunikation und Raum" heißt das Motto des Festes. "Raum", der Zeitgeborene der geschichtlichen Anschauung, sei eine "weitgehend verdrängte, weil nationalistisch vereinnahmte Grundbestimmung allen historischen Geschehens", so heißt es in der Ankündigung. Raum hat sich zur Hure des Nationalismus ins Bett gelegt, doch ist der Sünder wieder lebendig geworden, und Zeit soll ihn in die Arme schließen, fordert Vater Geschichte.
Die Historiker bereiten jetzt ihre Thesenpapiere für den großen Tag der Auferstehung vor. Sie werden sich in den Bibliotheken auf Bücher stürzen, die Ausdrücke wie "Raum" oder "Geopolitik" im Titel führen. Sie werden daraus die aktuellen "Catchwords" ziehen, um zumindest vordergründig ihre Versöhnungsbereitschaft zu belegen. Stichwortgeber und Drehbuch für das Fest wird vor allem das neue Buch des Historikers Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit".
Das Tagungsmotto "Kommunikation und Raum" übersetzt Schlögel im Untertitel in "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik". Gemeint ist in der Hansestadt Kiel und in der Grenzstadt Frankfurt an der Oder, wo Schlögel lehrt, dasselbe: daß man den Blick eher auf dauerhafte Strukturen als auf das Ereignishafte der Geschichte richtet, daß man die "raumprägenden" Wirkungen unpersönlicher "Infrastruktur" wie Straßen und Wasserwege, Buchdruckereien und Telegraphenleitungen, mathematischer Gleichungen und physikalischer Experimente untersucht, anstatt etwa nur die Geschichte großer Männer (und inzwischen natürlich auch Frauen) und Gebilde, der weltbewegenden Ideen und Werke zu erzählen.
Wir neugierigen Knechte am Rande des Festes wollen aber dreierlei wissen: Was hatte es eigentlich auf sich mit den sagenhaften Sünden, die jetzt so großmütig verziehen werden? Wie kam es zu der spektakulären Umkehr? Und welche Leistungen im politischen Schweinehüten oder quellenkundlichen Ackerbau verspricht uns der geläuterte Nichtsnutz "Raum" für die Zukunft? Literaturhistoriker wie Erhard Schütz haben an den ästhetischen Wert erinnert, den die Nationalsozialisten mit ihren Autobahnen verbanden. Die buchstäbliche Erfahrung der Landschaft durch die "Volksgemeinschaft" war vielleicht noch wichtiger als der militärische Nutzen. Die Einsicht, daß die Visionen der Nationalsozialisten "tatsächlich räumlich-anschaulich ausformuliert" waren, macht auch für Schlögel dessen "suggestive Durchschlagskraft und Wucht" begreiflich. Dazu gehörte auch der Traum vom "Osten". Mit fliegenden Fahnen sei die Geopolitik zu Hitler übergewechselt. Doch die "Neuordnung" des Ostens war "vor allem ein biopolitisches, dann erst geopolitisches Programm". Unser verlorener Sohn, ist er nicht eher Opfer einer "intellektuellen Vergiftungsarbeit" der deutschen Wissenschaft, einer Ethnisierung und Vergewaltigung, nach der er sich im Lotterbett des Rassismus wiederfand, gemeinsam mit Anthropologen, Ethnologen, Archäologen, Linguisten, die darin die Wonnen der Barbarei, des Machtwahns, des eingebildeten Herrenmenschentums viel ausschweifender auskosteten?
