'An meinem sechzehnten Geburtstag zog ich dann ins Internat', heißt es am Schluss von Helga M. Novaks Buch 'Die Eisheiligen' (1979). Zurück bleiben die Adoptiveltern Kaltesophie und Karl. Das junge Mädchen sucht und findet im zweiten Band ihrer autobiographischen Prosa 'Vogel federlos' (1982) in der neuen sozialistischen Gesellschaft der DDR ihre Ersatzfamilie. Doch auch diese Familie hält nicht, was sie verspricht. Enthusiastisch beginnt Helga M. Novak 1954 ein Journalismus-Studium, fühlt sich jedoch schon bald wie ein Tier im Schwanenhals, der tödlichen Jagdfalle, aus der man sichnicht befreien kann. Als die Stasi sie verpflichtet, ihre Kommilitonen zu bespitzeln, tritt sie aus der Partei aus und wird exmatrikuliert. Ende 1957 flieht sie mit ihrem isländischen Freund nach Island, schreibt, arbeitet in Fischfabriken und kehrt erst 1965 nach Leipzig zurück. Am Johannes R. Becher-Institut versucht sie einen Neuanfang,doch eine wie sie ist unerwünscht. Lange vor Wolf Biermann wird Helga M. Novak aus der DDR ausgewiesen. Staatenlos führt sie ein unstetes Leben, das sie quer durch Europa führt. Ihre Bücher wurden in der DDR nicht veröffentlicht; ihreGedichte findet man dort nur als Abschrift in den Akten der Staatssicherheit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2013Weder heirate ich, noch lerne ich diese Sprache!
Aufgewachsen im Nationalsozialismus, Spionin der Stasi, ausgewiesen aus der DDR: Helga M. Novak beschließt mit "Im Schwanenhals" ihr autobiographisches Projekt.
Die Vorgeschichte dieses Buches ist lang. 1979 veröffentlichte die 1935 geborene Helga M. Novak ihre Kindheitserinnerungen unter dem Titel "Die Eisheiligen". Die Kritiker waren damals von dem klirrenden, atemberaubend kühlen Ton fasziniert, mit der die Lyrikerin von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus erzählte. Die Misshandlungen durch die Adoptivmutter "Kaltesofie" wurden in der nüchternen Perspektive des Kindes zu einer Allegorie jener kleinbürgerlichen Mentalität, die dem deutschen Faschismus an die Macht verholfen hatte. Lückenlos an dieses erste autobiographische Buch schloss sich 1992 der Bericht "Vogel federlos" an, in dem Helga M. Novak ihre begeisterte Hinwendung zum Kommunismus in der frühen DDR schilderte, ihre Hoffnung auf die gerechte sozialistische Gesellschaft und ihren Glauben an den Alleinvertretungsanspruch der SED. Schon dieser zweite Band ließ keinen Zweifel daran, dass die straffe Parteidisziplin den suchenden Fragen der Heranwachsenden und ihrer Lust an der Unabhängigkeit auf Dauer keinen Raum bot. Wie aber ging es weiter mit dieser wachen jungen Dichterin, die sich die Selbständigkeit des Denkens nicht verbieten lassen wollte und die hungrig war auf Erfahrungen aller Art, auf Reisen, Abenteuer und Liebe?
Erst jetzt, in ihrem 79. Jahr, vollendete Helga M. Novak ihr großes autobiographisches Projekt. Wieder steht eine poetische Metapher im Titel: Der "Schwanenhals" bezeichnet das Tellereisen, das Wildtiere so grausam gefangen nimmt, dass sie sich mitunter selbst eine Pfote abreißen, um ihre Freiheit wiederzugewinnen. Zugleich ist dies auch der Name jener labyrinthischen Katakomben, mit denen chinesische Einwanderer San Francisco untertunnelt haben sollen.
Von beidem, von bösen Verletzungen und verschlungenen Wegen, ist in diesem Band ausführlich die Rede. Die Erinnerungen setzen im Jahr 1954 ein, als Novak, neunzehnjährig und zukunftsfroh, in Leipzig das Studium der Journalistik begann. Bald aber stieß die neugierige, suchende, fragende Studentin an Schranken, die unnachgiebiger waren, als sie es sich je hatte ausmalen können. Leichtfertig hatte sie das Dokument unterzeichnet, das sie zur Mitarbeit bei der Stasi verpflichtete. Bald darauf sollte sie ihre neuen Studienfreunde bespitzeln, eine Gruppe isländischer Studenten, die in der abgeschotteten DDR so exotisch gewirkt haben muss wie eine Horde halbnackter Wikinger im Nähkränzchen.
