Von den hohen Idealen Alexander von Humboldts bis zum erbitterten Streit um das Humboldt Forum führt ein langer und verschlungener Pfad durch die deutsche Geschichte. Kaum etwas illustriert ihn besser als die ethnologische Sammlung des Berliner Museums - mit 500.000 Objekten eine der größten der Welt. H. Glenn Penny schildert in seinem erhellenden Buch, wie diese gigantische Sammlung entstanden ist, was für Motive dahinter standen und warum ihre ursprüngliche Idee bis heute kaum beachtet wird. Sein Buch ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Versachlichung der Debatte um das koloniale Erbe der deutschen Museen.
Es ist eine tragische Geschichte, und sie beginnt - wie so oft in Deutschland - mit großen Ambitionen: Auf den Spuren Humboldts tragen Ethnologen Objekte aus der ganzen Welt zusammen, um ein "Laboratorium" der Menschheitsgeschichte zu schaffen. Es soll das Erbe bedrohter Kulturen bewahren und den aufkommenden rassistischen Ideen Einhalt gebieten. Doch schon bald geraten die Sammler in den Sog des Kolonialzeitalters und schließen Teufelspakte, damit ihr Bestand schneller wächst. Auch die ursprüngliche Vision verändert sich: Wilhelm von Bode macht aus der Denkwerkstatt ein bloßes Schaumuseum. Und wie heute wieder wird das Museum schon bald zum Schauplatz politischer Instrumentalisierungen, bei denen es um Diskursmacht geht, aber nicht um die Bedeutung der Sammlung selbst.
Es ist eine tragische Geschichte, und sie beginnt - wie so oft in Deutschland - mit großen Ambitionen: Auf den Spuren Humboldts tragen Ethnologen Objekte aus der ganzen Welt zusammen, um ein "Laboratorium" der Menschheitsgeschichte zu schaffen. Es soll das Erbe bedrohter Kulturen bewahren und den aufkommenden rassistischen Ideen Einhalt gebieten. Doch schon bald geraten die Sammler in den Sog des Kolonialzeitalters und schließen Teufelspakte, damit ihr Bestand schneller wächst. Auch die ursprüngliche Vision verändert sich: Wilhelm von Bode macht aus der Denkwerkstatt ein bloßes Schaumuseum. Und wie heute wieder wird das Museum schon bald zum Schauplatz politischer Instrumentalisierungen, bei denen es um Diskursmacht geht, aber nicht um die Bedeutung der Sammlung selbst.
Lasten einer Sammelwut
Forscher im Zwielicht: H. Glenn Pennys Geschichte der deutschen Ethnologie zeigt, wie man das Geld für den Bau des Humboldt-Forums besser hätte verwenden können.
Durch die Raubkunst- und Restitutionsdebatte der letzten Jahre sind die Völkerkundemuseen im deutschsprachigen Raum in Misskredit geraten. Dass die meisten von ihnen schon lange ihre alten Namen gewechselt und sich neuen Konzeptionen verschrieben hatten, nutzte ihnen nur wenig. Die Vorwürfe richteten sich gegen den Kern der Institution: ihre Sammlungen. Die Museen hätten sich der Kolonialregime bedient, um sich das Kulturerbe außereuropäischer Völker widerrechtlich anzueignen, so las und liest man immer wieder. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker H. Glenn Penny hat die sich zuspitzende Auseinandersetzung während seiner Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg verfolgt. Absicht seines Buches ist es, diese und andere Behauptungen mit der historischen Realität abzugleichen. Und die sah nun tatsächlich etwas anders aus.
Wie oft habe er sich darüber aufgeregt, wenn "unwissende Laien" Afrikaner als "Wilde" bezeichneten, gäbe es auf dem Kontinent doch "keine anderen Wilden als einige tollgewordene Weiße", deren Einfluss auf das alte Afrika wie zersetzendes Gift gewirkt habe. Diese Äußerung stammt von Felix von Luschan, der seit 1880 am Berliner Völkerkundemuseum in leitender Position tätig war. In der gegenwärtigen Diskussion gilt er als Hehler, ließ er sich doch keine Gelegenheit entgehen, die auf dem freien Markt erhältlichen Bronzen und Elfenbeinarbeiten zu erwerben, die britische Truppen 1897 bei Einnahme des westafrikanischen Königreichs Benin erbeutet hatten. Schließlich besaß sein Museum fast doppelt so viele Benin-Bronzen, als in London verblieben waren. Als ausgebildeter Arzt und Pathologe hatte von Luschan sich überdies eine umfangreiche Schädel- und Knochensammlung aus den Kolonialgebieten zugelegt, die unter höchst fragwürdigen Umständen zustande gekommen war. Zum Teil handelte es sich um Grabräubereien, zum Teil um die sterblichen Überreste der während des Herero-Kriegs gefallenen Aufständischen.