Man wird Schlögel vermutlich zustimmen, wenn er den Vorrang der "Rasse" vor dem "Raum" in der Ideologie der Nationalsozialisten feststellt. Doch ist dieser Unterschied entscheidend? Welche Hure den speziellen Vorlieben eines Freiers am ehesten entspricht, ist ja Zufall. Haben sie sich nicht alle angeboten? Auch Archivare, Historiker oder Bevölkerungswissenschaftler haben sich in den Think Tanks gern hingegeben. Überhaupt scheint uns die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert überall beweisen zu wollen, daß sie sich praktisch nützlich machen kann, sei es durch historische Gutachten oder technische Blaupausen. Denken wir nur an den Bau der Atombombe. Die Ziele der Nationalsozialisten waren verbrecherisch. Also waren diejenigen, die sie mit welcher Wissenschaft auch immer unterstützen, Verbrecher. Will man so etwa Geopolitik rehabilitieren, muß man diese Disziplin deshalb nicht moralisch reinigen, sondern man muß den Gehalt an Pseudowissenschaft und ideologisch bedingter Meßungenauigkeit ermitteln, durch den sie verdorben ist. Mit anderen Worten: Zu was ist der verlorene Sohn und seine besudelten Werkzeuge nütze? Gibt es ein Objekt, das zu seinem verbogenen Werkzeug überhaupt passen könnte?
Doch bleiben wir vorher bei unserer zweiten Frage: Wie kam es, daß man sich in Deutschland an den unanständigen Reiz von Wörtern wie "Geopolitik" und "Raum" wieder erinnerte? Wenn die Historiker in Kiel zum Raum zurückkehren, vollziehen sie damit offiziell eine Wende, die man als "spatial turn" bezeichnet. Schlögel bringt diese Wende mit dem Niedergang des Historismus, der Zersetzung der kritischen Gesellschaftstheorie und den "Raumrevolutionen" von 1989 und 2001 in Zusammenhang. Der Historiker Wolfgang Weber hat gezeigt, daß die elitäre Haltung des Historismus schon an der Vermassung der Universitäten zugrunde gehen mußte. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes gerät alle Wissenschaft unter den Zwang, sich neu zu legitimieren: Es genügt nicht mehr, "Freiheit" im Gegensatz zu kommunistischer Kommandowissenschaft zu repräsentieren. Für Schlögel ist nur entscheidend, daß die Krise des Historismus den "disziplinären Druck der Fakultäten" lockert und den Blick auf die "räumliche Seite der geschichtlichen Welt" freigibt. Seit dem Fall der Mauer wurden viele Grenzen - oft mit Blut - neu gezogen, und unsere Weltbilder wurden zu Makulatur wie die alten Karten und Atlanten. Vor dem "11. September" schien sich die Welt für manchen im Virtuellen zu verflüchtigen. Danach beginnen neue globale Konfliktlinien unsere mentalen Karten zu prägen. Das alles ergibt einen gewalttätigen "Schuß Materialismus" vor den Bug der Geschichtswissenschaft.
Die Geschichte wird dadurch von ihrem sicheren narrativen Weg entlang der Küstenlinie mit ihren markanten Hafenstädten und Leuchttürmen hinaus ins offene Meer getrieben. Hier also muß sich der orientierungschaffende Nutzen der Kehre zum "Raum" beweisen. In knapp fünfzig Essays skizziert Schlögel die Karte eines Archipels möglicher Themen: Geist und Zeichensprache der Karten, Krieg und Beobachtung, die topographische Hermeneutik Walter Benjamins oder die räumliche Sichtweise des Kartographen und Meisteragenten Sándor Radó, die meßtechnische Konstruktion von Nationen und Empires, die kartographische Erfindung des amerikanischen Kapitalismus, Landnahme und Namensgebung, die Physiognomie von Landschaften und Trottoirs, von Städten und Gebäuden, die raumbildende Macht von Infrastruktur, die Poesie von Eisenbahnen, Telegraphenleitungen, Highways, die Topographien des Terrors, der Flucht, des Sterbens.
Die meisten dieser Essays sind "Vorüberlegungen zu kommenden Arbeiten" oder appetitmachende Umschreibungen wegweisender Veröffentlichungen, deren Nachzügler alle jene sind, die demnächst in Kiel den "spatial turn" vollziehen. Oder in der Sprache der Segler: die mit dem Wehen des Zeitgeists im Rücken die "Halse" in den Raum des Gleichzeitigen, der mannigfaltigen Bezüge, Analogien und Vernetzungen machen.
