Kaum etwas unterscheidet Ost- und Westdeutsche bis heute so sehr wie das Maß an religiösen Bindungen. Die Zahl der Kirchenmitglieder ging nach 1949 in der DDR ungleich schneller und dramatischer zurück als in der Bundesrepublik, aber auch dort machte sich die Tendenz der westlichen Moderne zur Säkularisierung zunehmend bemerkbar.Thomas Brechenmacher beschreibt vor diesem Hintergrund, wie sich das Verhältnis zwischen christlichen Kirchen und Politik in beiden deutschen Staaten bis 1990 entwickelt hat. Dabei nimmt er besonders den unterschiedlichen Umgang mit Religion in Schule und Jugendarbeit, die gesellschaftlichen Debatten über Krieg und Frieden und die Bedeutung der Kirchen in der Friedlichen Revolution in den Blick.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Reingard Bingener empfiehlt das Buch des Historikers Thomas Brechenmacher als genauen Überblick über das Verhältnis von Staat und Kirchen in beiden Teilen Deutschlands nach 1945. Der deskriptive, politisch orientierte Ansatz (statt geistesgeschichtlich deutend) geht für Bingener in Ordnung, gelingt es dem Autor laut Rezensent doch, die konfessionellen Zustände beziehungsweise Verhältnisse zum Staat in Ost und West zu vermitteln. Aktuell scheint Bingener der Band, wenn Brechenmacher frühere innerkirchliche Debatten erkundet oder die unbestimmte "kirchliche Friedensethik" ab den 1950ern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2022Gremienwüsten und diskrete Milliardentransfers
Eine Kirchengeschichte Deutschlands seit der Nachkriegszeit
Der Potsdamer Historiker Thomas Brechenmacher hat einen Überblick über das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Das Buch ist Teil der Reihe "Die geteilte Nation", die jeweils im handlichen 200-Seiten-Format über wichtige Aspekte der deutschen Geschichte zwischen 1945 und 1990 informiert. Die Religionsfrage eignet sich für eine solche vergleichende Betrachtung der beiden deutschen Staaten. Denn auf kaum einem anderen Feld schlugen Bonn und Ost-Berlin so verschiedene Pfade ein wie in der Religionspolitik. Im Westen wurden die Bestimmungen der Weimarer Verfassung auf wohlwollende Weise fortgeschrieben, und man schloss Staatskirchenverträge und Konkordate, die den Kirchen Vorteile boten. Die erste DDR-Verfassung von 1949 schmälerte die Rechte der Kirchen hingegen. Die zweite Verfassung von 1968 sollte die Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften im Vergleich zu Weimar sogar noch stärker beschneiden. Die SED-Oberen verfolgten ihr Ziel, die Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben herauszudrängen mit einer solchen Vehemenz, dass ihr Eifer zeitweilig sogar von Stalin gedämpft wurde. Brechenmacher stellt den diktatorischen Charakter dieser Politik klar heraus, zeigt aber auch ihren "Erfolg" auf: Anders als in den meisten anderen Politikfeldern hat die in der Religionspolitik ihr Ziel einer weitgehenden Entkirchlichung nachhaltig erreicht.
Die beiden Konfessionen reagierten auf die Lagen in Ost und West unterschiedlich: Der katholischen Seite bereitete es wenig Schwierigkeiten, sich auf die Bonner Republik einzulassen, in der gerade zu Beginn als "Unterströmung" die Idee des christlichen Abendlandes wirkte. In der evangelischen Kirche verfolgten hingegen besonders die vormaligen Bruderräte der Bekennenden Kirche mit Argwohn, wie der Westen Deutschlands von Adenauer auf antikommunistischen West-Kurs geführt wurde. Martin Niemöller brachte diese Ablehnung auf die eingängige Formel, die Bundesrepublik sei "im Vatikan gezeugt, in Washington geboren" worden. Der linke Flügel des Protestantismus hätte im Gefolge des reformierten Theologen Karl Barth ein anderes Gesellschaftsmodell mit sozialistischen Elementen bevorzugt. Vor allem in den lutherischen Landeskirchen wurde indes bürgerlicher und konservativer gedacht - Brechenmacher bezeichnet die EKD daher theologisch wie politisch treffend als eine "Konfliktgemeinschaft".