Von Luschan nutzte sie jedoch zu einem auch im heutigen Sinn guten Zweck. Mit seinen anatomisch-anthropologischen Studien versuchte er die damals grassierenden Vorurteile über die angebliche "Minderwertigkeit" anderer "Rassen" zu widerlegen. Auch seine Leidenschaft für die Benin-Bronzen war nicht nur Ausdruck reiner Sammelgier. Sie entsprang vielmehr seiner Begeisterung für die Kunst des westafrikanischen Königreichs, die er als einer der Ersten in ihrer Bedeutung zu würdigen verstand. Anfangs waren die von den Offizieren und Soldaten als "Andenken" verschleppten Stücke billig zu haben. Doch je mehr der international angesehene Ethnologe von ihnen ersteigerte, desto höher stieg ihr Marktwert. Wahrscheinlich wären die meisten von ihnen für immer verlorengegangen, so bemerkt Penny, hätte er nicht die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.
Von Luschans zwiespältiges Verhalten, das sich mit den moralischen Kategorien von heute nur schwer fassen lässt, ist nur eines der vielen Bespiele, die Penny gegen eine allzu einfache Sichtweise anführt. Auch der in Deutschland geborene Begründer des amerikanischen Kulturrelativismus Franz Boas, der sein Leben lang gegen Rassismus, biologischen Determinismus, und Antisemitismus kämpfte, setzte Schädelvermessungen ein, um seine Gegner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ebenso wie Felix von Luschan war auch er stark von den liberalen Ideen Adolf Bastians geprägt, einer charismatischen Persönlichkeit, in der Penny den eigentlichen Gründervater der deutschen Ethnologie sieht.
Bereits in jungen Jahren hatte Bastian als Schiffsarzt die ganze Welt bereist, und ein unermüdlicher Reisender und Sammler ist er bis ins hohe Alter geblieben. Auf seine Initiative ging das Dekret zur Gründung des aus den Sammlungen der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer hervorgegangenen Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin zurück, zu dessen erstem Direktor er 1876 ernannt wurde. Doch sollten bis zur Fertigstellung eines eigenen Gebäudes noch zwanzig Jahre vergehen. Bastian nutzte die Zeit zu weiteren großen Sammelreisen, die ihn mehrfach um den Erdball führten.
Mit den materiellen Kulturgütern der seiner festen Überzeugung nach vom unmittelbaren Aussterben bedrohten schriftlosen Völker hoffte er seine ehrgeizige Idee eines Museums der ganzen Menschheitsgeschichte verwirklichen zu können. Mit ihrer Hilfe wollte er nachweisen, dass der Vielfalt kultureller Schöpfungen überall derselbe menschliche Geist zugrunde lag. Mit dieser Konzeption bezog Bastian nicht nur gegen die kolonialideologisch geprägten evolutionistischen Kulturtheorien der Zeit Stellung, sondern auch gegen alle jene, die behaupteten, man könne "höher"- und "minderwertige Rassen" voneinander unterscheiden. Doch scheiterte die museale Umsetzung seiner Vision paradoxerweise gerade an der Fülle der ethnographischen Objekte, zu deren Beschaffung er auch ein globales Netzwerks ihm gewogener lokaler Sammler hatte einrichten können. Das 1886 feierlich eröffnete neue Museumsgebäude vermochte sie schon wenige Jahre später kaum mehr zu fassen. Das hinderte die Leitung des Museums aber nicht daran, bereits wenige Jahre nach der Gründung der ersten deutschen Kolonien einen Regierungserlass zu erwirken, der die Kolonialverwaltungen dazu verpflichtete, ihr alle durch Krieg oder Handel erworbenen Artefakte zu überlassen. Eine der Folgen dieser von Penny zu Recht als "Teufelspakt" bezeichneten Maßnahme war es, dass die Sammlung nun wirklich aus allen Nähten platzte. Die Räume waren so vollgestellt, dass sich das Publikum durch die engen Gänge kaum mehr fortbewegen konnte. Die Baupolizei drohte wiederholt damit, sie zu schließen, während die Presse sich über das im Museum herrschende Chaos lustig machte.