Originell wie die übrigen Bücher Schlögels sind jedoch die kleinen Studien über Adreßbücher, alte Kursbücher der Eisenbahn oder die Baedeker der Touristen. Schlögel liest sie als "Quellen sui generis", nicht nur als historische Hilfsmittel. Das Berliner Adreßbuch erschließt uns Schlögel als "Dokumentationen der Gleichzeitigkeit": "Soziogramm und Organigramm der politischen und ideologischen Apparate", "Museum untergegangener Professionen", Zeugnis des Wunders menschlicher Vergesellschaftung, aber auch Proskriptionsliste ermordeter jüdischer Mitbürger und Werbemedium für Enttrümmerungs- und Schuttbeseitigungsfirmen nach dem Krieg. Die Wiederkehr des Moskauer Adreßbuchs 1987 war symptomatisch für "Krise und Erneuerung der russischen Gesellschaft unter Gorbatschow". Schlögels vorläufiges Adreßbuch raumbezogener historischer Themen will symptomatisch sein für Krise und Erneuerung der Geschichtswissenschaft.
Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit". Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser Verlag, München 2003. 566 S., geb., 25,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Schlögel beobachtet die Historiker bei der Kehre zum Raum und schreibt ihnen dazu das Adreßbuch / Von Christoph Albrecht
Der verlorene Sohn, der sich lange in der Fremde herumgetrieben hat, kehrt heim. Für den Vater ist das ein Tag des Jubels. Doch der daheimgebliebene Bruder blickt sorgenvoll auf sein Erbteil. Nur das neugierige Gesinde, die Zuschauer des Spektakels, wir also, werden in jedem Fall gut unterhalten: Wir lauschen den Abenteuern aus der Fremde, und wir weiden uns schadenfroh an den kleinlichen Ängsten des Erstgeborenen, seinem Neid und seiner Mißgunst. Hat er uns mit seinem Moralisieren über Gehorsam, Fleiß und Sparsamkeit nicht genug gelangweilt?
Eine solche Heimkehr ist uns verkündet. Für nächstes Jahr im September. In Kiel. Auf dem 45. Deutschen Historikertag. "Raum" kehrt wieder - ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, ohne Beiwörter, die ihn auf etwas geographisch oder geschichtlich Bestimmtes eingrenzen. "Kommunikation und Raum" heißt das Motto des Festes. "Raum", der Zeitgeborene der geschichtlichen Anschauung, sei eine "weitgehend verdrängte, weil nationalistisch vereinnahmte Grundbestimmung allen historischen Geschehens", so heißt es in der Ankündigung. Raum hat sich zur Hure des Nationalismus ins Bett gelegt, doch ist der Sünder wieder lebendig geworden, und Zeit soll ihn in die Arme schließen, fordert Vater Geschichte.
Die Historiker bereiten jetzt ihre Thesenpapiere für den großen Tag der Auferstehung vor. Sie werden sich in den Bibliotheken auf Bücher stürzen, die Ausdrücke wie "Raum" oder "Geopolitik" im Titel führen. Sie werden daraus die aktuellen "Catchwords" ziehen, um zumindest vordergründig ihre Versöhnungsbereitschaft zu belegen. Stichwortgeber und Drehbuch für das Fest wird vor allem das neue Buch des Historikers Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit".
Das Tagungsmotto "Kommunikation und Raum" übersetzt Schlögel im Untertitel in "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik". Gemeint ist in der Hansestadt Kiel und in der Grenzstadt Frankfurt an der Oder, wo Schlögel lehrt, dasselbe: daß man den Blick eher auf dauerhafte Strukturen als auf das Ereignishafte der Geschichte richtet, daß man die "raumprägenden" Wirkungen unpersönlicher "Infrastruktur" wie Straßen und Wasserwege, Buchdruckereien und Telegraphenleitungen, mathematischer Gleichungen und physikalischer Experimente untersucht, anstatt etwa nur die Geschichte großer Männer (und inzwischen natürlich auch Frauen) und Gebilde, der weltbewegenden Ideen und Werke zu erzählen.
