Ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Pole, ein Jude. Die Heimat der vier jungen Freunde, das multikulturelle Lemberg der 1930er, ist ein bunter Ort voller bezaubernd kurioser Figuren - von der Großmutter, die leidenschaftlich als professionelles Klageweib arbeitet, bis hin zur uralten Bibliothekarin, die nicht sterben kann, bevor ihr Verlobter nicht aus den mystischen Tiefen der Regalreihen zurückgekehrt ist. Mit der Ankunft der Sowjets und später der Nazis wandelt sich die Stadt in einen düsteren Ort. Inmitten der Kriegswirren hinterlässt eine schicksalhafte Melodie Spuren, die bis in die Gegenwart führen: der Todestango. Auf geheimnisvolle Weise bringt er die Erinnerung an ein früheres Leben zurück und macht so möglich, dass geliebte Menschen sich wiederfinden können - dort, wo der Mohn tanzt. Im 'Schatten der Mohnblüte' ist eine bewegende Geschichte über Freundschaft, Ideale und Rückgrat im Angesicht größter Grausamkeit, die zeigt, dass Schatten stets auch Licht bedingt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Tango des
Ostens
Höchst aktuell: Jurij Wynnytschuks
großes Epos aus dem alten Lemberg
VON VOLKER BREIDECKER
Auf dem Marktplatz von Lemberg treffen vier Hüte aufeinander. „Unter den Hüten funkeln Augen, die Hutbesitzerinnen schnattern, kaum dass sie Luft holen, und fallen sich gegenseitig ins Wort. Der Zuhörer versucht ihre Worte zu erhaschen.“ Zuhörer, das sind auch wir, die Leser, die von der alten ostgalizischen Metropole Lemberg, der „Stadt der verwischten Grenzen“, wie Joseph Roth sie nannte, kaum noch etwas wissen. Die vier Hüte, die der ukrainische Schriftsteller Jurij Wynnytschuk auf dem Lemberger Ringplatz, dem großen Platz am Rathaus, zusammenkommen ließ, sind kaum zu unterscheiden. So passen sie zu einer Stadt, in der Roth zufolge „alle Trennungsstriche mit schwacher, kaum sichtbarer Kreide gezogen“ sind. In Wynnytschuks Roman über das Lemberg der Zwischenkriegszeit stecken unter den mit Blumen und Federn geschmückten Hüten die Köpfe von Angehörigen von vier Nationen.
Da ist die Ukrainerin Wolodsja Barbaryk, die Polin Jadsja Biliewicz, die Jüdin Golda Milker und die mit einem Prager Deutschen verheiratete Rita Jäger. Witwen sind sie alle, seit ihre Männer in den frühen Zwanzigerjahren, als Ostgalizien polnisch war, im Kampf für eine unabhängige Ukraine gefallen sind. Unzertrennliche Freunde sind auch die gemeinsamen Söhne, die in drei Sprachen miteinander singen und Hauptfeste wie Ostern gleich dreimal miteinander feiern, auf katholische, griechisch-orthodoxe und jüdische Art. Wynnytschuks Schilderung des Alt-Lemberger Alltagslebens ist von plastischer Anschaulichkeit und Sinnenfreude: In seitenlangen Katalogen von Süßigkeiten für nachwachsende Luftmenschen sind alle „Luftschlösser dieser Welt“ versammelt. Viele solcher Listen und Kataloge aller möglichen Dinge breitet dieser Roman aus, auch topografischer Marken in Gestalt von Straßen, Kirchen, Häusern. Denn auch diese sind so flüchtig und so vergänglich wie die Menschen, von denen viele unauffindbar verloren und verschwunden sind.
Unzertrennliche Freunde bleiben auch Oleg, Joschi, Jas und Wolf bis in den gemeinsamen Tod, den sie im Partisanenkampf gegen die vermeintlichen sowjetischen „Befreier“ der zweiten Nachkriegszeit finden – mit einer Ausnahme: Als eine selbstgezündete Granate die Freunde zerriss, um den Sowjets nicht in die Hände zu fallen, wurde Joschi, der zu dem leisen Gesang seiner Kameraden eine Tangomelodie auf der Geige anstimmte, lediglich der Arm abgerissen, der den Geigenbogen hielt. Dieser Todestango war bereits unter der deutschen Besatzung von jüdischen Orchestern gespielt worden, die zu Massenerschießungen am Rande der Todesgruben aufzuspielen gezwungen wurden.
