Elliots Leben ist außer Kontrolle geraten. Wenn er es nur wieder in die Hand bekommen könnte! Jetzt, an seiner neuen Schule, sieht er die Chance, von vornherein ein anderes Image von sich aufzubauen. Er wird einen neuen Elliot erfinden, der so kaltblütig und abgebrüht ist, dass ihn nie wieder jemand verletzen kann. Das Ergebnis übertrifft seine kühnsten Träume - bald aber auch seine schlimmsten Alpträume.Du musst in der richtigen Weise bemerkt werden - das hat Elliot aus den bitteren Erfahrungen an seiner alten Schule gelernt. Jetzt wird er sich nicht mehr in die Opferrolle drängen lassen, sondern sich als einer geben, den nichts rühren kann.Die aus Angst geborene Strategie geht in ungeahnter Weise auf: Das Opfer wird zum Augenzeugen, eine Maske bedingt die nächste. Wer ist er selbst? Kann er wirklich die Machtphilosophie übernehmen, nach der die im Geheimen agierende Gruppe der Wächter eine ganze Schule beherrscht? Zum ersten Mal im Leben hat Elliot Macht. Aber die Macht hat einen furchtbaren Preis, und er sieht sich einer unlösbaren Aufgabe gegenüber, als er bestimmen soll, gegen wen er sie einsetzen will. Graham Gardners Roman, inspiriert von George Orwells 1984, ist dicht, eindringlich schonungslos offen und dramatisch. Er schildert Elliots Kampf ums Überleben mit einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2004Zweck der Folter ist Folter
Eine spannende Erzählung um Angst und moralische Stärke
Man könnte die Geschichte so erzählen: Elliot, ein Junge aus der neunten Klasse eines Gymnasiums, wechselt die Schule. In der alten wurde er geschlagen, war der Sündenbock für andere, konnte sich nicht wehren. Und niemand war da, der ihm half. Zuhause sah es nicht viel besser aus: Sein Vater war krank und völlig hilflos, seine Mutter viel zu beschäftigt, die Familie zu ernähren. Alles, wozu sie noch Kraft hat, ist, einen Neuanfang an einem anderen Ort zu wagen, in einem anderen Haus, einer anderen Schule. Eine Chance für alle, so scheint es zunächst.
Die Geschichte also so zu erzählen, wäre zunächst auch nicht falsch, doch Graham Gardner scheint nicht in erster Linie daran interessiert zu sein, über einen Jungen zu schreiben, der geprügelt wird und sich nicht wehren kann. Ihn interessieren in seinem Roman Im Schatten der Wächter viel mehr die Mechanismen von Bedrohung, das Wesen von Macht. Wie kann es passieren, dass Menschen, in diesem Fall sind es Jugendliche, Macht über andere erlangen? Sein Roman gerät so zu einer Art Bericht über ein menschliches Experiment. Der geschundene, gequälte Junge Elliot will nicht mehr das Opfer sein. Er will den Schulwechsel nutzen und sich völlig neu erfinden. Im englischen Original heißt das Buch so folgerichtig auch „Inventing Elliot”. Wie eine Schlange streift er die alte Haut ab. Äußerlich hat sich danach zwar nicht sehr viel verändert, doch in seinem Inneren läuft ein eiskaltes Programm ab. Er hat genau studiert, warum Kinder als Opfer von anderen gewählt werden: weil sie auffallen – vor allem durch ihre Schwäche. Also tut er alles, um andere nicht auf sich aufmerksam zu machen, setzt ein Pokerface auf, lässt sich nicht mit den falschen Leuten sehen. Doch er weiß auch, dass er irgendein Image braucht, und so zeigt er im richtigen Moment etwas von sich: Als guter Schwimmer bewirbt er sich in der Schulmannschaft.
Elliot, so scheint es, hat sich für ein Leben in der Welt der Abziehbilder entschieden. Es geht nicht darum, dass die anderen wissen, wer er ist, damit hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Es geht darum, dass er sein Image, sein Bild kontrollieren kann. Gardner lässt seine Leser unmittelbar an diesem Wandlungsprozess teilhaben. Sein Held spielt die neue Rolle so gut, dass die Wächter, eine Clique von Jungen, die die Schule kontrollieren und tyrannisieren, auf ihn aufmerksam werden. Er soll einer von ihnen werden. Gardner zitiert hier unmittelbar George Orwells Roman 1984. Die Wächter berufen sich auf ihn: „Der Zweck der Kontrolle ist Kontrolle. Der Zweck der Macht ist Macht. Der Zweck der Folter ist Folter. Du wirst es akzeptieren, es willkommen heißen, zu einem Teil davon werden.”
