Vier Personen, vier sich kreuzende Stimmen, viermal Leben. Ariel Chipmen, der Philosoph, hat sich von Spinoza abgewandt, weil dessen Philosophie ihm persönlich nicht helfen kann. Nadine Chipmen, seiner Frau, wird durch die Depression ihres Mannes der Alltag vergällt, und Serge Orthon Weil, Ariels früherer Kollege, meint, dass das Leben ohnehin keinen Sinn habe. Und dann verliert auch noch die Psychiaterin die Nerven. Ein tieftrauriger und dabei sehr komischer Text über die Verzweiflung der Menschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2006Konsum statt Rausch
Unwiderstehliche Komik: Yasmina Rezas Ehekabinett
Die Figuren Yasmina Rezas ziehen ihr Leben wie einen Schlitten hinter sich her. Nie sitzen sie drauf. Darum reden sie so gut. Denn ihr Handeln ist Sprechen. Und manchmal wird der Schlitten philosophisch umgeladen, wie in diesem Buch. Wir vermuten: Mittlebenskrise. Dem angesehenen Spinoza-Kenner Ariel Chipman jedenfalls bricht eines Tages das solide Sinngerüst aus Kolloquien-Kursen-Konferenzen weg, und er begreift, was ihm bei der Spinoza-Lektüre nie aufging: Kinder können getröstet werden, Erwachsene nicht. Das offenbart sich etwa darin, daß Ariel beim Apfelsinenpellen mit bloßen Händen morgens am Frühstückstisch, wenn die Schale zu dünn ist und immerfort reißt, bei jedem abgerissenen Stück mit der Faust heftig auf den Tisch haut. So zumindest erzählt es Ariels Frau Nadine dem gemeinsamen Bekannten Serge Othon Weil. Nadine rächte sich für die allmorgendliche Tortur, indem sie nicht protestierte, sondern bei jedem Faustschlag demonstrativ zusammenzuckte - was ihr Mann wiederum als "hundertprozentig aggressiv" empfand. Doch das war früher, zu noch glücklichen Zeiten. Heute läßt Ariel tagelang einfach die Hand von der Armlehne des Sessels baumeln: eine Schlaffheit, die Nadine als Gipfel der Feindseligkeit auslegt.
Yasmina Reza ist eine zu brillante Autorin, als daß sie diese postexistentialistischen Themen einfach maßstabgetreu in die Dramen oder Erzählungen einpaßte. Für jedes Buch erfindet sie die jeweils geeignete Form neu. Hier sind es acht Monologe, mit denen Ariel, dessen Frau Nadine, der Bekannte Serge Othon Weil und eine Psychologin im wechselnden Zwiegespräch dialogisch jeweils aneinander vorbeireden. Das ergibt eine Verzweiflungsfuge von unwiderstehlicher Komik.
Dem in Kummer und Langeweile versinkenden Philosophen Ariel Chipman - "der Kummer dient mir dazu, ein wenig Kraft zu schöpfen, die die Langeweile dann sofort wieder aufzehrt" - steht der ins affirmative Weltgefühl globaler Alternativlosigkeit sich schickende Serge gegenüber. Sex hat er aufgegeben und ist glücklich dabei. Seine Devise lautet: Konsum statt Rausch - mag er damit auch beim Gang mit der neuen Freundin durch die Boutiquen ins immer selbe Kompromiß-Beige, -Grau, -Schwarz oder -Marineblau zurückfallen. Zum Erdbeeressen verlangt er - viel praktischer - eine Gabel: kein Klappern mehr im Teller des nach der Frucht haschenden Löffels: "Du stichst hinein, du bist frei, du bist glücklich." Es ist das Glück jenes "überholten Pessimismus", der trotz allen Rückschlägen zu einer toleranten, pluralistischen, humorvollen, irgendwie fröhlich moralischen Weltgesellschaft unterwegs ist.