So zeugt alles in dieser Hauptstadt mittelosteuropäischer „Bloodlands“ vom Leben und Sterben seiner früheren Bewohner: Da ist „das alte zweigeschossige Gebäude an der Klepariwska-Straße“, in dem der unterdessen neunzigjährige galizische Jude Josip Milker noch immer vergeblich auf die Heimkehr seiner Liebsten wartet: Das Haus „trug noch Gerüche aus der Zwischenkriegszeit in sich, sie hatten sich auf ewig in den abgeblätterten Putz, die ramponierten Fensterbretter und -rahmen eingefressen. Die Treppen ächzten bei jedem Schritt melancholisch, sie hatten einiges erlebt bei ihrem Alter – deutsche Soldaten, die rauf- und runtertrampelten und Juden suchten. Tschekisten, die rauf- und runtertrampelten und Widerständler suchten, und die einen und die anderen führten jemanden mit vorgehaltenen Maschinenpistolen zur Hinrichtung ab. Die Treppe seufzte mitleidig, ächzte und stöhnte, und lange noch spiegelten sich die verschwundenen Menschen verschwommen in den Fenstern, ihre entsetzten Gesichter, ihre verängstigten Augen, all die Verzweiflung und Angst, doch auch Wut, Feindschaft, und an den Wänden blühten noch lange die Abdrücke ihrer Hände.“
In epischer Breite erzählt der 1952 geborene Jurij Wynnytschuk die Geschichte von vier Generationen aus vier miteinander verbundenen Familien. Einer der beiden Erzähler schildert die neuere Geschichte Lembergs – angereichert um so traurige wie hinreißend komische Novellen, Anekdoten und Legenden – im steten Kapitelwechsel auf zwei parallelen Zeitachsen, die eine nach 1919/20, die andere nach 1989/90. Man merkt ihm an, dass sein Autor ein passionierter Leser des Argentiniers Borges und des Kolumbianers Márquez ist. Diesem ist die epische Breite und der Rekurs auf Magisches, jenem der Umgang mit „Fiktionen“ geschuldet. Doch statt wie Borges die Wirklichkeit in die Fiktion einwandern zu lassen, geht Wynnytschuk den umgekehrten Weg und speist Fiktionen in die Wirklichkeit ein, um deren verborgenen Index zu entziffern.
Jenem Todestango, der dem Buch im Original den Titel gibt und dessen chiffrierte Töne in geheimnisvollen Büchern verborgen sind, werden in einem Bibliotheksplot von borgesker Art und Eco’scher Manier mystische Wirkungen zugesprochen: Tote können sie nicht wieder zum Leben erwecken, aber Erinnerungen an traumatische Vorfälle aus einem früheren Leben wiederbeleben – ob aus einem selbstgelebten Leben oder aus dem Leben anderer spielt da keine Rolle, wenn es heißt: „Jeder Mensch ist ein bestimmter, sehr sensibler Kammerton.“ Oder wenn man die Annahme des jüdisch-arabischen Philosophen Averroes von der Existenz einer allumfassenden Weltseele teilt, in der jede Einzelseele weiterlebt. Die „Reinkarnation“ kann man auch „Erinnerung“ nennen, und die Geschichte zu ihrem Objekt erklären.
Wynnytschuk hält sich ziemlich genau an die historischen Fakten und wird zum Chronisten ihrer neuralgischen Punkte: So zu den Ereignissen des Septembers 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Einzug der Sowjets als Folge des Hitler-Stalin-Pakts; desgleichen zu dem abscheulichen Massakern des sowjetischen Geheimdienstes an ukrainischen Gefangenen Ende Juni/Anfang Juli 1942, den nachfolgenden antijüdischen Pogromen durch von der deutschen Propaganda aufgehetzte Ukrainer – das Ausmaß des Pogroms wird von Wynnytschuk leider untertrieben –, und schließlich den Beginn der Vernichtung von rund 150 000 in Lemberg lebenden Juden.
Unverkennbar steht Wynnytschuk in der Tradition grotesker Komik nach Art von Gogol und jener karnevalesken Lachkultur Mittelosteuropas, die stets nahe an Körperfunktionen operiert und keine Drastik scheut. Gelungen ist ihm ein anspruchsvoll, spannend und trotz einer tragischen Geschichte über weite Strecken unterhaltsam zu lesender Roman.
Unverkennbar steht
Wynnytschuk in der Tradition
grotesker Prosa seit Gogol
Jurij Wynnytschuk:
Im Schatten der
Mohnblüte. Roman.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Haymon Verlag,
Innsbruck 2014.