Trotz des Verlustes der deutschen Kolonien hielt der Zustrom von ethnographischen Artefakten auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter an. Vor allem in Mittel- und Südamerika, aber auch in anderen Teilen der Welt wurde von Ethnologen weiter in der Tradition Bastians geforscht und gesammelt. Doch nahm das Interesse der Öffentlichkeit an den völkerkundlichen Sammlungen allmählich ab. Dem suchte man dadurch zu begegnen, dass man weitere Maßnahmen ergriff, die Penny zufolge kaum im Sinne des 1905 verstorbenen Museumsgründers gewesen sein dürften. Dazu gehörte etwa die Aufteilung der Bestände in eine für die Öffentlichkeit bestimmte Schausammlung und die Verbannung der weniger attraktiven Stücke in das 1921 in Dahlem eingerichtete Depot. Entschieden verwerflicher waren freilich die Pakte, die einige Vertreter des Fachs nach 1933 mit damals "politisch korrekteren" Fächern wie der "Rassenbiologie" oder der sozialdarwinistisch ausgerichteten deutschen "Sozialanthropologie" eingingen.
Die Last der Riesenbestände, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sorgsam eingebunkert worden waren, zeigte sich erneut nach 1945. In Berlin war das im Stadtzentrum gelegene Völkerkundemuseum zerstört worden. In den beengten Räumen des Dahlemer Depots konnte bis zu seiner Erweiterung in den siebziger Jahre nur ein winziger Bruchteil der bald eine halbe Million zählenden Stücke öffentlich ausgestellt werden. Wie wenig die Museumskustoden selbst über ihre Sammlungsstücke wussten, deren wissenschaftliche Dokumentation durch den notorischen Mangel an Geld und Personal auch früher schon immer wieder aufgeschoben worden war, erwies sich, als etwa 50 000 Objekte, die von sowjetischen Truppen als Kriegsbeute nach Leningrad verbracht worden waren, zunächst an das Leipziger Grassi-Museum und nach der Wende an das Berliner Museum zurückgegeben wurden. Da Objektbeschriftungen und Inventarlisten zu einem großen Teil verlorengegangen sind, weiß man bis heute nicht genau, was sich in einigen der immer noch nicht vollständig ausgepackten Kisten befindet.
Wie wertvoll die von Generationen von Ethnologen oft unter fragwürdigen Umständen angehäuften, aber vor der Zerstörung bewahrten Dinge inzwischen geworden sind, beweist Penny zufolge die große Wertschätzung, die ihnen heute von ihren Herkunftsgesellschaften entgegengebracht wird. Rückforderungen würden von ihnen oft gar nicht erhoben, wenn ihr sachgemäßer Erhalt und die Kooperation mit den Museen sichergestellt seien. Umso wichtiger wäre es gewesen, hätte man in die Hebung, Dokumentation und wissenschaftliche Bearbeitung der Objekte auch nur einen Teil der mehr als eine halbe Milliarde Euro fließen lassen, den der Bau des Humboldt-Forums schon vor seiner Eröffnung verschlungen hat.
Pennys Abhandlung gerät so zu einer Ehrenrettung der Leistungen der deutschen Völkerkunde, die zwar durchaus kritisch ist, aber dennoch viele der historisch nicht haltbaren Urteile korrigiert, die in der jüngsten Debatte vorgebracht worden sind. Da sie zudem sehr lesbar geschrieben ist, bleibt nur zu hoffen, dass Pennys differenzierte Argumente auch bei jenen Kulturpolitikern Gehör finden, die sich bisher nur an den lautstärksten Stimmen und Forderungen orientiert haben.
KARL-HEINZ KOHL
H. Glenn Penny:
"Im Schatten Humboldts." Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie.
Aus dem Englischen von Martin Richter.
C. H. Beck Verlag, München 2019. 287 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Forscher im Zwielicht: H. Glenn Pennys Geschichte der deutschen Ethnologie zeigt, wie man das Geld für den Bau des Humboldt-Forums besser hätte verwenden können.
Durch die Raubkunst- und Restitutionsdebatte der letzten Jahre sind die Völkerkundemuseen im deutschsprachigen Raum in Misskredit geraten. Dass die meisten von ihnen schon lange ihre alten Namen gewechselt und sich neuen Konzeptionen verschrieben hatten, nutzte ihnen nur wenig. Die Vorwürfe richteten sich gegen den Kern der Institution: ihre Sammlungen. Die Museen hätten sich der Kolonialregime bedient, um sich das Kulturerbe außereuropäischer Völker widerrechtlich anzueignen, so las und liest man immer wieder. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker H. Glenn Penny hat die sich zuspitzende Auseinandersetzung während seiner Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg verfolgt. Absicht seines Buches ist es, diese und andere Behauptungen mit der historischen Realität abzugleichen. Und die sah nun tatsächlich etwas anders aus.