Die Katastrophe begann, als Helga M. Novak das Schweigegebot brach, ihren isländischen Freunden von dem Spitzelauftrag erzählte und zugleich - mit einer heute verblüffend erscheinenden Naivität - ihren Austritt aus der SED erklärte. Ein solcher Akt der Selbstbestimmung war in der DDR nicht vorgesehen. Als sich Novak dann auch noch in der Vollversammlung der Leipziger Journalistik-Studenten dem eingeübten Ritual der Selbstkritik verweigerte, wurde sie zur persona non grata erklärt und tags darauf exmatrikuliert - eine Erfahrung, von deren traumatisierender Wirkung sie noch heute eindringlich berichtet, voll Verbitterung und enttäuschter Liebe.
An ihrer Liebe zum Sozialismus hielt Helga M. Novak weiterhin fest, wohin auch immer ihr Weg sie führte. Und das waren erstaunliche Stationen. Noch im Jahr ihrer Exmatrikulation, 1957, gelang ihr mit ihrem Partner die Flucht nach Island, wo sie zu schreiben begann und doch andauernd von ihren Leipziger Freunden träumte. Zahlreiche Brief- und Tagebuchzitate, die in die Erinnerungen hineinmontiert sind, veranschaulichen das Unglück der zornigen Migrantin, die sich schwer mit dem Isländischen tat: "Und es gibt zwei Vorsätze: weder heirate ich, noch lerne ich diese gottverdammte Sprache!"
Tatsächlich kehrte Helga M. Novak schon bald, mürbe vor Heimweh und allein, in die DDR zurück. Dort brachte sie ihren Sohn zur Welt und arbeitete in einer Fabrik, bis die Stasi sie abermals als Spitzel anwerben wollte. Wieder reiste sie nach Island, an der Seite eines anderen Mannes. Auch diese Verbindung ging in die Brüche, die nunmehr beiden Kinder wurden bei isländischen Pflegeeltern untergebracht, und voll innerer Unruhe zog Novak weiter. In Island verdiente sie sich das Geld für die erste Veröffentlichung ihrer Gedichte beim Einsalzen von Heringen, im Winter lebte sie bettelarm an der Seite eines neuen Partners auf Sizilien. Für die Schönheiten der beträchtlich wärmeren Landschaft und der antiken Zeugnisse hatte sie freilich keinen Sinn: "Sonntags riecht Palermo nach gebratener Scheiße."
So unwahrscheinlich es klingt - die Dichterin zog es aufs Neue in ihre Heimat. 1965 wurde sie in Leipzig zum Studium am renommierten Johannes-R.-Becher-Institut zugelassen; sie suchte und fand die Freundschaft Robert Havemanns und träumte weiter ihren Traum von einer gerechten Gesellschaft. Anpassung hatte sie indes noch immer nicht gelernt: 1966 wurde Helga M. Novak endgültig des Landes verwiesen. Im westdeutschen Luchterhand-Verlag fand sie eine Heimat für ihre Bücher, doch sie selbst, inzwischen staatenlos geworden, fasste in der Bundesrepublik nur zögernd Fuß. Eine Zeitlang lebte sie in Jugoslawien, bis sie sich schließlich in Polen niederließ, wo sie sich inmitten der Wälder offenbar so wohl fühlt, wie es ihr weder im Norden noch im Süden je gelang.
Helga M. Novaks erstaunlicher Lebensrückblick, den sie zusammen mit der Publizistin Rita Jorek verfasste, entstand über einen langen Zeitraum. Nicht jede Nahtstelle zwischen verschiedenen Textstufen wurde dabei geglättet; nicht jede holprige Formulierung ersetzt. Seine Kraft gewinnt dieses Buch als Zeugnis einer lebenslangen Wahrheitssuche und durch seine große Offenheit, gerade auch gegenüber den eigenen Um- und Irrwegen.
SABINE DOERING.
Helga M. Novak: "Im Schwanenhals".
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2013. 352 S., geb., 22,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufgewachsen im Nationalsozialismus, Spionin der Stasi, ausgewiesen aus der DDR: Helga M. Novak beschließt mit "Im Schwanenhals" ihr autobiographisches Projekt.