455 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Dieser Zitronenhai wurde von unten aufgenommen, darüber sieht man einen Bootsrumpf: ein Außerirdischer beim Eintritt in die Erdatmosphäre?
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ostens
Höchst aktuell: Jurij Wynnytschuks
großes Epos aus dem alten Lemberg
VON VOLKER BREIDECKER
Auf dem Marktplatz von Lemberg treffen vier Hüte aufeinander. „Unter den Hüten funkeln Augen, die Hutbesitzerinnen schnattern, kaum dass sie Luft holen, und fallen sich gegenseitig ins Wort. Der Zuhörer versucht ihre Worte zu erhaschen.“ Zuhörer, das sind auch wir, die Leser, die von der alten ostgalizischen Metropole Lemberg, der „Stadt der verwischten Grenzen“, wie Joseph Roth sie nannte, kaum noch etwas wissen. Die vier Hüte, die der ukrainische Schriftsteller Jurij Wynnytschuk auf dem Lemberger Ringplatz, dem großen Platz am Rathaus, zusammenkommen ließ, sind kaum zu unterscheiden. So passen sie zu einer Stadt, in der Roth zufolge „alle Trennungsstriche mit schwacher, kaum sichtbarer Kreide gezogen“ sind. In Wynnytschuks Roman über das Lemberg der Zwischenkriegszeit stecken unter den mit Blumen und Federn geschmückten Hüten die Köpfe von Angehörigen von vier Nationen.
Da ist die Ukrainerin Wolodsja Barbaryk, die Polin Jadsja Biliewicz, die Jüdin Golda Milker und die mit einem Prager Deutschen verheiratete Rita Jäger. Witwen sind sie alle, seit ihre Männer in den frühen Zwanzigerjahren, als Ostgalizien polnisch war, im Kampf für eine unabhängige Ukraine gefallen sind. Unzertrennliche Freunde sind auch die gemeinsamen Söhne, die in drei Sprachen miteinander singen und Hauptfeste wie Ostern gleich dreimal miteinander feiern, auf katholische, griechisch-orthodoxe und jüdische Art. Wynnytschuks Schilderung des Alt-Lemberger Alltagslebens ist von plastischer Anschaulichkeit und Sinnenfreude: In seitenlangen Katalogen von Süßigkeiten für nachwachsende Luftmenschen sind alle „Luftschlösser dieser Welt“ versammelt. Viele solcher Listen und Kataloge aller möglichen Dinge breitet dieser Roman aus, auch topografischer Marken in Gestalt von Straßen, Kirchen, Häusern. Denn auch diese sind so flüchtig und so vergänglich wie die Menschen, von denen viele unauffindbar verloren und verschwunden sind.
Unzertrennliche Freunde bleiben auch Oleg, Joschi, Jas und Wolf bis in den gemeinsamen Tod, den sie im Partisanenkampf gegen die vermeintlichen sowjetischen „Befreier“ der zweiten Nachkriegszeit finden – mit einer Ausnahme: Als eine selbstgezündete Granate die Freunde zerriss, um den Sowjets nicht in die Hände zu fallen, wurde Joschi, der zu dem leisen Gesang seiner Kameraden eine Tangomelodie auf der Geige anstimmte, lediglich der Arm abgerissen, der den Geigenbogen hielt. Dieser Todestango war bereits unter der deutschen Besatzung von jüdischen Orchestern gespielt worden, die zu Massenerschießungen am Rande der Todesgruben aufzuspielen gezwungen wurden.
