Produktdetails
- Verlag: Imhof, Petersberg
- Seitenzahl: 256
- Deutsch
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 1144g
- ISBN-13: 9783935590112
- ISBN-10: 3935590113
- Artikelnr.: 10098625
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.1995Hilfe zum Erinnern
Ein dokumentarischer Bildband über Erfurt in der Wendezeit
Andreas Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt 1989/90. Böhlau Verlag, Weimar, Köln und Wien 1995. 241 Seiten, Abbildungen, 29,80 Mark.
Die Veränderungen in jenen Bundesländern, die bis zum 3. Oktober 1990 in einem Staat namens DDR zusammengefaßt waren, vollziehen sich grundlegend und mit einem Tempo, das manchen zwar noch nicht hoch genug ist, aber vielen kaum mehr Zeit zum Innehalten und zum Rückblick läßt. Manches gerät in Vergessenheit. Dem wirkt Andreas Dornheim mit seiner Rückschau auf den "Politischen Umbruch in Erfurt 1989/90" entgegen. Fesselnd ist das Studium der Fotodokumentation. Die Trostlosigkeit, die Agonie des SED-Systems trat nirgends so augenfällig in Erscheinung wie im Bild der Städte, das sich freilich dank der Milliardentransfers vielfach schon gewandelt hat. Die Bildersammlung reicht von der Silvesterfeier der Kaliarbeiter in einem Betriebsferienheim am 31. Dezember 1988 über die Maidemonstration 1989, die Novemberdemonstrationen desselben Jahres bis hin zu verschiedenen Wahlkämpfen des Jahres 1990. Es fehlt nicht Bundeskanzler Kohl mit seinem Auftritt am 20. Februar 1990. Friedhelm Farthmann (SPD) versprach den Thüringern damals vom Plakat herab "Erfahrung für den Aufschwung". Als Farthmann nach verlorener Landtagswahl sich nicht mehr blicken ließ, hatten die Thüringer mit ihm ihre eigene Erfahrung gemacht. Beim Blättern durch den Bildteil lebt auch Wolfgang Schnur auf einem geschundenen Wahlplakat wieder auf, und die PDS plakatierte: "Die Zukunft hat zwei Namen. Gregor Gysi. Hans Modrow." Im Textteil des Buches läßt Dornheim - unterstützt durch zahlreiche Quellenverweise - die Fakten sprechen und den Leser werten. Dornheim stellt sich vor die evangelische Kirche, gegen die die Vorwürfe der Kumpanei mit SED-Funktionären sowie der Systemstabilisierung durch die Übernahme einer Pufferfunktion zwischen dem Staat und seinen Kritikern erhoben worden seien. Aus der Tatsache, daß besonders viele Inoffizielle Mitarbeiter mit zum Teil beachtlichen Erfolg auf die Kirche angesetzt waren, folgert Dornheim, daß die Kirche als gefährlich eingestuft worden sei. Der katholischen Kirche in der DDR schreibt Dornheim eine "Überwinterungsstrategie" zu. Sie habe sich von Partei und Staat ferner gehalten als die evangelische Kirche, habe nicht in diesem Maß auf Veränderungen hingewirkt. Dornbach erinnert an das ökonomische Unvermögen der DDR, das entscheidend zum Ende dieses Staates beitrug. Er zitiert aus dem Bericht der Abteilung Agitation/ Propaganda der SED-Bezirksleitung Erfurt vom Dezember 1988: "Die politische Lage im Bezirk Erfurt ist stabil . . . Die vergangenen Feiertage und die Jahreswende haben erneut gezeigt, wie reich der Tisch des DDR-Bürgers gedeckt ist. Anerkannt werden die Leistungen bei der Festtagsversorgung und insgesamt die Versorgung mit Lebens- und Genußmitteln (Kritiken gab es bei Lebkuchen und Sekt). Apfelsinendiskussionen wurde begegnet durch gute Organisation des Verkaufs . . . Jedoch Unverständnis dafür, daß die Versorgung mit Unterwäsche nach wie vor nicht ausreichend ist. Zunehmend sind die Diskussionen zu Problemen bei der Medikamentenversorgung, insbesondere für Herz- und Kreislaufmittel."
