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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt
  • ISBN-13: 9783498024826
  • ISBN-10: 3498024825
  • Artikelnr.: 24255765
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.1999

Ein kleiner Sprung für das Atom
Aber ein großer Schritt für die Menschheit: Alfred Gierer zieht die Konsequenzen der Quantenphysik

Viele Naturwissenschaftler vertreten "naturalistische" Auffassungen. Sie verstehen ihre Wissenschaft so, daß alles, was geschehe, mit den Mitteln der Naturwissenschaft auf die einzig wissenschaftliche Weise und vollständig erklärt werden könne, auch das Handeln des Menschen, seine Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Dem Naturwissenschaftler wird dabei die Position eines absoluten Beobachters zugeschrieben, der schließlich sogar die Genese des Wissens selbst und seine Gültigkeit kausal und definitiv zu erklären vermöge.

Der Molekularbiologe Alfred Gierer, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen, widerspricht solchen Selbstdeutungen der Naturwissenschaft. Er plädiert für die Anerkennung der prinzipiellen Grenzen ihrer Erkenntnis, um eine neue Offenheit für ein umfassendes Verständnis des Menschen und der Welt zu begründen. Die wichtigste Zäsur der modernen Wissenschaftsgeschichte markiert für Gierer die Quantenphysik, die auch die Voraussetzungen für die Erkenntnisse der modernen Biologie, der Wirkungsweise der Erbsubstanz DNS und der Proteine schuf.

Die Quantentheorie sei aber auch eine "Theorie der Begrenzung des Wissens". Sie habe die reduktionistischen, mechanistischen und deterministischen Auffassungen des neunzehnten Jahrhunderts über Naturwissenschaft in Frage gestellt, indem sie davon ausgehen mußte, daß es für den Bereich des unsichtbar Kleinen, der Atome und Moleküle, Grenzen der Bestimmbarkeit und der Berechenbarkeit gibt, die in Werner Heisenbergs Unschärferelation und seiner Auffassung über die Wechselwirkungen von Beobachter und Objekt zum Ausdruck kommen. Diese Physik ist demnach nicht eine Theorie über Wirklichkeit an sich, sondern vielmehr eine "Theorie des möglichen Wissens von der Realität". Eine exakte Wissenschaft von der Wissenschaft, eine vollständige Absicherung der Wissenschaft mit ihren eigenen Mitteln ist demnach nicht erreichbar.

Das ergibt sich, wie Gierer ausführt, auch aus der in den dreißiger Jahren begründeten mathematischen Entscheidungstheorie (Kurt Gödel, Alan Turing), welche die prinzipiellen Grenzen der mathematischen Entscheidbarkeit mit den Mitteln der Mathematik selbst nachwies. Gierer hält das für eines der "hintergründigsten Ergebnisse der modernen Wissenschaft überhaupt". Die Endlichkeit der Welt schränkt die Entscheidbarkeit von Problemen ein, und zwar im Prinzip und nicht nur in der Praxis. Das bedeutet, daß keine Wissenschaft ihre eigene Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit beweisen kann. Die Leistungen der Molekularbiologie in der Erklärung der Ausbildung komplexer Gestalten bei der Entwicklung des Embryos, die Leistungen der Hirnforschung in der Erklärung der Funktion des Gehirns bei Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung seien außerordentlich, doch unterliegen auch die Vorgänge in den Atomen und Molekülen der DNS der Quantenunschärfe. Die verbreitete Annahme, daß die Lösung der Probleme des menschlichen Bewußtseins und die völlige Entschlüsselung der Beziehungen zwischen dem Gehirn und dem Denken bevorstünden, hält Gierer für einen Irrtum. Auch bleibe die genetisch bedingte Konstituierung künftig gezeugten Lebens aus diesen Gründen "prinzipiell nicht vorhersehbar".

Im Streit über Absolutheit oder kulturelle Bedingtheit der Naturwissenschaft bezieht Gierer eine Position, die jenseits dieser Optionen liegt: "Die Ergebnisse der Wissenschaft wirken kulturübergreifend, der Wissenschaftsprozeß hingegen verläuft eher kulturspezifisch." Daß Naturwissenschaft ein "Produkt" der Kulturgeschichte ist, ändert freilich nichts an der Tragfähigkeit ihrer Erkenntnisse. Die biologisch angelegten Fähigkeiten des Menschen bedingen die kulturelle Entwicklung, aber sie determinieren sie nicht. Die Spezifika menschlichen Denkens - die Erfassung langer Zeiträume, komplexer Situationen und einer Vielfalt möglicher Entwicklungen, vor allem aber die Fähigkeit zur "Selbstpräsentation" - sind biologisch angelegt. Gleichwohl aber beruhe der "Fortschritt" ("wenn es ihn gibt") seit mindestens vierzigtausend Jahren im wesentlichen auf einer Fortentwicklung der Kultur, "kaum auf der von Genen".

Die kulturelle Entwicklung des Menschen ist demnach nicht im Sinne der biologischen Evolutionisten verlaufen, sie ist auch nicht auf "Fitneß" und eine möglichst hohe Reproduktionsrate angelegt. Die Frage, wie Werte und Normen des Handelns entstehen, wird von Gierer somit anders beantwortet, als das eine darwinistisch orientierte Soziobiologie lange Zeit getan hat. Die Annahme einer Selektion nach "Fitneß", mit der die Fähigkeit des Menschen zu Kooperation, zu Altruismus und uneigennützigem Verhalten hier gedeutet wurde, halte einer kritischen Prüfung nicht mehr stand. Gierer geht sogar noch weiter, bezieht Empathie, die Fähigkeit zum Mitfühlen, in seine Überlegungen ein und erklärt sie als Nebenprodukt der Entwicklung von strategischem Denken und Selbstpräsentation. Mit alledem skizziert Gierer eine neue Perspektive für natur- und geisteswissenschaftliches Denken zugleich, von der aus etwa die Monismus-Dualismus-Debatte über das Körper-Seele-Problem überholt erscheint. Von einer solchen Position aus greift Gierer auch in die aktuelle Debatte über die Entstehung von Werten in der Gesellschaft ein.

Kulturwissenschaftler haben von Gierer viel zu lernen, um ihre traditionelle Ignoranz gegenüber den Naturwissenschaften zu überwinden. Wer seine Ablehnung oder Uninteressiertheit bisher mit dem Hinweis auf die Undurchschaubarkeit naturwissenschaftlichen Spezialistentums oder mit der "Wissen ist Macht"-Attitüde von Naturwissenschaftlern begründet hat, kann sich mit Gierers Buch von seinen Abwehrhaltungen verabschieden. Er begegnet hier einem Naturwissenschaftler, der ihn nicht nur über die wichtigen Erkenntnisse von Mikrophysik und moderner Genbiologie eingehend und verständlich informiert, sondern der auch eine Naturwissenschaft repräsentiert, die "unter der Wissensflut" letztlich nach "Weisheit" sucht. Daß er mit vielen seiner Überlegungen sich nicht auf dem "Mainstream" der Selbstdeutungen heutiger Naturwissenschaftler befindet, weiß Gierer selbst. Sein Buch ist ein höchst eindrucksvoller Brückenschlag zwischen Kuturwissenschaften und Naturwissenschaften. Man darf hoffen, daß - von beiden Seiten - viele diese Brücke betreten werden.

OTTO GERHARD OEXLE

Alfred Gierer: "Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst". Wissenschaft und Menschenbild. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998. 318 S., geb., 39,80 DM.

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