Wir neugierigen Knechte am Rande des Festes wollen aber dreierlei wissen: Was hatte es eigentlich auf sich mit den sagenhaften Sünden, die jetzt so großmütig verziehen werden? Wie kam es zu der spektakulären Umkehr? Und welche Leistungen im politischen Schweinehüten oder quellenkundlichen Ackerbau verspricht uns der geläuterte Nichtsnutz "Raum" für die Zukunft? Literaturhistoriker wie Erhard Schütz haben an den ästhetischen Wert erinnert, den die Nationalsozialisten mit ihren Autobahnen verbanden. Die buchstäbliche Erfahrung der Landschaft durch die "Volksgemeinschaft" war vielleicht noch wichtiger als der militärische Nutzen. Die Einsicht, daß die Visionen der Nationalsozialisten "tatsächlich räumlich-anschaulich ausformuliert" waren, macht auch für Schlögel dessen "suggestive Durchschlagskraft und Wucht" begreiflich. Dazu gehörte auch der Traum vom "Osten". Mit fliegenden Fahnen sei die Geopolitik zu Hitler übergewechselt. Doch die "Neuordnung" des Ostens war "vor allem ein biopolitisches, dann erst geopolitisches Programm". Unser verlorener Sohn, ist er nicht eher Opfer einer "intellektuellen Vergiftungsarbeit" der deutschen Wissenschaft, einer Ethnisierung und Vergewaltigung, nach der er sich im Lotterbett des Rassismus wiederfand, gemeinsam mit Anthropologen, Ethnologen, Archäologen, Linguisten, die darin die Wonnen der Barbarei, des Machtwahns, des eingebildeten Herrenmenschentums viel ausschweifender auskosteten?
Man wird Schlögel vermutlich zustimmen, wenn er den Vorrang der "Rasse" vor dem "Raum" in der Ideologie der Nationalsozialisten feststellt. Doch ist dieser Unterschied entscheidend? Welche Hure den speziellen Vorlieben eines Freiers am ehesten entspricht, ist ja Zufall. Haben sie sich nicht alle angeboten? Auch Archivare, Historiker oder Bevölkerungswissenschaftler haben sich in den Think Tanks gern hingegeben. Überhaupt scheint uns die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert überall beweisen zu wollen, daß sie sich praktisch nützlich machen kann, sei es durch historische Gutachten oder technische Blaupausen. Denken wir nur an den Bau der Atombombe. Die Ziele der Nationalsozialisten waren verbrecherisch. Also waren diejenigen, die sie mit welcher Wissenschaft auch immer unterstützen, Verbrecher. Will man so etwa Geopolitik rehabilitieren, muß man diese Disziplin deshalb nicht moralisch reinigen, sondern man muß den Gehalt an Pseudowissenschaft und ideologisch bedingter Meßungenauigkeit ermitteln, durch den sie verdorben ist. Mit anderen Worten: Zu was ist der verlorene Sohn und seine besudelten Werkzeuge nütze? Gibt es ein Objekt, das zu seinem verbogenen Werkzeug überhaupt passen könnte?
Doch bleiben wir vorher bei unserer zweiten Frage: Wie kam es, daß man sich in Deutschland an den unanständigen Reiz von Wörtern wie "Geopolitik" und "Raum" wieder erinnerte? Wenn die Historiker in Kiel zum Raum zurückkehren, vollziehen sie damit offiziell eine Wende, die man als "spatial turn" bezeichnet. Schlögel bringt diese Wende mit dem Niedergang des Historismus, der Zersetzung der kritischen Gesellschaftstheorie und den "Raumrevolutionen" von 1989 und 2001 in Zusammenhang. Der Historiker Wolfgang Weber hat gezeigt, daß die elitäre Haltung des Historismus schon an der Vermassung der Universitäten zugrunde gehen mußte. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes gerät alle Wissenschaft unter den Zwang, sich neu zu legitimieren: Es genügt nicht mehr, "Freiheit" im Gegensatz zu kommunistischer Kommandowissenschaft zu repräsentieren. Für Schlögel ist nur entscheidend, daß die Krise des Historismus den "disziplinären Druck der Fakultäten" lockert und den Blick auf die "räumliche Seite der geschichtlichen Welt" freigibt. Seit dem Fall der Mauer wurden viele Grenzen - oft mit Blut - neu gezogen, und unsere Weltbilder wurden zu Makulatur wie die alten Karten und Atlanten. Vor dem "11. September" schien sich die Welt für manchen im Virtuellen zu verflüchtigen. Danach beginnen neue globale Konfliktlinien unsere mentalen Karten zu prägen. Das alles ergibt einen gewalttätigen "Schuß Materialismus" vor den Bug der Geschichtswissenschaft.