Nadine ist dagegen vielleicht noch niedergeschlagener als ihr Mann Ariel, denn sie leistet sich keinen Wahnsinn. Sie sieht klar, welch fataler Irrtum es war, die Liebe in den Mittelpunkt der Ehe zu stellen. Ihre letzte Glücksahnung ist, so gesteht sie der Psychologin, das Bild ihrer alten Mutter, wie sie, mit dem neuen Hut gekrümmt auf einem Klappstuhl in Hossegor sitzend, einsam und vielleicht beinah glücklich aufs Meer blickte. Im übrigen liest Nadine Zeitschriften über abgeholzte Regenwälder oder das Aussterben der Menschenaffen und schlägt, etwa nach einer mißglückten Silvesterfeier, auch schon mal mit dem Bulletin der Philosophischen Gesellschaft verzweifelt auf ihren Mann ein. Sei zärtlich, sei liebevoll - wollte dieser eigentlich nur sagen und weiß im Grund doch genau: Das Leben für die Gedanken war ein Irrtum, "wir haben uns auf die Seite der Gebildeten geschlagen, das war unser Unglück". Daß das Pendeln dieses Un- zwischen Glücklich- und Gebildetsein nicht stabilisierbar ist, gehört zum Fabrikationsgeheimnis der Figuren Yasmina Rezas. Von ihr ist kein Roman über Jungkriminelle oder pensionierte Bergsteiger zu erwarten. So läßt sie auch hier in einem Schlußmonolog an alle drei anderen die Psychologin zuletzt zu Wort kommen. Die Psychologin erzählt, wie eine mit zwei dicken Tüten vor ihr auf der Straße gehende, in ihrem Zickzackgang weder links noch rechts zu überholende Frau sie vollends aus der Lebensbahn warf.
Kaum ein Leser wird sich dem Reiz dieser virtuosen literarischen Schlittenfahrt von Spinoza zu Schopenhauer entziehen können. Keiner wird aber dabei das finden, was er bei dieser Autorin so oft schon vermißt haben mochte: das Stück glanzloser, sperriger Lebensrealität, das in keinen Sprühregen der Anspielungen und Assoziationsblitze paßt. Die faszinierenden, ganz aus ihrer Rede heraus komponierten Figuren verschwinden, sobald man das Buch weggelegt hat - kein Nachhängen einer besonderen Freude oder Bedrücktheit, eines dunklen Blicks, einer Aufbäumung oder Körperschwere, sondern Melancholie für Sofortverzehr. Da die Figuren mehr hypothetisch als wirklich schwer auf dem Schlitten sitzen, erscheint dessen Bewegung bisweilen seltsam ferngesteuert. Die gedrehten Pirouetten sind, auch in der Übersetzung, meisterhaft. Den Schnee und die Reisenden muß man sich aber selbst dazudenken.
Yasmina Reza: "Im Schlitten Arthur Schopenhauers". Aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2006. 71 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unwiderstehliche Komik: Yasmina Rezas Ehekabinett
Die Figuren Yasmina Rezas ziehen ihr Leben wie einen Schlitten hinter sich her. Nie sitzen sie drauf. Darum reden sie so gut. Denn ihr Handeln ist Sprechen. Und manchmal wird der Schlitten philosophisch umgeladen, wie in diesem Buch. Wir vermuten: Mittlebenskrise. Dem angesehenen Spinoza-Kenner Ariel Chipman jedenfalls bricht eines Tages das solide Sinngerüst aus Kolloquien-Kursen-Konferenzen weg, und er begreift, was ihm bei der Spinoza-Lektüre nie aufging: Kinder können getröstet werden, Erwachsene nicht. Das offenbart sich etwa darin, daß Ariel beim Apfelsinenpellen mit bloßen Händen morgens am Frühstückstisch, wenn die Schale zu dünn ist und immerfort reißt, bei jedem abgerissenen Stück mit der Faust heftig auf den Tisch haut. So zumindest erzählt es Ariels Frau Nadine dem gemeinsamen Bekannten Serge Othon Weil. Nadine rächte sich für die allmorgendliche Tortur, indem sie nicht protestierte, sondern bei jedem Faustschlag demonstrativ zusammenzuckte - was ihr Mann wiederum als "hundertprozentig aggressiv" empfand. Doch das war früher, zu noch glücklichen Zeiten. Heute läßt Ariel tagelang einfach die Hand von der Armlehne des Sessels baumeln: eine Schlaffheit, die Nadine als Gipfel der Feindseligkeit auslegt.
Yasmina Reza ist eine zu brillante Autorin, als daß sie diese postexistentialistischen Themen einfach maßstabgetreu in die Dramen oder Erzählungen einpaßte. Für jedes Buch erfindet sie die jeweils geeignete Form neu. Hier sind es acht Monologe, mit denen Ariel, dessen Frau Nadine, der Bekannte Serge Othon Weil und eine Psychologin im wechselnden Zwiegespräch dialogisch jeweils aneinander vorbeireden. Das ergibt eine Verzweiflungsfuge von unwiderstehlicher Komik.