Im Osten war es hingegen die katholische Seite, die auf Distanz zum Staat blieb, während die evangelischen Kirchenleitungen unter der Formel "Kirche im Sozialismus" den Ausgleich mit dem Regime suchten, wobei nicht ganz klar wird, worin dabei der Vorteil für die Kirche lag. Brechenmacher geht auch auf die diskreten Finanztransfers der Westkirchen an die Schwestern und Brüder im Osten ein, die in den bisherigen Darstellungen kaum beleuchtet wurden. Der Potsdamer Historiker schreibt, dass sich allein die Rohstoff-Transfers auf mehr als zwei Milliarden Mark beliefen, die gesamte Summe aber weit höher liegen dürfte. Und die Zahlungen hätten "nolens volens" auch das DDR-Regime wirtschaftlich stabilisiert.
Für Katholiken, die gegenwärtig über die Verfassung ihrer eigenen Kirche nachdenken, dürften die Abschnitte über die innerkirchlichen Debatten aufschlussreich sein. Brechenmacher erkennt beim Neuaufbau nach 1945 zunächst eine manifeste "Verkirchlichung" des Katholizismus. Die katholische Vereinswelt hatte sich unter dem Druck des Nationalsozialismus unter das Dach der Amtskirche geflüchtet, was den römischen Bestrebungen nach Zentralisation auch nach dem Krieg durchaus zupasskam. Für die evangelische Kirche wäre zu diskutieren, ob die Dominanz der barthianischen Neo-Orthodoxie nach 1945 letztlich nicht einen vergleichbaren Prozess angestoßen hat. Solche theologiegeschichtlichen Diskussionen meidet der Historiker Brechenmacher allerdings, obwohl er die Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Denkschulen stets im Blick behält.
Überzeugend sind die Überlegungen zur Ost-Denkschrift der EKD von 1965 mit ihrer Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Brechenmacher sieht in dem damals aufsehenerregenden Dokument einerseits das Fortwirken der alten Adenauer-Kritiker in der EKD, die sich nun zum "Promotor der Neuen Ostpolitik" wandelten. Die SPD reagierte darauf mit einer "Umarmungstaktik" gegenüber dem Protestantismus, die laut Brechenmacher aber nur zum Teil aufging. Ein Teil des Milieus sei so "anti-bürgerlich" eingestellt gewesen, dass es weiter nach links rückte und in den späten Siebzigerjahren die Friedens- und Ökologiebewegung maßgeblich beeinflusste.
Mit einiger Skepsis beurteilt Brechenmacher die innerkatholischen Reformdiskussionen. Die Würzburger Synode (1971-1975) sei "in einem Meer von Papier" untergegangen, auch die anderen Anstöße seien - durchaus zur Zufriedenheit mancher Bischöfe - in "Gremienwüsten" versandet. Parallelen zur Gegenwart drängen sich auf.
Aktuelle Bezüge gibt es auch im Kapitel zur kirchlichen Friedensethik: Brechenmacher urteilt, dass die evangelische Kirche schon in den Fünfzigerjahren auf eine "unbestimmte Linie" eingeschwenkt sei, weil der Konflikt über die Wiederbewaffnung zwischen den linken Brüderräten und den Adenauer-Anhängern nicht lösbar erschien. In der katholischen Kirche verlief die Debatte weniger scharf, denn dort blieb der friedensbewegte Linkskatholizismus ein Randphänomen.
Die fest gefügten konfessionellen Milieus sieht Brechenmacher generell in der Auflösung. Beide Konfessionen seien einem "Mahlstrom der Säkularisierung" ausgesetzt. Der Historiker versteht die vergangenen Jahrzehnte als zunehmende "Vergesellschaftung der Christen"; das Merkmal Religionszugehörigkeit büße zunehmend an Relevanz ein. Dagegen helfe weder ein "bis zur Unkenntlichkeit verzeitgeistigter Protestantismus" noch eine Selbstverbarrikadierung der katholischen Amtskirche, wie Brechenmacher ausnahmsweise spitz formuliert. Der "Sog der Säkularisierung" sei für die Kirchen zu einem Strudel geworden, aus dem sie sich aus eigener Kraft kaum mehr befreien können. Die Option einer religiösen Zeitenwende - falls doch wieder "die schwarze, metaphysische Angst" übers Land hereinbricht - hält sich Brechenmacher allerdings ausdrücklich offen.