Ein Datum für den Beginn des Umbruchs in der DDR vermag Dornheim nicht zu nennen, aber das Aufbegehren gegen die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 habe entscheidend zur Formierung der Opposition beigetragen. In Weimar habe es die SED aufgrund der "Alternativ-Szene" besonders schwer gehabt: "Am Wahltag verhandelte Oberbürgermeister Baumgärtel (CDU), der Vorsitzender der Stadtwahlkommission war, mehrfach mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Peter Damaschke, über das zu erzielende Wahlergebnis . . . Baumgärtel rechnete mit 10 Prozent Nein-Stimmen und vertrat die Meinung, man bleibe nur glaubwürdig, wenn man dieses Ergebnis ausweise . . . Die Führung erwartete ein Ergebnis von 99 Prozent. Schließlich einigten sich Baumgärtel und Damaschke darauf, drei Modelle durchrechnen zu lassen: 93, 95 und 97 Prozent. Am 7. Mai zwischen 16 und 17 Uhr kamen Baumgärtel und Damaschke überein, ein Ergebnis um die 97 Prozent auszuweisen." Doch der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, machte Druck. Schließlich wurde ein Ergebnis von 97,85 Prozent bekanntgegeben. In Wahrheit betrug das Weimarer Ergebnis etwa 92 Prozent.
Dornheim schildert das Entstehen des "Mittwochsgottesdienstes" und des "Friedensgebetes" am Donnerstag. Letzteres, das einige Jahre älter sei als das Leipziger Friedensgebet, sei die Antwort überzeugter Christen auf die Einführung des Faches Wehrkunde in den Schulen im Jahr 1978 gewesen. Dem Friedensgebet folgte am 19. Oktober 1989 die erste zaghafte Demonstration. Das Neue Forum und der Demokratische Aufbruch bildeten sich. Das Ministerium für Staatssicherheit wies die Leiter seiner Kreisdienststellen an, der territorialen Parteiführung "aktuell und objektiv" zu berichten. Die operativen Diensteinheiten müßten "die Anstrengungen zur Qualifizierung der inoffiziellen Basis" spürbar erhöhen. Es müsse vor allem mit solchen IMB (Inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen) gearbeitet werden, "die in Führungsgremien der feindlich-negativen Kräfte eingeschleust werden können, ohne selbst zu Inspiratoren/Organisatoren feindlich-negativer Aktivitäten zu werden". Als erste Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der DDR wurde die Erfurter am 4. Dezember besetzt.
Die Frage, inwiefern die DDR zu Gewalt gegenüber der demonstrierenden Bevölkerung bereit war, beantwortet Dornheim mit neuen Fragen. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, erließ am 4. November 1989 den Befehl 2/89 über "Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung", in dem er die Anwendung der Schußwaffe bei Demonstrationen verbot. Was mag in Befehl "1/89" gestanden haben? Wie sollten sich die Armee und die Betriebskampfgruppen verhalten? Eines ist abseits aller Fragen sicher: "Oberstes Organ zur ,Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung' im Bezirk Erfurt war keineswegs das MfS, sondern die Bezirkseinsatzleitung, deren Vorsitzender der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, war." Nicht das MfS beherrschte die DDR, sondern die SED. Das MfS war Schild und Schwert der Partei.
Ein Name, der häufig in Dornheims Chronologie auftaucht, ist der Edelbert Richters. Er begründete den Demokratischen Aufbruch mit. Heute sitzt Richter für die SPD im Bundestag. Er gehört zu den Initiatoren des Thüringer Papiers für eine souveräne SPD, die das Gespräch mit der PDS sucht. Richter sagte kürzlich, die Bewältigung der Vergangenheit sei ihm "relativ gleichgültig". Die müsse man "mehr mit links machen".