In Gardners Roman herrscht eine bedrohliche Stimmung. Schon zu Beginn des Buches hat der Autor, der sich als Wissenschaftler mit sozialer und politischer Geografie an der Universität von Wales beschäftigt, eine düsterer Vision, in der Elliot zu Tode geprügelt wird. In einer schnellen, direkten Sprache treibt er seine Gesellschaftsparabel voran. Und gerade weil er das Geschehen so kühl und unausweichlich schildert, die Quälereien der Jugendlichen so detailliert beschreibt, gleitet die Geschichte am Ende nicht ins Kitschige ab, als sich Gefühl und Liebe als einzige Mittel gegen Gewalt und Machtstrukturen erweisen. (ab 13 Jahre)
HUBERT FILSER
GRAHAM GARDNER: Im Schatten der Wächter. Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Verlag Freies Geistesleben 2004. 220 Seiten, 14,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Eine spannende Erzählung um Angst und moralische Stärke
Man könnte die Geschichte so erzählen: Elliot, ein Junge aus der neunten Klasse eines Gymnasiums, wechselt die Schule. In der alten wurde er geschlagen, war der Sündenbock für andere, konnte sich nicht wehren. Und niemand war da, der ihm half. Zuhause sah es nicht viel besser aus: Sein Vater war krank und völlig hilflos, seine Mutter viel zu beschäftigt, die Familie zu ernähren. Alles, wozu sie noch Kraft hat, ist, einen Neuanfang an einem anderen Ort zu wagen, in einem anderen Haus, einer anderen Schule. Eine Chance für alle, so scheint es zunächst.
Die Geschichte also so zu erzählen, wäre zunächst auch nicht falsch, doch Graham Gardner scheint nicht in erster Linie daran interessiert zu sein, über einen Jungen zu schreiben, der geprügelt wird und sich nicht wehren kann. Ihn interessieren in seinem Roman Im Schatten der Wächter viel mehr die Mechanismen von Bedrohung, das Wesen von Macht. Wie kann es passieren, dass Menschen, in diesem Fall sind es Jugendliche, Macht über andere erlangen? Sein Roman gerät so zu einer Art Bericht über ein menschliches Experiment. Der geschundene, gequälte Junge Elliot will nicht mehr das Opfer sein. Er will den Schulwechsel nutzen und sich völlig neu erfinden. Im englischen Original heißt das Buch so folgerichtig auch „Inventing Elliot”. Wie eine Schlange streift er die alte Haut ab. Äußerlich hat sich danach zwar nicht sehr viel verändert, doch in seinem Inneren läuft ein eiskaltes Programm ab. Er hat genau studiert, warum Kinder als Opfer von anderen gewählt werden: weil sie auffallen – vor allem durch ihre Schwäche. Also tut er alles, um andere nicht auf sich aufmerksam zu machen, setzt ein Pokerface auf, lässt sich nicht mit den falschen Leuten sehen. Doch er weiß auch, dass er irgendein Image braucht, und so zeigt er im richtigen Moment etwas von sich: Als guter Schwimmer bewirbt er sich in der Schulmannschaft.
Elliot, so scheint es, hat sich für ein Leben in der Welt der Abziehbilder entschieden. Es geht nicht darum, dass die anderen wissen, wer er ist, damit hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Es geht darum, dass er sein Image, sein Bild kontrollieren kann. Gardner lässt seine Leser unmittelbar an diesem Wandlungsprozess teilhaben. Sein Held spielt die neue Rolle so gut, dass die Wächter, eine Clique von Jungen, die die Schule kontrollieren und tyrannisieren, auf ihn aufmerksam werden. Er soll einer von ihnen werden. Gardner zitiert hier unmittelbar George Orwells Roman 1984. Die Wächter berufen sich auf ihn: „Der Zweck der Kontrolle ist Kontrolle. Der Zweck der Macht ist Macht. Der Zweck der Folter ist Folter. Du wirst es akzeptieren, es willkommen heißen, zu einem Teil davon werden.”
In Gardners Roman herrscht eine bedrohliche Stimmung. Schon zu Beginn des Buches hat der Autor, der sich als Wissenschaftler mit sozialer und politischer Geografie an der Universität von Wales beschäftigt, eine düsterer Vision, in der Elliot zu Tode geprügelt wird. In einer schnellen, direkten Sprache treibt er seine Gesellschaftsparabel voran. Und gerade weil er das Geschehen so kühl und unausweichlich schildert, die Quälereien der Jugendlichen so detailliert beschreibt, gleitet die Geschichte am Ende nicht ins Kitschige ab, als sich Gefühl und Liebe als einzige Mittel gegen Gewalt und Machtstrukturen erweisen. (ab 13 Jahre)
HUBERT FILSER
GRAHAM GARDNER: Im Schatten der Wächter. Aus dem Englischen von Alexandra Ernst. Verlag Freies Geistesleben 2004. 220 Seiten, 14,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Gefühl, mit dem Graham Gardner in seinem Debütroman fesselt, heißt Angst, berichtet Jürgen Stahlberg beeindruckt - die Angst davor, Opfer zu sein. Denn dies war der Junge Elliot, wie der Rezensent berichtet, an seiner alten Schule permanent und in Gestalt seines Vaters, der seit einem Raubüberfall invalid ist, steht dem Sohn das Gespenst eines ewigen Opfers vor Augen. Daher beschließe er, als er an eine neue Schule kommt, sich selbst neu, als kaltblütigen, furchtlosen "Täter" zu erfinden. Stahlberg verspricht eine "intensive und schonungslose" Lektüre, die im Vergleich zu den "Pickel-Love-und-Quatsch-Geschichten", die im "modernen" Jugendbuch immer mehr um sich griffen, die jugendlichen Leser als Menschen ernst nehme.
© Perlentaucher Medien GmbH
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