Insgesamt ist hier ein präziser Überblick über die Geschichte der beiden Kirchen nach 1945 gelungen, dessen Schwerpunkt eher in der Deskription als der Deutung und eher auf den politischen Bezügen als der geistesgeschichtlichen Entwicklung liegt. REINHARD BINGENER
Thomas Brechenmacher: Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1949 -1990).
be.bra Verlag, Berlin 2021. 208 S., 22,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Kirchengeschichte Deutschlands seit der Nachkriegszeit
Der Potsdamer Historiker Thomas Brechenmacher hat einen Überblick über das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Das Buch ist Teil der Reihe "Die geteilte Nation", die jeweils im handlichen 200-Seiten-Format über wichtige Aspekte der deutschen Geschichte zwischen 1945 und 1990 informiert. Die Religionsfrage eignet sich für eine solche vergleichende Betrachtung der beiden deutschen Staaten. Denn auf kaum einem anderen Feld schlugen Bonn und Ost-Berlin so verschiedene Pfade ein wie in der Religionspolitik. Im Westen wurden die Bestimmungen der Weimarer Verfassung auf wohlwollende Weise fortgeschrieben, und man schloss Staatskirchenverträge und Konkordate, die den Kirchen Vorteile boten. Die erste DDR-Verfassung von 1949 schmälerte die Rechte der Kirchen hingegen. Die zweite Verfassung von 1968 sollte die Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften im Vergleich zu Weimar sogar noch stärker beschneiden. Die SED-Oberen verfolgten ihr Ziel, die Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben herauszudrängen mit einer solchen Vehemenz, dass ihr Eifer zeitweilig sogar von Stalin gedämpft wurde. Brechenmacher stellt den diktatorischen Charakter dieser Politik klar heraus, zeigt aber auch ihren "Erfolg" auf: Anders als in den meisten anderen Politikfeldern hat die in der Religionspolitik ihr Ziel einer weitgehenden Entkirchlichung nachhaltig erreicht.
Die beiden Konfessionen reagierten auf die Lagen in Ost und West unterschiedlich: Der katholischen Seite bereitete es wenig Schwierigkeiten, sich auf die Bonner Republik einzulassen, in der gerade zu Beginn als "Unterströmung" die Idee des christlichen Abendlandes wirkte. In der evangelischen Kirche verfolgten hingegen besonders die vormaligen Bruderräte der Bekennenden Kirche mit Argwohn, wie der Westen Deutschlands von Adenauer auf antikommunistischen West-Kurs geführt wurde. Martin Niemöller brachte diese Ablehnung auf die eingängige Formel, die Bundesrepublik sei "im Vatikan gezeugt, in Washington geboren" worden. Der linke Flügel des Protestantismus hätte im Gefolge des reformierten Theologen Karl Barth ein anderes Gesellschaftsmodell mit sozialistischen Elementen bevorzugt. Vor allem in den lutherischen Landeskirchen wurde indes bürgerlicher und konservativer gedacht - Brechenmacher bezeichnet die EKD daher theologisch wie politisch treffend als eine "Konfliktgemeinschaft".
Im Osten war es hingegen die katholische Seite, die auf Distanz zum Staat blieb, während die evangelischen Kirchenleitungen unter der Formel "Kirche im Sozialismus" den Ausgleich mit dem Regime suchten, wobei nicht ganz klar wird, worin dabei der Vorteil für die Kirche lag. Brechenmacher geht auch auf die diskreten Finanztransfers der Westkirchen an die Schwestern und Brüder im Osten ein, die in den bisherigen Darstellungen kaum beleuchtet wurden. Der Potsdamer Historiker schreibt, dass sich allein die Rohstoff-Transfers auf mehr als zwei Milliarden Mark beliefen, die gesamte Summe aber weit höher liegen dürfte. Und die Zahlungen hätten "nolens volens" auch das DDR-Regime wirtschaftlich stabilisiert.