Die Vorgeschichte dieses Buches ist lang. 1979 veröffentlichte die 1935 geborene Helga M. Novak ihre Kindheitserinnerungen unter dem Titel "Die Eisheiligen". Die Kritiker waren damals von dem klirrenden, atemberaubend kühlen Ton fasziniert, mit der die Lyrikerin von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus erzählte. Die Misshandlungen durch die Adoptivmutter "Kaltesofie" wurden in der nüchternen Perspektive des Kindes zu einer Allegorie jener kleinbürgerlichen Mentalität, die dem deutschen Faschismus an die Macht verholfen hatte. Lückenlos an dieses erste autobiographische Buch schloss sich 1992 der Bericht "Vogel federlos" an, in dem Helga M. Novak ihre begeisterte Hinwendung zum Kommunismus in der frühen DDR schilderte, ihre Hoffnung auf die gerechte sozialistische Gesellschaft und ihren Glauben an den Alleinvertretungsanspruch der SED. Schon dieser zweite Band ließ keinen Zweifel daran, dass die straffe Parteidisziplin den suchenden Fragen der Heranwachsenden und ihrer Lust an der Unabhängigkeit auf Dauer keinen Raum bot. Wie aber ging es weiter mit dieser wachen jungen Dichterin, die sich die Selbständigkeit des Denkens nicht verbieten lassen wollte und die hungrig war auf Erfahrungen aller Art, auf Reisen, Abenteuer und Liebe?
Erst jetzt, in ihrem 79. Jahr, vollendete Helga M. Novak ihr großes autobiographisches Projekt. Wieder steht eine poetische Metapher im Titel: Der "Schwanenhals" bezeichnet das Tellereisen, das Wildtiere so grausam gefangen nimmt, dass sie sich mitunter selbst eine Pfote abreißen, um ihre Freiheit wiederzugewinnen. Zugleich ist dies auch der Name jener labyrinthischen Katakomben, mit denen chinesische Einwanderer San Francisco untertunnelt haben sollen.
Von beidem, von bösen Verletzungen und verschlungenen Wegen, ist in diesem Band ausführlich die Rede. Die Erinnerungen setzen im Jahr 1954 ein, als Novak, neunzehnjährig und zukunftsfroh, in Leipzig das Studium der Journalistik begann. Bald aber stieß die neugierige, suchende, fragende Studentin an Schranken, die unnachgiebiger waren, als sie es sich je hatte ausmalen können. Leichtfertig hatte sie das Dokument unterzeichnet, das sie zur Mitarbeit bei der Stasi verpflichtete. Bald darauf sollte sie ihre neuen Studienfreunde bespitzeln, eine Gruppe isländischer Studenten, die in der abgeschotteten DDR so exotisch gewirkt haben muss wie eine Horde halbnackter Wikinger im Nähkränzchen.
Die Katastrophe begann, als Helga M. Novak das Schweigegebot brach, ihren isländischen Freunden von dem Spitzelauftrag erzählte und zugleich - mit einer heute verblüffend erscheinenden Naivität - ihren Austritt aus der SED erklärte. Ein solcher Akt der Selbstbestimmung war in der DDR nicht vorgesehen. Als sich Novak dann auch noch in der Vollversammlung der Leipziger Journalistik-Studenten dem eingeübten Ritual der Selbstkritik verweigerte, wurde sie zur persona non grata erklärt und tags darauf exmatrikuliert - eine Erfahrung, von deren traumatisierender Wirkung sie noch heute eindringlich berichtet, voll Verbitterung und enttäuschter Liebe.
An ihrer Liebe zum Sozialismus hielt Helga M. Novak weiterhin fest, wohin auch immer ihr Weg sie führte. Und das waren erstaunliche Stationen. Noch im Jahr ihrer Exmatrikulation, 1957, gelang ihr mit ihrem Partner die Flucht nach Island, wo sie zu schreiben begann und doch andauernd von ihren Leipziger Freunden träumte. Zahlreiche Brief- und Tagebuchzitate, die in die Erinnerungen hineinmontiert sind, veranschaulichen das Unglück der zornigen Migrantin, die sich schwer mit dem Isländischen tat: "Und es gibt zwei Vorsätze: weder heirate ich, noch lerne ich diese gottverdammte Sprache!"
Tatsächlich kehrte Helga M. Novak schon bald, mürbe vor Heimweh und allein, in die DDR zurück. Dort brachte sie ihren Sohn zur Welt und arbeitete in einer Fabrik, bis die Stasi sie abermals als Spitzel anwerben wollte. Wieder reiste sie nach Island, an der Seite eines anderen Mannes. Auch diese Verbindung ging in die Brüche, die nunmehr beiden Kinder wurden bei isländischen Pflegeeltern untergebracht, und voll innerer Unruhe zog Novak weiter. In Island verdiente sie sich das Geld für die erste Veröffentlichung ihrer Gedichte beim Einsalzen von Heringen, im Winter lebte sie bettelarm an der Seite eines neuen Partners auf Sizilien. Für die Schönheiten der beträchtlich wärmeren Landschaft und der antiken Zeugnisse hatte sie freilich keinen Sinn: "Sonntags riecht Palermo nach gebratener Scheiße."