So zeugt alles in dieser Hauptstadt mittelosteuropäischer „Bloodlands“ vom Leben und Sterben seiner früheren Bewohner: Da ist „das alte zweigeschossige Gebäude an der Klepariwska-Straße“, in dem der unterdessen neunzigjährige galizische Jude Josip Milker noch immer vergeblich auf die Heimkehr seiner Liebsten wartet: Das Haus „trug noch Gerüche aus der Zwischenkriegszeit in sich, sie hatten sich auf ewig in den abgeblätterten Putz, die ramponierten Fensterbretter und -rahmen eingefressen. Die Treppen ächzten bei jedem Schritt melancholisch, sie hatten einiges erlebt bei ihrem Alter – deutsche Soldaten, die rauf- und runtertrampelten und Juden suchten. Tschekisten, die rauf- und runtertrampelten und Widerständler suchten, und die einen und die anderen führten jemanden mit vorgehaltenen Maschinenpistolen zur Hinrichtung ab. Die Treppe seufzte mitleidig, ächzte und stöhnte, und lange noch spiegelten sich die verschwundenen Menschen verschwommen in den Fenstern, ihre entsetzten Gesichter, ihre verängstigten Augen, all die Verzweiflung und Angst, doch auch Wut, Feindschaft, und an den Wänden blühten noch lange die Abdrücke ihrer Hände.“
In epischer Breite erzählt der 1952 geborene Jurij Wynnytschuk die Geschichte von vier Generationen aus vier miteinander verbundenen Familien. Einer der beiden Erzähler schildert die neuere Geschichte Lembergs – angereichert um so traurige wie hinreißend komische Novellen, Anekdoten und Legenden – im steten Kapitelwechsel auf zwei parallelen Zeitachsen, die eine nach 1919/20, die andere nach 1989/90. Man merkt ihm an, dass sein Autor ein passionierter Leser des Argentiniers Borges und des Kolumbianers Márquez ist. Diesem ist die epische Breite und der Rekurs auf Magisches, jenem der Umgang mit „Fiktionen“ geschuldet. Doch statt wie Borges die Wirklichkeit in die Fiktion einwandern zu lassen, geht Wynnytschuk den umgekehrten Weg und speist Fiktionen in die Wirklichkeit ein, um deren verborgenen Index zu entziffern.
Jenem Todestango, der dem Buch im Original den Titel gibt und dessen chiffrierte Töne in geheimnisvollen Büchern verborgen sind, werden in einem Bibliotheksplot von borgesker Art und Eco’scher Manier mystische Wirkungen zugesprochen: Tote können sie nicht wieder zum Leben erwecken, aber Erinnerungen an traumatische Vorfälle aus einem früheren Leben wiederbeleben – ob aus einem selbstgelebten Leben oder aus dem Leben anderer spielt da keine Rolle, wenn es heißt: „Jeder Mensch ist ein bestimmter, sehr sensibler Kammerton.“ Oder wenn man die Annahme des jüdisch-arabischen Philosophen Averroes von der Existenz einer allumfassenden Weltseele teilt, in der jede Einzelseele weiterlebt. Die „Reinkarnation“ kann man auch „Erinnerung“ nennen, und die Geschichte zu ihrem Objekt erklären.
Wynnytschuk hält sich ziemlich genau an die historischen Fakten und wird zum Chronisten ihrer neuralgischen Punkte: So zu den Ereignissen des Septembers 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Einzug der Sowjets als Folge des Hitler-Stalin-Pakts; desgleichen zu dem abscheulichen Massakern des sowjetischen Geheimdienstes an ukrainischen Gefangenen Ende Juni/Anfang Juli 1942, den nachfolgenden antijüdischen Pogromen durch von der deutschen Propaganda aufgehetzte Ukrainer – das Ausmaß des Pogroms wird von Wynnytschuk leider untertrieben –, und schließlich den Beginn der Vernichtung von rund 150 000 in Lemberg lebenden Juden.
Unverkennbar steht Wynnytschuk in der Tradition grotesker Komik nach Art von Gogol und jener karnevalesken Lachkultur Mittelosteuropas, die stets nahe an Körperfunktionen operiert und keine Drastik scheut. Gelungen ist ihm ein anspruchsvoll, spannend und trotz einer tragischen Geschichte über weite Strecken unterhaltsam zu lesender Roman.
Unverkennbar steht
Wynnytschuk in der Tradition
grotesker Prosa seit Gogol
Jurij Wynnytschuk:
Im Schatten der
Mohnblüte. Roman.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Haymon Verlag,
Innsbruck 2014.
455 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Dieser Zitronenhai wurde von unten aufgenommen, darüber sieht man einen Bootsrumpf: ein Außerirdischer beim Eintritt in die Erdatmosphäre?
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2014Das Quartett der vaterlosen Söhne
Dieser Roman hilft dabei, die Ukraine besser zu verstehen: Mit "Im Schatten der Mohnblüte" erinnert Jurij Wynnytschuk an die Schreckenszeit in der ehemaligen Vielvölkerstadt Lemberg.
Als kürzlich der polnische Dichter Adam Zagajewski in Wangen den Eichendorff-Preis der Gesellschaft für Literatur und Kunst "Der Osten" erhielt, erinnerte er daran, dass nicht nur viele Zuhörer im Saal Vertriebene seien, sondern dass auch er aus seiner Heimat verjagt worden war.