Dem in Kummer und Langeweile versinkenden Philosophen Ariel Chipman - "der Kummer dient mir dazu, ein wenig Kraft zu schöpfen, die die Langeweile dann sofort wieder aufzehrt" - steht der ins affirmative Weltgefühl globaler Alternativlosigkeit sich schickende Serge gegenüber. Sex hat er aufgegeben und ist glücklich dabei. Seine Devise lautet: Konsum statt Rausch - mag er damit auch beim Gang mit der neuen Freundin durch die Boutiquen ins immer selbe Kompromiß-Beige, -Grau, -Schwarz oder -Marineblau zurückfallen. Zum Erdbeeressen verlangt er - viel praktischer - eine Gabel: kein Klappern mehr im Teller des nach der Frucht haschenden Löffels: "Du stichst hinein, du bist frei, du bist glücklich." Es ist das Glück jenes "überholten Pessimismus", der trotz allen Rückschlägen zu einer toleranten, pluralistischen, humorvollen, irgendwie fröhlich moralischen Weltgesellschaft unterwegs ist.
Nadine ist dagegen vielleicht noch niedergeschlagener als ihr Mann Ariel, denn sie leistet sich keinen Wahnsinn. Sie sieht klar, welch fataler Irrtum es war, die Liebe in den Mittelpunkt der Ehe zu stellen. Ihre letzte Glücksahnung ist, so gesteht sie der Psychologin, das Bild ihrer alten Mutter, wie sie, mit dem neuen Hut gekrümmt auf einem Klappstuhl in Hossegor sitzend, einsam und vielleicht beinah glücklich aufs Meer blickte. Im übrigen liest Nadine Zeitschriften über abgeholzte Regenwälder oder das Aussterben der Menschenaffen und schlägt, etwa nach einer mißglückten Silvesterfeier, auch schon mal mit dem Bulletin der Philosophischen Gesellschaft verzweifelt auf ihren Mann ein. Sei zärtlich, sei liebevoll - wollte dieser eigentlich nur sagen und weiß im Grund doch genau: Das Leben für die Gedanken war ein Irrtum, "wir haben uns auf die Seite der Gebildeten geschlagen, das war unser Unglück". Daß das Pendeln dieses Un- zwischen Glücklich- und Gebildetsein nicht stabilisierbar ist, gehört zum Fabrikationsgeheimnis der Figuren Yasmina Rezas. Von ihr ist kein Roman über Jungkriminelle oder pensionierte Bergsteiger zu erwarten. So läßt sie auch hier in einem Schlußmonolog an alle drei anderen die Psychologin zuletzt zu Wort kommen. Die Psychologin erzählt, wie eine mit zwei dicken Tüten vor ihr auf der Straße gehende, in ihrem Zickzackgang weder links noch rechts zu überholende Frau sie vollends aus der Lebensbahn warf.
Kaum ein Leser wird sich dem Reiz dieser virtuosen literarischen Schlittenfahrt von Spinoza zu Schopenhauer entziehen können. Keiner wird aber dabei das finden, was er bei dieser Autorin so oft schon vermißt haben mochte: das Stück glanzloser, sperriger Lebensrealität, das in keinen Sprühregen der Anspielungen und Assoziationsblitze paßt. Die faszinierenden, ganz aus ihrer Rede heraus komponierten Figuren verschwinden, sobald man das Buch weggelegt hat - kein Nachhängen einer besonderen Freude oder Bedrücktheit, eines dunklen Blicks, einer Aufbäumung oder Körperschwere, sondern Melancholie für Sofortverzehr. Da die Figuren mehr hypothetisch als wirklich schwer auf dem Schlitten sitzen, erscheint dessen Bewegung bisweilen seltsam ferngesteuert. Die gedrehten Pirouetten sind, auch in der Übersetzung, meisterhaft. Den Schnee und die Reisenden muß man sich aber selbst dazudenken.
Yasmina Reza: "Im Schlitten Arthur Schopenhauers". Aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2006. 71 S., br., 12,90 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2006Die hohe Kunst, aneinander vorbeizureden
Obduktionen im höheren kontinentalen Bürgertum: Yasmina Rezas düstere Prosaarbeit „Im Schlitten Arthur Schopenhauers”
Die Philosophie bezieht ordentlich Prügel in diesem Buch. Davon, dass es einen berühmten Denker im Titel führt, sollte sich niemand täuschen lassen. Es ist schließlich der große deutsche Irrationalist und Pessimist Schopenhauer, dem in seinem berühmten Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung” alles Streben Leiden war und alles Leben einem Pendel gleich hin und her schwang „zwischen dem Schmerz und der Langeweile”. Auch der dem Denker zugeeignete Schlitten lässt nichts Gutes erahnen, geht es mit ihm doch am besten: bergab.