Für Katholiken, die gegenwärtig über die Verfassung ihrer eigenen Kirche nachdenken, dürften die Abschnitte über die innerkirchlichen Debatten aufschlussreich sein. Brechenmacher erkennt beim Neuaufbau nach 1945 zunächst eine manifeste "Verkirchlichung" des Katholizismus. Die katholische Vereinswelt hatte sich unter dem Druck des Nationalsozialismus unter das Dach der Amtskirche geflüchtet, was den römischen Bestrebungen nach Zentralisation auch nach dem Krieg durchaus zupasskam. Für die evangelische Kirche wäre zu diskutieren, ob die Dominanz der barthianischen Neo-Orthodoxie nach 1945 letztlich nicht einen vergleichbaren Prozess angestoßen hat. Solche theologiegeschichtlichen Diskussionen meidet der Historiker Brechenmacher allerdings, obwohl er die Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Denkschulen stets im Blick behält.
Überzeugend sind die Überlegungen zur Ost-Denkschrift der EKD von 1965 mit ihrer Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Brechenmacher sieht in dem damals aufsehenerregenden Dokument einerseits das Fortwirken der alten Adenauer-Kritiker in der EKD, die sich nun zum "Promotor der Neuen Ostpolitik" wandelten. Die SPD reagierte darauf mit einer "Umarmungstaktik" gegenüber dem Protestantismus, die laut Brechenmacher aber nur zum Teil aufging. Ein Teil des Milieus sei so "anti-bürgerlich" eingestellt gewesen, dass es weiter nach links rückte und in den späten Siebzigerjahren die Friedens- und Ökologiebewegung maßgeblich beeinflusste.
Mit einiger Skepsis beurteilt Brechenmacher die innerkatholischen Reformdiskussionen. Die Würzburger Synode (1971-1975) sei "in einem Meer von Papier" untergegangen, auch die anderen Anstöße seien - durchaus zur Zufriedenheit mancher Bischöfe - in "Gremienwüsten" versandet. Parallelen zur Gegenwart drängen sich auf.
Aktuelle Bezüge gibt es auch im Kapitel zur kirchlichen Friedensethik: Brechenmacher urteilt, dass die evangelische Kirche schon in den Fünfzigerjahren auf eine "unbestimmte Linie" eingeschwenkt sei, weil der Konflikt über die Wiederbewaffnung zwischen den linken Brüderräten und den Adenauer-Anhängern nicht lösbar erschien. In der katholischen Kirche verlief die Debatte weniger scharf, denn dort blieb der friedensbewegte Linkskatholizismus ein Randphänomen.
Die fest gefügten konfessionellen Milieus sieht Brechenmacher generell in der Auflösung. Beide Konfessionen seien einem "Mahlstrom der Säkularisierung" ausgesetzt. Der Historiker versteht die vergangenen Jahrzehnte als zunehmende "Vergesellschaftung der Christen"; das Merkmal Religionszugehörigkeit büße zunehmend an Relevanz ein. Dagegen helfe weder ein "bis zur Unkenntlichkeit verzeitgeistigter Protestantismus" noch eine Selbstverbarrikadierung der katholischen Amtskirche, wie Brechenmacher ausnahmsweise spitz formuliert. Der "Sog der Säkularisierung" sei für die Kirchen zu einem Strudel geworden, aus dem sie sich aus eigener Kraft kaum mehr befreien können. Die Option einer religiösen Zeitenwende - falls doch wieder "die schwarze, metaphysische Angst" übers Land hereinbricht - hält sich Brechenmacher allerdings ausdrücklich offen.
Insgesamt ist hier ein präziser Überblick über die Geschichte der beiden Kirchen nach 1945 gelungen, dessen Schwerpunkt eher in der Deskription als der Deutung und eher auf den politischen Bezügen als der geistesgeschichtlichen Entwicklung liegt. REINHARD BINGENER
Thomas Brechenmacher: Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1949 -1990).
be.bra Verlag, Berlin 2021. 208 S., 22,- Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main