Wie oft habe er sich darüber aufgeregt, wenn "unwissende Laien" Afrikaner als "Wilde" bezeichneten, gäbe es auf dem Kontinent doch "keine anderen Wilden als einige tollgewordene Weiße", deren Einfluss auf das alte Afrika wie zersetzendes Gift gewirkt habe. Diese Äußerung stammt von Felix von Luschan, der seit 1880 am Berliner Völkerkundemuseum in leitender Position tätig war. In der gegenwärtigen Diskussion gilt er als Hehler, ließ er sich doch keine Gelegenheit entgehen, die auf dem freien Markt erhältlichen Bronzen und Elfenbeinarbeiten zu erwerben, die britische Truppen 1897 bei Einnahme des westafrikanischen Königreichs Benin erbeutet hatten. Schließlich besaß sein Museum fast doppelt so viele Benin-Bronzen, als in London verblieben waren. Als ausgebildeter Arzt und Pathologe hatte von Luschan sich überdies eine umfangreiche Schädel- und Knochensammlung aus den Kolonialgebieten zugelegt, die unter höchst fragwürdigen Umständen zustande gekommen war. Zum Teil handelte es sich um Grabräubereien, zum Teil um die sterblichen Überreste der während des Herero-Kriegs gefallenen Aufständischen.
Von Luschan nutzte sie jedoch zu einem auch im heutigen Sinn guten Zweck. Mit seinen anatomisch-anthropologischen Studien versuchte er die damals grassierenden Vorurteile über die angebliche "Minderwertigkeit" anderer "Rassen" zu widerlegen. Auch seine Leidenschaft für die Benin-Bronzen war nicht nur Ausdruck reiner Sammelgier. Sie entsprang vielmehr seiner Begeisterung für die Kunst des westafrikanischen Königreichs, die er als einer der Ersten in ihrer Bedeutung zu würdigen verstand. Anfangs waren die von den Offizieren und Soldaten als "Andenken" verschleppten Stücke billig zu haben. Doch je mehr der international angesehene Ethnologe von ihnen ersteigerte, desto höher stieg ihr Marktwert. Wahrscheinlich wären die meisten von ihnen für immer verlorengegangen, so bemerkt Penny, hätte er nicht die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.
Von Luschans zwiespältiges Verhalten, das sich mit den moralischen Kategorien von heute nur schwer fassen lässt, ist nur eines der vielen Bespiele, die Penny gegen eine allzu einfache Sichtweise anführt. Auch der in Deutschland geborene Begründer des amerikanischen Kulturrelativismus Franz Boas, der sein Leben lang gegen Rassismus, biologischen Determinismus, und Antisemitismus kämpfte, setzte Schädelvermessungen ein, um seine Gegner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ebenso wie Felix von Luschan war auch er stark von den liberalen Ideen Adolf Bastians geprägt, einer charismatischen Persönlichkeit, in der Penny den eigentlichen Gründervater der deutschen Ethnologie sieht.
Bereits in jungen Jahren hatte Bastian als Schiffsarzt die ganze Welt bereist, und ein unermüdlicher Reisender und Sammler ist er bis ins hohe Alter geblieben. Auf seine Initiative ging das Dekret zur Gründung des aus den Sammlungen der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer hervorgegangenen Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin zurück, zu dessen erstem Direktor er 1876 ernannt wurde. Doch sollten bis zur Fertigstellung eines eigenen Gebäudes noch zwanzig Jahre vergehen. Bastian nutzte die Zeit zu weiteren großen Sammelreisen, die ihn mehrfach um den Erdball führten.
Mit den materiellen Kulturgütern der seiner festen Überzeugung nach vom unmittelbaren Aussterben bedrohten schriftlosen Völker hoffte er seine ehrgeizige Idee eines Museums der ganzen Menschheitsgeschichte verwirklichen zu können. Mit ihrer Hilfe wollte er nachweisen, dass der Vielfalt kultureller Schöpfungen überall derselbe menschliche Geist zugrunde lag. Mit dieser Konzeption bezog Bastian nicht nur gegen die kolonialideologisch geprägten evolutionistischen Kulturtheorien der Zeit Stellung, sondern auch gegen alle jene, die behaupteten, man könne "höher"- und "minderwertige Rassen" voneinander unterscheiden. Doch scheiterte die museale Umsetzung seiner Vision paradoxerweise gerade an der Fülle der ethnographischen Objekte, zu deren Beschaffung er auch ein globales Netzwerks ihm gewogener lokaler Sammler hatte einrichten können. Das 1886 feierlich eröffnete neue Museumsgebäude vermochte sie schon wenige Jahre später kaum mehr zu fassen. Das hinderte die Leitung des Museums aber nicht daran, bereits wenige Jahre nach der Gründung der ersten deutschen Kolonien einen Regierungserlass zu erwirken, der die Kolonialverwaltungen dazu verpflichtete, ihr alle durch Krieg oder Handel erworbenen Artefakte zu überlassen. Eine der Folgen dieser von Penny zu Recht als "Teufelspakt" bezeichneten Maßnahme war es, dass die Sammlung nun wirklich aus allen Nähten platzte. Die Räume waren so vollgestellt, dass sich das Publikum durch die engen Gänge kaum mehr fortbewegen konnte. Die Baupolizei drohte wiederholt damit, sie zu schließen, während die Presse sich über das im Museum herrschende Chaos lustig machte.