Die Geschichte wird dadurch von ihrem sicheren narrativen Weg entlang der Küstenlinie mit ihren markanten Hafenstädten und Leuchttürmen hinaus ins offene Meer getrieben. Hier also muß sich der orientierungschaffende Nutzen der Kehre zum "Raum" beweisen. In knapp fünfzig Essays skizziert Schlögel die Karte eines Archipels möglicher Themen: Geist und Zeichensprache der Karten, Krieg und Beobachtung, die topographische Hermeneutik Walter Benjamins oder die räumliche Sichtweise des Kartographen und Meisteragenten Sándor Radó, die meßtechnische Konstruktion von Nationen und Empires, die kartographische Erfindung des amerikanischen Kapitalismus, Landnahme und Namensgebung, die Physiognomie von Landschaften und Trottoirs, von Städten und Gebäuden, die raumbildende Macht von Infrastruktur, die Poesie von Eisenbahnen, Telegraphenleitungen, Highways, die Topographien des Terrors, der Flucht, des Sterbens.
Die meisten dieser Essays sind "Vorüberlegungen zu kommenden Arbeiten" oder appetitmachende Umschreibungen wegweisender Veröffentlichungen, deren Nachzügler alle jene sind, die demnächst in Kiel den "spatial turn" vollziehen. Oder in der Sprache der Segler: die mit dem Wehen des Zeitgeists im Rücken die "Halse" in den Raum des Gleichzeitigen, der mannigfaltigen Bezüge, Analogien und Vernetzungen machen.
Originell wie die übrigen Bücher Schlögels sind jedoch die kleinen Studien über Adreßbücher, alte Kursbücher der Eisenbahn oder die Baedeker der Touristen. Schlögel liest sie als "Quellen sui generis", nicht nur als historische Hilfsmittel. Das Berliner Adreßbuch erschließt uns Schlögel als "Dokumentationen der Gleichzeitigkeit": "Soziogramm und Organigramm der politischen und ideologischen Apparate", "Museum untergegangener Professionen", Zeugnis des Wunders menschlicher Vergesellschaftung, aber auch Proskriptionsliste ermordeter jüdischer Mitbürger und Werbemedium für Enttrümmerungs- und Schuttbeseitigungsfirmen nach dem Krieg. Die Wiederkehr des Moskauer Adreßbuchs 1987 war symptomatisch für "Krise und Erneuerung der russischen Gesellschaft unter Gorbatschow". Schlögels vorläufiges Adreßbuch raumbezogener historischer Themen will symptomatisch sein für Krise und Erneuerung der Geschichtswissenschaft.