Ein philosophisches Buch ist die dritte Prosaarbeit der vor allem als eine der meistgespielten Theaterautorinnen der Gegenwart bekannten Französin Yasmina Reza deshalb allerdings nicht. Eher eines, das auf gerade einmal 71 Seiten kunstvoll das Drama einer Ehe, einer Liebe erzählt, die die Depression eines Partners zerstört hat. Dass dieser Partner Philosoph ist, hat - ganz ähnlich wie bei dem Filmregisseur Claude Chabrol - schlicht die glückliche Folge, dass sofort die Fallhöhe stimmt, und man sich gleich in dem Milieu befindet, dessen Obduktion die Autorin umtreibt: im höheren kontinentalen Bürgertum. Vorgenommen wird sie diesmal in acht sorgfältig komponierten und formulierten Monologen, die jeweils an eine andere, stumm bleibende Person gerichtet sind. Die Komposition mag mit der Theateraffinität der 49-jährigen Autorin zusammenhängen, vor allem aber erlaubt sie, die beiden sich fremd gewordenen Protagonisten schon rein formal konsequent aneinander vorbeireden zu lassen.
Sein ganzes Leben hat der Philosophie-Professor Ariel Chipman dem niederländischen Rationalisten und Glückseligkeitstheoretiker Baruch de Spinoza gewidmet und ist über ihn doch verrückt geworden. Jetzt sitzt er nur noch zu Hause im Sessel und provoziert seine Frau Nadine allein schon mit der Art, wie er seine Hände über die Armlehne baumeln lässt. Als Sinnbild ihres gemeinsamen Scheiterns interpretiert sie gegenüber seinem ehemaligen Kollegen Serge seine Haltung, und schlimmer, gemeiner noch: als eigenmächtige einseitige Kapitulation vor dem Leben, das sie doch einmal gemeinsam führen wollten: „Ich möchte zu gern begreifen, warum seine Hand hängt. Man gewinnt den Eindruck, er lässt sie absichtlich hängen, um jämmerlich und erledigt zu wirken. Ich kann nicht anders, ich sehe in dieser Schlaffheit einen feindseligen Akt. (. . .) Vor dem Arzt kehren seine Lebensgeister zurück.” Ariel wiederum schlittert gegenüber der „Psychiaterin” von Gedankenschnipsel zu Gedankenschnipsel, von der Physiologie des Kummers zur Frage, wen das eigentlich jucke, „wenn Frankreich mit Aldis und Lidls gepflastert ist”.
Den Faden verloren
Ihn jedenfalls nicht und überhaupt: „Meinem Lehrmeister Deleuze hat Spinoza nicht sonderlich geholfen, als er sich aus dem Fenster gestürzt hat, meinem Lehrmeister Althusser auch nicht, als er seine Frau erwürgte.” Ist es schon der Wahn oder immer noch das Selbstmitleid? Serge vermag ihn jedenfalls erst recht nicht aufzuheitern bei seinem Besuch: „Ich bin viel glücklicher, seit ich den Sex aufgegeben habe, weißt du.” Zum Schluss entgleist auch die Psychiaterin.
Sie haben irgendwann allesamt den Faden verloren, die Figuren im Schlitten Arthur Schopenhauers. Ihn wieder aufzunehmen gönnt Yasmina Reza bei aller Komik keiner von ihnen. Im Gegenteil: Ziemlich genüsslich stellt sie die Rampe für das Gefährt der Gefährten mit jeder Pointe etwas steiler.JENS-CHRISTIAN RABE
YASMINA REZA: Im Schlitten Arthur Schopenhauers. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Edition Akzente im Hanser Verlag, München 2006. 71 S., 12,90 Euro.
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Obduktionen im höheren kontinentalen Bürgertum: Yasmina Rezas düstere Prosaarbeit „Im Schlitten Arthur Schopenhauers”
Die Philosophie bezieht ordentlich Prügel in diesem Buch. Davon, dass es einen berühmten Denker im Titel führt, sollte sich niemand täuschen lassen. Es ist schließlich der große deutsche Irrationalist und Pessimist Schopenhauer, dem in seinem berühmten Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung” alles Streben Leiden war und alles Leben einem Pendel gleich hin und her schwang „zwischen dem Schmerz und der Langeweile”. Auch der dem Denker zugeeignete Schlitten lässt nichts Gutes erahnen, geht es mit ihm doch am besten: bergab.