Trotz des Verlustes der deutschen Kolonien hielt der Zustrom von ethnographischen Artefakten auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter an. Vor allem in Mittel- und Südamerika, aber auch in anderen Teilen der Welt wurde von Ethnologen weiter in der Tradition Bastians geforscht und gesammelt. Doch nahm das Interesse der Öffentlichkeit an den völkerkundlichen Sammlungen allmählich ab. Dem suchte man dadurch zu begegnen, dass man weitere Maßnahmen ergriff, die Penny zufolge kaum im Sinne des 1905 verstorbenen Museumsgründers gewesen sein dürften. Dazu gehörte etwa die Aufteilung der Bestände in eine für die Öffentlichkeit bestimmte Schausammlung und die Verbannung der weniger attraktiven Stücke in das 1921 in Dahlem eingerichtete Depot. Entschieden verwerflicher waren freilich die Pakte, die einige Vertreter des Fachs nach 1933 mit damals "politisch korrekteren" Fächern wie der "Rassenbiologie" oder der sozialdarwinistisch ausgerichteten deutschen "Sozialanthropologie" eingingen.
Die Last der Riesenbestände, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sorgsam eingebunkert worden waren, zeigte sich erneut nach 1945. In Berlin war das im Stadtzentrum gelegene Völkerkundemuseum zerstört worden. In den beengten Räumen des Dahlemer Depots konnte bis zu seiner Erweiterung in den siebziger Jahre nur ein winziger Bruchteil der bald eine halbe Million zählenden Stücke öffentlich ausgestellt werden. Wie wenig die Museumskustoden selbst über ihre Sammlungsstücke wussten, deren wissenschaftliche Dokumentation durch den notorischen Mangel an Geld und Personal auch früher schon immer wieder aufgeschoben worden war, erwies sich, als etwa 50 000 Objekte, die von sowjetischen Truppen als Kriegsbeute nach Leningrad verbracht worden waren, zunächst an das Leipziger Grassi-Museum und nach der Wende an das Berliner Museum zurückgegeben wurden. Da Objektbeschriftungen und Inventarlisten zu einem großen Teil verlorengegangen sind, weiß man bis heute nicht genau, was sich in einigen der immer noch nicht vollständig ausgepackten Kisten befindet.
Wie wertvoll die von Generationen von Ethnologen oft unter fragwürdigen Umständen angehäuften, aber vor der Zerstörung bewahrten Dinge inzwischen geworden sind, beweist Penny zufolge die große Wertschätzung, die ihnen heute von ihren Herkunftsgesellschaften entgegengebracht wird. Rückforderungen würden von ihnen oft gar nicht erhoben, wenn ihr sachgemäßer Erhalt und die Kooperation mit den Museen sichergestellt seien. Umso wichtiger wäre es gewesen, hätte man in die Hebung, Dokumentation und wissenschaftliche Bearbeitung der Objekte auch nur einen Teil der mehr als eine halbe Milliarde Euro fließen lassen, den der Bau des Humboldt-Forums schon vor seiner Eröffnung verschlungen hat.
Pennys Abhandlung gerät so zu einer Ehrenrettung der Leistungen der deutschen Völkerkunde, die zwar durchaus kritisch ist, aber dennoch viele der historisch nicht haltbaren Urteile korrigiert, die in der jüngsten Debatte vorgebracht worden sind. Da sie zudem sehr lesbar geschrieben ist, bleibt nur zu hoffen, dass Pennys differenzierte Argumente auch bei jenen Kulturpolitikern Gehör finden, die sich bisher nur an den lautstärksten Stimmen und Forderungen orientiert haben.
KARL-HEINZ KOHL
H. Glenn Penny:
"Im Schatten Humboldts." Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie.
Aus dem Englischen von Martin Richter.
C. H. Beck Verlag, München 2019. 287 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
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