"17 Millionen können sich nicht erinnern", heißt die Sprühschrift auf dem Schaufenster einer heruntergekommenen HO-Verkaufsstelle an der ehemaligen Leninstraße vom März 1990. Dornheim gibt Erinnerungshilfe. CLAUS PETER MÜLLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein dokumentarischer Bildband über Erfurt in der Wendezeit
Andreas Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt 1989/90. Böhlau Verlag, Weimar, Köln und Wien 1995. 241 Seiten, Abbildungen, 29,80 Mark.
Die Veränderungen in jenen Bundesländern, die bis zum 3. Oktober 1990 in einem Staat namens DDR zusammengefaßt waren, vollziehen sich grundlegend und mit einem Tempo, das manchen zwar noch nicht hoch genug ist, aber vielen kaum mehr Zeit zum Innehalten und zum Rückblick läßt. Manches gerät in Vergessenheit. Dem wirkt Andreas Dornheim mit seiner Rückschau auf den "Politischen Umbruch in Erfurt 1989/90" entgegen. Fesselnd ist das Studium der Fotodokumentation. Die Trostlosigkeit, die Agonie des SED-Systems trat nirgends so augenfällig in Erscheinung wie im Bild der Städte, das sich freilich dank der Milliardentransfers vielfach schon gewandelt hat. Die Bildersammlung reicht von der Silvesterfeier der Kaliarbeiter in einem Betriebsferienheim am 31. Dezember 1988 über die Maidemonstration 1989, die Novemberdemonstrationen desselben Jahres bis hin zu verschiedenen Wahlkämpfen des Jahres 1990. Es fehlt nicht Bundeskanzler Kohl mit seinem Auftritt am 20. Februar 1990. Friedhelm Farthmann (SPD) versprach den Thüringern damals vom Plakat herab "Erfahrung für den Aufschwung". Als Farthmann nach verlorener Landtagswahl sich nicht mehr blicken ließ, hatten die Thüringer mit ihm ihre eigene Erfahrung gemacht. Beim Blättern durch den Bildteil lebt auch Wolfgang Schnur auf einem geschundenen Wahlplakat wieder auf, und die PDS plakatierte: "Die Zukunft hat zwei Namen. Gregor Gysi. Hans Modrow." Im Textteil des Buches läßt Dornheim - unterstützt durch zahlreiche Quellenverweise - die Fakten sprechen und den Leser werten. Dornheim stellt sich vor die evangelische Kirche, gegen die die Vorwürfe der Kumpanei mit SED-Funktionären sowie der Systemstabilisierung durch die Übernahme einer Pufferfunktion zwischen dem Staat und seinen Kritikern erhoben worden seien. Aus der Tatsache, daß besonders viele Inoffizielle Mitarbeiter mit zum Teil beachtlichen Erfolg auf die Kirche angesetzt waren, folgert Dornheim, daß die Kirche als gefährlich eingestuft worden sei. Der katholischen Kirche in der DDR schreibt Dornheim eine "Überwinterungsstrategie" zu. Sie habe sich von Partei und Staat ferner gehalten als die evangelische Kirche, habe nicht in diesem Maß auf Veränderungen hingewirkt. Dornbach erinnert an das ökonomische Unvermögen der DDR, das entscheidend zum Ende dieses Staates beitrug. Er zitiert aus dem Bericht der Abteilung Agitation/ Propaganda der SED-Bezirksleitung Erfurt vom Dezember 1988: "Die politische Lage im Bezirk Erfurt ist stabil . . . Die vergangenen Feiertage und die Jahreswende haben erneut gezeigt, wie reich der Tisch des DDR-Bürgers gedeckt ist. Anerkannt werden die Leistungen bei der Festtagsversorgung und insgesamt die Versorgung mit Lebens- und Genußmitteln (Kritiken gab es bei Lebkuchen und Sekt). Apfelsinendiskussionen wurde begegnet durch gute Organisation des Verkaufs . . . Jedoch Unverständnis dafür, daß die Versorgung mit Unterwäsche nach wie vor nicht ausreichend ist. Zunehmend sind die Diskussionen zu Problemen bei der Medikamentenversorgung, insbesondere für Herz- und Kreislaufmittel."