Karl Schlögel: "Im Raume lesen wir die Zeit". Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser Verlag, München 2003. 566 S., geb., 25,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Mit diesem Band - einer Sammlung von beinahe fünfzig Essays - erweist sich der Historiker Karl Schlögel, stellt der Rezensent Christoph Albrecht fest, als Vorreiter des "spatial turn", der sich im Thema des diesjährigen Historikertags - Motto "Kommunikation und Raum" - ankündigt. Was aber, so Albrechts Frage, bedeutet die Rückkehr des "Raumes" als historischer Kategorie angesichts der schwer belasteten Geschichte des Begriffs in nationalistischer Geopolitik. Was dieses grundsätzliche Problem angeht, bleibt er skeptisch - die "Karte eines Archipels möglicher Themen" einer neuen historischen Raumwissenschaft, die Schlögel entwirft, scheint ihm dennoch "wegweisend". Schlögels Darstellung der Faszination von Karten, der Bezug auf Walter Benjamins "topografische Hermeneutik" erscheinen ihm viel versprechend, und originell findet er die Skizzen zu Adress- und Kursbüchern als "Quellen sui generis". Das Unbehagen Albrechts, das bis zuletzt nicht verschwindet, gilt offenbar eher der Richtung, die ihm nicht passt, als dem Buch, das er eigentlich bespricht.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Eine wunderbare Lektüre ... Karl Schlögel ist ein grandioser Landschaftsmaler, vor allem bei der Charakterisierung osteuropäischer Räume. Er hat ein Werk der Leidenschaft geschrieben, wie es die Geschichtswissenschaft in jeder Generation nur wenige Male hervorbringt. Hier hat ein König gebaut, der noch vielen Kärrnern zu tun geben wird." Gustav Seibt, Literaturen, 1/2 2004
"Karl Schlögel vermisst Europa neu." Johann Michael Möller, Die Welt, 08.11.03
"Ein Buch von tiefem Ernst und großer Leichtigkeit, ein Pamphlet und eine Spurenlese, dicht und welthaltig. Nur zu glänzen ist schon eine ganze Menge. Dieses Buch glüht von innen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03
"Man kann in das Buch irgendwo einsteigen, in der Mitte oder auch am Ende, in ihm herumgehen, neugierig flanieren auf Haupt- und Nebenwegen vom Wissen über den Raum. Der Inhalt hat seine passende Form gefunden." Hermann Horstkotte, Rheinischer Merkur, 09.10.03
"Ein Dutzend Jahre nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums zieht Schlögel seine methodische Bilanz, dem wir einige der eindrucksvollsten Schilderungen des wieder erwachenden Osteuropa verdanken ... Schlögels Buch lässt die ersten Linien dieses neuen europäischen 'Geschichtshorizontes' durchschimmern." Johann Michael Möller, Literarische Welt, 08.11.03
"Einer der versiertesten historiografischen Virtuosen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03
"Unter den deutschen Osteuropa-Historikern der Gegenwart ist Karl Schlögel eine Ausnahmeerscheinung. Wort- und schriftgewaltig wie wenige seiner Zunft." Klaus Bednarz, Die Zeit, 01.08.02
"Ein Historiker mit journalistischem Spürsinn und sprachlicher Eleganz." Paul Nolte, Literaturen, 4/2002
"Karl Schlögel vermisst Europa neu." Johann Michael Möller, Die Welt, 08.11.03
"Ein Buch von tiefem Ernst und großer Leichtigkeit, ein Pamphlet und eine Spurenlese, dicht und welthaltig. Nur zu glänzen ist schon eine ganze Menge. Dieses Buch glüht von innen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03
"Man kann in das Buch irgendwo einsteigen, in der Mitte oder auch am Ende, in ihm herumgehen, neugierig flanieren auf Haupt- und Nebenwegen vom Wissen über den Raum. Der Inhalt hat seine passende Form gefunden." Hermann Horstkotte, Rheinischer Merkur, 09.10.03
"Ein Dutzend Jahre nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums zieht Schlögel seine methodische Bilanz, dem wir einige der eindrucksvollsten Schilderungen des wieder erwachenden Osteuropa verdanken ... Schlögels Buch lässt die ersten Linien dieses neuen europäischen 'Geschichtshorizontes' durchschimmern." Johann Michael Möller, Literarische Welt, 08.11.03
"Einer der versiertesten historiografischen Virtuosen." Jürgen Osterhammel, Die Zeit, 09.10.03
"Unter den deutschen Osteuropa-Historikern der Gegenwart ist Karl Schlögel eine Ausnahmeerscheinung. Wort- und schriftgewaltig wie wenige seiner Zunft." Klaus Bednarz, Die Zeit, 01.08.02
"Ein Historiker mit journalistischem Spürsinn und sprachlicher Eleganz." Paul Nolte, Literaturen, 4/2002