Seine Familie gehörte (wie die seines Landsmannes und Schriftstellerkollegen Zbigniew Herbert) zu jenen Polen, die nach 1944 von der Sowjetunion aus Lemberg vertrieben wurden. Von 1939 bis 1945 wurde in der galizischen Vielvölkerstadt ein unfassbares Blutbad angerichtet, bei dem mehr als eine halbe Million Menschen auf bestialische Weise hingeschlachtet wurden. Die Deutschen haben nicht nur 400 000 jüdische Bürger auf dem Gewissen, sondern auch 100 000 russische Gefangene, die Russen dann den grausigen Rest besorgt und die noch verbliebenen Polen in die Flucht getrieben, manchmal unter tätiger Beihilfe der Ukrainer. Geht man heute durch das wunderbar erhaltene und zum Teil liebevoll restaurierte Lwiw, wie die ukrainische Stadt jetzt heißt, sieht man ihr nicht an, dass buchstäblich an jedem Stein Blut klebt.
Man sollte diesen Hintergrund - vom sowjetischen Holodomor bis zum faschistischen Holocaust - im Kopf behalten, wenn man den ersten ins Deutsche übersetzten Roman des in der Ukraine äußerst populären Autors Jurij Wynnytschuk liest. Er erzählt seine phantastische und traurige (und manchmal sehr komische) Geschichte aus zwei Perspektiven, die sich um den heißen Kern der zwei Weltkriege legen. In den dreißiger Jahren geht es um vier Freunde - einen Ukrainer, einen Juden, einen Polen und einen Deutschen -, die noch nicht wissen können, welche Zukunft die nächsten Sieger der Geschichte sich für sie ausgedacht haben. Sie leben das abenteuerliche Leben von Jungen, die ihre Stadt erkunden und die erste Liebe entdecken, geschildert in einer so warmherzigen und liebevollen Sprache, dass der Leser auf der Stelle Mitglied dieser Bande werden will.
Erzählt wird die Geschichte von dem ukrainischen Jungen Orest Barbaryk dessen Vater "unzählige Kämpfe für die Armee der Ukrainischen Nationalrepublik gekämpft hatte" und schließlich von den Bolschewisten bei Basar erschossen wurde: "Bei Basar waren auch die Väter meiner drei Freunde Joschi, Wolf und Jas umgekommen."
Wie kam das Quartett zusammen? In den Worten des Erzählers Orest Barbaryk klingt das folgendermaßen: "Unsere Mütter, Wolodsja Barbaryk (die Ukrainerin), Golda Milker (die Jüdin), Jadsja Biliewicz (die Polin) und Rita Jäger (die Deutsche), befreundeten sich während des zehnjährigen Gedenktages für die Toten von Basar, als man sich an der symbolischen Grabstätte auf dem Janowska-Friedhof traf. Da alle vier Lembergerinnen waren, wurden sie rasch Freundinnen. Wir feierten nun dreimal Weihnachten und dreimal Ostern, das katholische, das griechisch-katholische und das entsprechende jüdische Fest.
Mit Vergnügen bewirtete man sich gegenseitig, servierte roten Kosaken-Borscht, in dem mit Rindfleisch gefüllte Warenyky und Steinpilze schwammen und an dessen Oberfläche eine gold-gelb geröstete Zwiebel trieb, oder gefüllten Fisch, den Golda mit geriebenem Meerrettich und wundersamen Mustern aus gekochtem Kohl und Rüben verzierte, oder Piroggen mit Sauerkraut, Krautwickel mit Gehacktem und Stampfkartoffeln, manchmal auch bayerische Würstel oder phantasievoll Eingelegtes und außerdem Kuchen, Strudel und süße Brezeln, deren Duft die Wohnungen bis in den letzten Winkel erfüllte und in der Nase kitzelte."
Unter der sanften Herrschaft dieser fürsorglichen Mütter wachsen die Buben in der, verglichen mit Wien und Prag und Budapest, provinziellen Hauptstadt Mitteleuropas auf. Lemberg wird zum Helden dieses Romans: Seine Gerüche - der Herbst etwa riecht streng nach sauren, mit duftendem Dill, Knoblauch und Kren gewürzten Gurken, während des Übergangs zum Winter nach Sauerkraut, und vor Weihnachten liegt der Rauch in der Luft, in dem fast ganz Lwiw Würste, Schinken und Speck räuchert -, die Gerüche, die Küche und die Sprachen und Religionen.
Man fühlt sich wie bei Joseph Roth oder Alexander Granach sofort zu Hause, geht mit den Jungen auf den Markt ("es herrschte ein fortwährendes Kommen und Gehen, die Luft bebte in der Vielzahl unharmonischer Geräusche") oder mit Pani Wolodsja, die ihr Geld mit Grabsprüchen "in allen Sprachen" verdient, ins Café Atlas oder mit Pani Golda, die mit den Toten reden kann, auf den Friedhof, oder wir schütten heimlich dem Lehrer Herrn Katzenellenbogen ein Abführpulver in die Limonade.