Ein Datum für den Beginn des Umbruchs in der DDR vermag Dornheim nicht zu nennen, aber das Aufbegehren gegen die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 habe entscheidend zur Formierung der Opposition beigetragen. In Weimar habe es die SED aufgrund der "Alternativ-Szene" besonders schwer gehabt: "Am Wahltag verhandelte Oberbürgermeister Baumgärtel (CDU), der Vorsitzender der Stadtwahlkommission war, mehrfach mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Peter Damaschke, über das zu erzielende Wahlergebnis . . . Baumgärtel rechnete mit 10 Prozent Nein-Stimmen und vertrat die Meinung, man bleibe nur glaubwürdig, wenn man dieses Ergebnis ausweise . . . Die Führung erwartete ein Ergebnis von 99 Prozent. Schließlich einigten sich Baumgärtel und Damaschke darauf, drei Modelle durchrechnen zu lassen: 93, 95 und 97 Prozent. Am 7. Mai zwischen 16 und 17 Uhr kamen Baumgärtel und Damaschke überein, ein Ergebnis um die 97 Prozent auszuweisen." Doch der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, machte Druck. Schließlich wurde ein Ergebnis von 97,85 Prozent bekanntgegeben. In Wahrheit betrug das Weimarer Ergebnis etwa 92 Prozent.
Dornheim schildert das Entstehen des "Mittwochsgottesdienstes" und des "Friedensgebetes" am Donnerstag. Letzteres, das einige Jahre älter sei als das Leipziger Friedensgebet, sei die Antwort überzeugter Christen auf die Einführung des Faches Wehrkunde in den Schulen im Jahr 1978 gewesen. Dem Friedensgebet folgte am 19. Oktober 1989 die erste zaghafte Demonstration. Das Neue Forum und der Demokratische Aufbruch bildeten sich. Das Ministerium für Staatssicherheit wies die Leiter seiner Kreisdienststellen an, der territorialen Parteiführung "aktuell und objektiv" zu berichten. Die operativen Diensteinheiten müßten "die Anstrengungen zur Qualifizierung der inoffiziellen Basis" spürbar erhöhen. Es müsse vor allem mit solchen IMB (Inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen) gearbeitet werden, "die in Führungsgremien der feindlich-negativen Kräfte eingeschleust werden können, ohne selbst zu Inspiratoren/Organisatoren feindlich-negativer Aktivitäten zu werden". Als erste Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der DDR wurde die Erfurter am 4. Dezember besetzt.
Die Frage, inwiefern die DDR zu Gewalt gegenüber der demonstrierenden Bevölkerung bereit war, beantwortet Dornheim mit neuen Fragen. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, erließ am 4. November 1989 den Befehl 2/89 über "Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung", in dem er die Anwendung der Schußwaffe bei Demonstrationen verbot. Was mag in Befehl "1/89" gestanden haben? Wie sollten sich die Armee und die Betriebskampfgruppen verhalten? Eines ist abseits aller Fragen sicher: "Oberstes Organ zur ,Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung' im Bezirk Erfurt war keineswegs das MfS, sondern die Bezirkseinsatzleitung, deren Vorsitzender der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Müller, war." Nicht das MfS beherrschte die DDR, sondern die SED. Das MfS war Schild und Schwert der Partei.
Ein Name, der häufig in Dornheims Chronologie auftaucht, ist der Edelbert Richters. Er begründete den Demokratischen Aufbruch mit. Heute sitzt Richter für die SPD im Bundestag. Er gehört zu den Initiatoren des Thüringer Papiers für eine souveräne SPD, die das Gespräch mit der PDS sucht. Richter sagte kürzlich, die Bewältigung der Vergangenheit sei ihm "relativ gleichgültig". Die müsse man "mehr mit links machen".
"17 Millionen können sich nicht erinnern", heißt die Sprühschrift auf dem Schaufenster einer heruntergekommenen HO-Verkaufsstelle an der ehemaligen Leninstraße vom März 1990. Dornheim gibt Erinnerungshilfe. CLAUS PETER MÜLLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main