So unwahrscheinlich es klingt - die Dichterin zog es aufs Neue in ihre Heimat. 1965 wurde sie in Leipzig zum Studium am renommierten Johannes-R.-Becher-Institut zugelassen; sie suchte und fand die Freundschaft Robert Havemanns und träumte weiter ihren Traum von einer gerechten Gesellschaft. Anpassung hatte sie indes noch immer nicht gelernt: 1966 wurde Helga M. Novak endgültig des Landes verwiesen. Im westdeutschen Luchterhand-Verlag fand sie eine Heimat für ihre Bücher, doch sie selbst, inzwischen staatenlos geworden, fasste in der Bundesrepublik nur zögernd Fuß. Eine Zeitlang lebte sie in Jugoslawien, bis sie sich schließlich in Polen niederließ, wo sie sich inmitten der Wälder offenbar so wohl fühlt, wie es ihr weder im Norden noch im Süden je gelang.
Helga M. Novaks erstaunlicher Lebensrückblick, den sie zusammen mit der Publizistin Rita Jorek verfasste, entstand über einen langen Zeitraum. Nicht jede Nahtstelle zwischen verschiedenen Textstufen wurde dabei geglättet; nicht jede holprige Formulierung ersetzt. Seine Kraft gewinnt dieses Buch als Zeugnis einer lebenslangen Wahrheitssuche und durch seine große Offenheit, gerade auch gegenüber den eigenen Um- und Irrwegen.
SABINE DOERING.
Helga M. Novak: "Im Schwanenhals".
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2013. 352 S., geb., 22,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kraftvoll erscheint der Lebensrückblick der Schriftstellerin und DDR-Dissidentin Helga M. Novak der Rezensentin Sabine Doering nicht zuletzt, da der über einen langen Zeitraum entstandene und später nicht eigens geglättete Text so offen und wahrhaftig ist, auch den Schwächen der Autorin gegenüber (ihrer Stasi-Mitarbeit etwa). Doering schätzt die so sichtbaren verschlungenen Lebenswege, die die Autorin unter anderem von der DDR nach Island, Sizilien, in die BRD und nach Polen, aber auch immer wieder zurückgeführt haben. Kontinuität wiederum erkennt Doering in der Liebe der Autorin zum Sozialismus, den Novak schließlich auch gegen die eigene Heimat verteidigte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Atemberaubend! (...) Ein in jeder Beziehung notwendiges, großartiges Buch.« Hanne Kulessa, HR2 Kultur, Mikado »Man begreift ihre Angst, ihre Melancholie, ihre Heimatlosigkeit, die Im Schwanenhals auf jeder Seite spürbar ist und (...) warum als einzige Zuflucht das Schreiben bleibt.« Konstantin Ulmer, Freitag »Seine Kraft gewinnt dieses Buch als Zeugnis einer lebenslangen Wahrheitssuche und durch seine große Offenheit, gerade auch gegenüber den eigenen Um- und Irrwegen.« Sabine Doering, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Wer dachte, er habe schon so viel gelesen über die DDR, dass er der (...) Geschichten überdrüssig sei, (...) - sollte dieses Buch aufschlagen und sich (...) mitreißen lassen.« Julia Schoch, Die Welt/Die Literarische Welt »Wer Im Schwanenhals nach der Lektüre aus der Hand legt, weiß auch, dass dieses Buch widrigsten Lebensumständen abgerungen worden ist.« Michael Opitz, WDR3 Passagen »Schreiben ist ein Versuch der Selbstbefreiung, und die braucht die Anteilnahme des Lesers. Wir haben allen Grund, Helga Novak für dieses Buch dankbar zu sein.« Fritz Rudolf Fries, Neues Deutschland »Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis, das zugleich unschätzbare Einblicke in das private, politische und schöpferische Leben einer eigenwilligen Ausnahme-Lyrikerin gewährt.« Anja Kümmel, fixpoetry (Blog) »Ein Buch, dem viele Leser in Ost und West zu wünschen sind und das alle nach der Lektüre um einiges klüger entlassen wird.« Dieter Schneider, Antenne Brandenburg