Dieser arme Herr Katzenellenbogen sagt dann, während der ersten Sowjetherrschaft im Jahr 1940, zu den Kindern: "Bald kommt eine Zeit, in der man jene beneiden wird, die schon gestorben sind, und erst recht die, die gar nicht geboren wurden." Herr Katzenellenbogen muss die von den Bolschewisten erschossenen Gefangenen - Leichen vergewaltigter und verstümmelter Mädchen und von Schlägen entstellter Theologiestudenten - aus dem Gefängnis von Lemberg tragen und ein Jahr später, nach dem Einmarsch der Deutschen, unter den Augen seiner Mitbürger und der SS vor der Oper die Pflastersteine mit der Zahnbürste schrubben.
Während seine Freunde mit dem Studium beginnen, vertrödelt der Erzähler seine Zeit und wird ein selbsternannter Philosoph, "der die Welt um sich herum mit Adleraugen beobachtete". Schließlich landet er in einer Bibliothek, die in ihren Ausmaßen und ihrer Anordnung an Borges' Idee einer Bibliothek erinnert und von der mehr als hundertjährigen Pani Konopelka geleitet wird, die den gesamten Buchbestand im Kopf hat: "Der Kopf von Pani Konopelka ist sozusagen ein nationales Kulturerbe." In dieser Bibliothek nun, in der es fliegende Bücher gibt, leuchtende und solche, in denen es regnet oder nach Rabennestern riecht, findet Orest ein lange vermisstes Traktat des Lemberger Apothekers Johann Kalkbrenner von 1640, in dem eine Komposition abgedruckt ist, "dank deren ein Mensch sich an sein vorangegangenes Leben erinnern kann. Aber nur unter der Bedingung, dass er diese Melodie auch vor seinem Tod gehört hat."
Diese Melodie, von Josip Milker unter der Okkupation in einem jüdischen Orchester zur Unterhaltung der SS und zur Begleitung der zum Tode Verurteilten gespielt, geht auf ein Arkanisches Totenbuch zurück - und ist die Brücke zur zweiten Ebene des Romans, die in der Jetztzeit spielt. Hier stellt ein gewisser Mirko Jarosch ein Arkanisches Wörterbuch zusammen und ist überhaupt von dieser (imaginären) Kultur fasziniert, die alles hat, was die ukrainische entbehren muss. Kein Wunder, dass sich der Geheimdienst bald an seine Fersen heftet.
Man liest dieses von schnellen Personen- und Zeitenwechseln inspirierte Buch, das manchmal an das "Chasarische Wörterbuch" von Milorad Pavic oder an Ecos "Im Namen der Rose" erinnert, mit Vergnügen und Beklemmung zugleich. Es ist natürlich vor der gegenwärtigen Krise geschrieben worden, weshalb man die Passagen über die Russen mit besonderer Aufmerksamkeit liest. Sie kommen nicht gut weg. Sie kommen sogar ganz besonders schlecht weg. Wenn es keine Zensur in Russland gäbe, sollte man das Buch schnell dort bekanntmachen, damit man wenigstens weiß, was der Gegner, den man befreien will, von einem denkt.
MICHAEL KRÜGER
Jurij Wynnytschuk: "Im Schatten der Mohnblüte". Roman.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil. Haymon Verlag, Innsbruck 2014. 456 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Roman hilft dabei, die Ukraine besser zu verstehen: Mit "Im Schatten der Mohnblüte" erinnert Jurij Wynnytschuk an die Schreckenszeit in der ehemaligen Vielvölkerstadt Lemberg.
Als kürzlich der polnische Dichter Adam Zagajewski in Wangen den Eichendorff-Preis der Gesellschaft für Literatur und Kunst "Der Osten" erhielt, erinnerte er daran, dass nicht nur viele Zuhörer im Saal Vertriebene seien, sondern dass auch er aus seiner Heimat verjagt worden war.