Ein philosophisches Buch ist die dritte Prosaarbeit der vor allem als eine der meistgespielten Theaterautorinnen der Gegenwart bekannten Französin Yasmina Reza deshalb allerdings nicht. Eher eines, das auf gerade einmal 71 Seiten kunstvoll das Drama einer Ehe, einer Liebe erzählt, die die Depression eines Partners zerstört hat. Dass dieser Partner Philosoph ist, hat - ganz ähnlich wie bei dem Filmregisseur Claude Chabrol - schlicht die glückliche Folge, dass sofort die Fallhöhe stimmt, und man sich gleich in dem Milieu befindet, dessen Obduktion die Autorin umtreibt: im höheren kontinentalen Bürgertum. Vorgenommen wird sie diesmal in acht sorgfältig komponierten und formulierten Monologen, die jeweils an eine andere, stumm bleibende Person gerichtet sind. Die Komposition mag mit der Theateraffinität der 49-jährigen Autorin zusammenhängen, vor allem aber erlaubt sie, die beiden sich fremd gewordenen Protagonisten schon rein formal konsequent aneinander vorbeireden zu lassen.
Sein ganzes Leben hat der Philosophie-Professor Ariel Chipman dem niederländischen Rationalisten und Glückseligkeitstheoretiker Baruch de Spinoza gewidmet und ist über ihn doch verrückt geworden. Jetzt sitzt er nur noch zu Hause im Sessel und provoziert seine Frau Nadine allein schon mit der Art, wie er seine Hände über die Armlehne baumeln lässt. Als Sinnbild ihres gemeinsamen Scheiterns interpretiert sie gegenüber seinem ehemaligen Kollegen Serge seine Haltung, und schlimmer, gemeiner noch: als eigenmächtige einseitige Kapitulation vor dem Leben, das sie doch einmal gemeinsam führen wollten: „Ich möchte zu gern begreifen, warum seine Hand hängt. Man gewinnt den Eindruck, er lässt sie absichtlich hängen, um jämmerlich und erledigt zu wirken. Ich kann nicht anders, ich sehe in dieser Schlaffheit einen feindseligen Akt. (. . .) Vor dem Arzt kehren seine Lebensgeister zurück.” Ariel wiederum schlittert gegenüber der „Psychiaterin” von Gedankenschnipsel zu Gedankenschnipsel, von der Physiologie des Kummers zur Frage, wen das eigentlich jucke, „wenn Frankreich mit Aldis und Lidls gepflastert ist”.
Den Faden verloren
Ihn jedenfalls nicht und überhaupt: „Meinem Lehrmeister Deleuze hat Spinoza nicht sonderlich geholfen, als er sich aus dem Fenster gestürzt hat, meinem Lehrmeister Althusser auch nicht, als er seine Frau erwürgte.” Ist es schon der Wahn oder immer noch das Selbstmitleid? Serge vermag ihn jedenfalls erst recht nicht aufzuheitern bei seinem Besuch: „Ich bin viel glücklicher, seit ich den Sex aufgegeben habe, weißt du.” Zum Schluss entgleist auch die Psychiaterin.
Sie haben irgendwann allesamt den Faden verloren, die Figuren im Schlitten Arthur Schopenhauers. Ihn wieder aufzunehmen gönnt Yasmina Reza bei aller Komik keiner von ihnen. Im Gegenteil: Ziemlich genüsslich stellt sie die Rampe für das Gefährt der Gefährten mit jeder Pointe etwas steiler.JENS-CHRISTIAN RABE
YASMINA REZA: Im Schlitten Arthur Schopenhauers. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Edition Akzente im Hanser Verlag, München 2006. 71 S., 12,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Im Gegensatz zu dem, was der Titel andeutet, erzählt Yasmina Reza in ihrem kurzen, aber "kunstvollen" Roman keine philosophische Geschichte, sondern die Zerstörung eines Paares, das die Depression eines Partners nicht überwinden kann, erklärt Jens-Christian Rabe. In acht "sorgfältigen komponierten" Monologen äußern sich jeweils Ariel, der vom Beruf Philosoph ist und Nadine, die wie eine Psychiaterin sein sie provozierendes Verhalten zu analysieren versucht. Rabe erkennt in dieser Reihung von Monologen die Dramatikerin Yasmina Reza, die vor ihren Prosastücken vor allem als Theaterautorin bekannt war. Die Art der Darstellung lasse zudem schon "rein formal" deutlich werden, dass die beiden Protagonisten von der ersten Seite an nicht miteinander, sondern "aneinander vorbeireden". Über die "düstere" Schilderung des Zerbrechens einer Beziehung hinaus unternehme Reza in ihrer dritten Prosaarbeit zudem eine treffende Autopsie des höheren Bürgertums.
© Perlentaucher Medien GmbH
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