Seine Familie gehörte (wie die seines Landsmannes und Schriftstellerkollegen Zbigniew Herbert) zu jenen Polen, die nach 1944 von der Sowjetunion aus Lemberg vertrieben wurden. Von 1939 bis 1945 wurde in der galizischen Vielvölkerstadt ein unfassbares Blutbad angerichtet, bei dem mehr als eine halbe Million Menschen auf bestialische Weise hingeschlachtet wurden. Die Deutschen haben nicht nur 400 000 jüdische Bürger auf dem Gewissen, sondern auch 100 000 russische Gefangene, die Russen dann den grausigen Rest besorgt und die noch verbliebenen Polen in die Flucht getrieben, manchmal unter tätiger Beihilfe der Ukrainer. Geht man heute durch das wunderbar erhaltene und zum Teil liebevoll restaurierte Lwiw, wie die ukrainische Stadt jetzt heißt, sieht man ihr nicht an, dass buchstäblich an jedem Stein Blut klebt.
Man sollte diesen Hintergrund - vom sowjetischen Holodomor bis zum faschistischen Holocaust - im Kopf behalten, wenn man den ersten ins Deutsche übersetzten Roman des in der Ukraine äußerst populären Autors Jurij Wynnytschuk liest. Er erzählt seine phantastische und traurige (und manchmal sehr komische) Geschichte aus zwei Perspektiven, die sich um den heißen Kern der zwei Weltkriege legen. In den dreißiger Jahren geht es um vier Freunde - einen Ukrainer, einen Juden, einen Polen und einen Deutschen -, die noch nicht wissen können, welche Zukunft die nächsten Sieger der Geschichte sich für sie ausgedacht haben. Sie leben das abenteuerliche Leben von Jungen, die ihre Stadt erkunden und die erste Liebe entdecken, geschildert in einer so warmherzigen und liebevollen Sprache, dass der Leser auf der Stelle Mitglied dieser Bande werden will.
Erzählt wird die Geschichte von dem ukrainischen Jungen Orest Barbaryk dessen Vater "unzählige Kämpfe für die Armee der Ukrainischen Nationalrepublik gekämpft hatte" und schließlich von den Bolschewisten bei Basar erschossen wurde: "Bei Basar waren auch die Väter meiner drei Freunde Joschi, Wolf und Jas umgekommen."
Wie kam das Quartett zusammen? In den Worten des Erzählers Orest Barbaryk klingt das folgendermaßen: "Unsere Mütter, Wolodsja Barbaryk (die Ukrainerin), Golda Milker (die Jüdin), Jadsja Biliewicz (die Polin) und Rita Jäger (die Deutsche), befreundeten sich während des zehnjährigen Gedenktages für die Toten von Basar, als man sich an der symbolischen Grabstätte auf dem Janowska-Friedhof traf. Da alle vier Lembergerinnen waren, wurden sie rasch Freundinnen. Wir feierten nun dreimal Weihnachten und dreimal Ostern, das katholische, das griechisch-katholische und das entsprechende jüdische Fest.
Mit Vergnügen bewirtete man sich gegenseitig, servierte roten Kosaken-Borscht, in dem mit Rindfleisch gefüllte Warenyky und Steinpilze schwammen und an dessen Oberfläche eine gold-gelb geröstete Zwiebel trieb, oder gefüllten Fisch, den Golda mit geriebenem Meerrettich und wundersamen Mustern aus gekochtem Kohl und Rüben verzierte, oder Piroggen mit Sauerkraut, Krautwickel mit Gehacktem und Stampfkartoffeln, manchmal auch bayerische Würstel oder phantasievoll Eingelegtes und außerdem Kuchen, Strudel und süße Brezeln, deren Duft die Wohnungen bis in den letzten Winkel erfüllte und in der Nase kitzelte."
Unter der sanften Herrschaft dieser fürsorglichen Mütter wachsen die Buben in der, verglichen mit Wien und Prag und Budapest, provinziellen Hauptstadt Mitteleuropas auf. Lemberg wird zum Helden dieses Romans: Seine Gerüche - der Herbst etwa riecht streng nach sauren, mit duftendem Dill, Knoblauch und Kren gewürzten Gurken, während des Übergangs zum Winter nach Sauerkraut, und vor Weihnachten liegt der Rauch in der Luft, in dem fast ganz Lwiw Würste, Schinken und Speck räuchert -, die Gerüche, die Küche und die Sprachen und Religionen.
Man fühlt sich wie bei Joseph Roth oder Alexander Granach sofort zu Hause, geht mit den Jungen auf den Markt ("es herrschte ein fortwährendes Kommen und Gehen, die Luft bebte in der Vielzahl unharmonischer Geräusche") oder mit Pani Wolodsja, die ihr Geld mit Grabsprüchen "in allen Sprachen" verdient, ins Café Atlas oder mit Pani Golda, die mit den Toten reden kann, auf den Friedhof, oder wir schütten heimlich dem Lehrer Herrn Katzenellenbogen ein Abführpulver in die Limonade.
Dieser arme Herr Katzenellenbogen sagt dann, während der ersten Sowjetherrschaft im Jahr 1940, zu den Kindern: "Bald kommt eine Zeit, in der man jene beneiden wird, die schon gestorben sind, und erst recht die, die gar nicht geboren wurden." Herr Katzenellenbogen muss die von den Bolschewisten erschossenen Gefangenen - Leichen vergewaltigter und verstümmelter Mädchen und von Schlägen entstellter Theologiestudenten - aus dem Gefängnis von Lemberg tragen und ein Jahr später, nach dem Einmarsch der Deutschen, unter den Augen seiner Mitbürger und der SS vor der Oper die Pflastersteine mit der Zahnbürste schrubben.
Während seine Freunde mit dem Studium beginnen, vertrödelt der Erzähler seine Zeit und wird ein selbsternannter Philosoph, "der die Welt um sich herum mit Adleraugen beobachtete". Schließlich landet er in einer Bibliothek, die in ihren Ausmaßen und ihrer Anordnung an Borges' Idee einer Bibliothek erinnert und von der mehr als hundertjährigen Pani Konopelka geleitet wird, die den gesamten Buchbestand im Kopf hat: "Der Kopf von Pani Konopelka ist sozusagen ein nationales Kulturerbe." In dieser Bibliothek nun, in der es fliegende Bücher gibt, leuchtende und solche, in denen es regnet oder nach Rabennestern riecht, findet Orest ein lange vermisstes Traktat des Lemberger Apothekers Johann Kalkbrenner von 1640, in dem eine Komposition abgedruckt ist, "dank deren ein Mensch sich an sein vorangegangenes Leben erinnern kann. Aber nur unter der Bedingung, dass er diese Melodie auch vor seinem Tod gehört hat."
Diese Melodie, von Josip Milker unter der Okkupation in einem jüdischen Orchester zur Unterhaltung der SS und zur Begleitung der zum Tode Verurteilten gespielt, geht auf ein Arkanisches Totenbuch zurück - und ist die Brücke zur zweiten Ebene des Romans, die in der Jetztzeit spielt. Hier stellt ein gewisser Mirko Jarosch ein Arkanisches Wörterbuch zusammen und ist überhaupt von dieser (imaginären) Kultur fasziniert, die alles hat, was die ukrainische entbehren muss. Kein Wunder, dass sich der Geheimdienst bald an seine Fersen heftet.
Man liest dieses von schnellen Personen- und Zeitenwechseln inspirierte Buch, das manchmal an das "Chasarische Wörterbuch" von Milorad Pavic oder an Ecos "Im Namen der Rose" erinnert, mit Vergnügen und Beklemmung zugleich. Es ist natürlich vor der gegenwärtigen Krise geschrieben worden, weshalb man die Passagen über die Russen mit besonderer Aufmerksamkeit liest. Sie kommen nicht gut weg. Sie kommen sogar ganz besonders schlecht weg. Wenn es keine Zensur in Russland gäbe, sollte man das Buch schnell dort bekanntmachen, damit man wenigstens weiß, was der Gegner, den man befreien will, von einem denkt.
MICHAEL KRÜGER
Jurij Wynnytschuk: "Im Schatten der Mohnblüte". Roman.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil. Haymon Verlag, Innsbruck 2014. 456 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als ebenso tragisches wie auch vergnüglich zu lesendes Buch lobt Rezensent Volker Breidecker Jurij Wynnytschuks nun auf Deutsch erschienenen Roman "Im Schatten der Mohnblüte". Gleich vier Generationen folgt der Kritiker in diesem großen Epos durch das alte, aber auch neuere Lemberg, in dem er zunächst der Ukrainerin Wolodsja, der Polin Jadsja, der Jüdin Golda und der mit einem Prager Deutschen verheirateten Rita, später deren Söhnen begegnet. Der Rezensent erlebt hier abwechselnd das anschaulich und sinnlich geschilderte Alt-Lemberger Alltagsleben um 1919/20, die Ereignisse um 1939 bis 1942 und 1989/90. Dabei lobt er insbesondere das Vermögen des Autors, Fiktion, Magisches und Wirklichkeit zu verweben und entdeckt hier nicht nur Anleihen an Borges und Marquez, sondern bewundert auch die "groteske", an Gogol erinnernde Komik dieses brillanten Romans.
© Perlentaucher Medien GmbH
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