Bereits 2003 schrieb die Philosophin Susan Bordo, dass wir in einem "Imperium der Bilder" leben. In den letzten Jahren wurde diese Theorie mehr und mehr zur Realität: Eine iPhone-Kamera in jeder Hand, und dank der weit verbreiteten Social-Media-Nutzung ertrinken wir in einer Flut der Bilder. Wir kommunizieren durch Bilder, wir verabreden uns mittels Bildern, wir berichten aus unserem Leben mit Bildern und wir erfahren über das Leben anderer durch Bilder.Wie hat sich unser Schönheitsempfinden dadurch verändert? Diese Frage wird hier in fünf Essays, die sich dem Thema jeweils aus einer anderen Perspektive nähern, untersucht. Die Schwedin Liv Strömquist ist ein Phänomen. Ihre augenzwinkernden, minutiös recherchierten Sachcomics gehören zu den meist verkauften Graphic Novels weltweit."Liv Strömquist entzaubert nicht nur Sexualität, sondern auch das Patriarchat. Und das tut sie auf sehr schlaue, lustige und schöne Art". Margarete Stokowski
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Bin ich schön?
Tyrannei der Blicke: Liv Strömquist im „Spiegelsaal“
Warum, fragt die schwedische Comic-Bestsellerautorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch, fühlen junge Frauen, die ein Bild von – sagen wir: Kylie Jenner – sehen, nicht das Gleiche wie etwa beim Anblick eines wunderschönen Sonnenuntergangs? Stattdessen vielleicht Minderwertigkeitsgefühle, Neid, Wut oder das Bedürfnis, ein teures Hautpflegeprodukt zu kaufen?
Das Thema „Schönheit“ wird inzwischen oft Frauenzeitschriften und Promi-Blogs zugesprochen, dabei ist Schönheit (neben dem Wahren und dem Guten) ein klassisches Feld der Philosophie. Auch war sie immer einer der wichtigsten Lebensparameter und ist heute, dank Social Media, vielleicht lebensbestimmender denn je. Schon Zehnjährige wissen, wie sie sich für Instagram zu schminken haben. Warum wird Schönheit so sehr belohnt (und warum war das früher anders)? Warum lieben wir heute das Glatte? Und was hat Vergänglichkeit damit zu tun?
Dass die schwedische Comicautorin sich des Themas annimmt, überrascht nicht. Mit feministischem Blick hatte sie zuletzt die Bedingungen der Liebe im Spätkapitalismus in ihrem Buch „Ich fühl’s nicht“ untersucht; sie hat männliche Genies vom Sockel geholt in „I’m Every Woman“ und in „Der Ursprung der Welt“ die Kulturgeschichte der Vulva erzählt. Nun also Schönheit. Fünf Essays, jedes ein Buchkapitel, nähern sich dem Thema mit unterschiedlicher Perspektive an. Anschauungsmaterial liefern historische Personen, Märchenfiguren oder heute lebende Frauen, die für ihr Aussehen berühmt sind: Neben Kylie Jenner treten etwa Schneewittchens (Stief)Mutter, Nofretete, Sisi, Kim Kardashian oder Rachel und Lea aus dem ersten Buch Mose auf.
Strömquists Stil ist ein satirisch-punkiger Sachcomic-Stil, klug und ziemlich respektlos. Sie reist durch 2000 Jahre Kulturgeschichte und zitiert, wie in früheren Büchern, bekannte Philosophen, Historikerinnen oder Soziologinnen als Kronzeugen für ihre Thesen. Beginnend mit dem Philosophen René Girard und seiner mimetischen Theorie: Der Mensch begehrt, was andere begehren. Deshalb machen wir jede noch so bekloppte Mode mit. Die Historikerin Stephanie Coontz wird mit ihrer „Geschichte der Ehe“ erwähnt: Während in der frühen Versorgungsgemeinschaft Sexyness keine große Rolle spielte, wurde sie essenziell auf dem freien Liebesmarkt nach der sexuellen Revolution. Der Standard im Spätkapitalismus: „Man muss sexy sein, auch wenn man gar nicht nach Liebe sucht ... weil ,Sexyness‘ ... zu einem eigenen Wert geworden ist, der den eigenen Status signalisiert.“
Ganz neu ist das alles nicht, aber Strömquists Schlussfolgerungen werden so prägnant und witzig präsentiert, dass man das Buch jeder Instagram-hungrigen 15-Jährigen sofort in die Hand drücken möchte. Ein Wartezimmer-Ersatz für die Frauenzeitschrift ist „Im Spiegelsaal“ aber nicht. Dafür ist die Struktur zu labyrinthisch – was der verzwickten Thematik entspricht und die Schönheitsfalle ganz gut nachbildet, in der wir alle stecken.
Ein Lichtblick immerhin sind Zitate aus Interviews mit fünf Frauen im Alter von 53 bis 73 Jahren, die Strömquist aufgeschrieben und illustriert hat. Im Wettstreit um die Krone der Schönsten dürfte keine von ihnen eine Chance haben; sie machen sich als ältere Frauen ihren ganz eigenen Reim auf das Thema. Eine hat sich vom Weltlichen schon weitgehend gelöst, eine andere verteidigt Schönheitsoperationen, weil Schönheit demokratisch sei: „eine Ressource, die sich Menschen, die sonst keine Ressourcen haben, zu Nutze machen können“. Strömquist hat die Auftritte dieser Frauen mit märchenhaften Attributen versehen – sie hat sie als Königinnen inszeniert.
MARTINA KNOBEN
Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Comic. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten, 20 Euro.
Es treten Kylie Jenner, Nofretete,
Schneewittchens (Stief)Mutter,
Kim Kardashian und Sisi auf
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Tyrannei der Blicke: Liv Strömquist im „Spiegelsaal“
Warum, fragt die schwedische Comic-Bestsellerautorin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch, fühlen junge Frauen, die ein Bild von – sagen wir: Kylie Jenner – sehen, nicht das Gleiche wie etwa beim Anblick eines wunderschönen Sonnenuntergangs? Stattdessen vielleicht Minderwertigkeitsgefühle, Neid, Wut oder das Bedürfnis, ein teures Hautpflegeprodukt zu kaufen?
Das Thema „Schönheit“ wird inzwischen oft Frauenzeitschriften und Promi-Blogs zugesprochen, dabei ist Schönheit (neben dem Wahren und dem Guten) ein klassisches Feld der Philosophie. Auch war sie immer einer der wichtigsten Lebensparameter und ist heute, dank Social Media, vielleicht lebensbestimmender denn je. Schon Zehnjährige wissen, wie sie sich für Instagram zu schminken haben. Warum wird Schönheit so sehr belohnt (und warum war das früher anders)? Warum lieben wir heute das Glatte? Und was hat Vergänglichkeit damit zu tun?
Dass die schwedische Comicautorin sich des Themas annimmt, überrascht nicht. Mit feministischem Blick hatte sie zuletzt die Bedingungen der Liebe im Spätkapitalismus in ihrem Buch „Ich fühl’s nicht“ untersucht; sie hat männliche Genies vom Sockel geholt in „I’m Every Woman“ und in „Der Ursprung der Welt“ die Kulturgeschichte der Vulva erzählt. Nun also Schönheit. Fünf Essays, jedes ein Buchkapitel, nähern sich dem Thema mit unterschiedlicher Perspektive an. Anschauungsmaterial liefern historische Personen, Märchenfiguren oder heute lebende Frauen, die für ihr Aussehen berühmt sind: Neben Kylie Jenner treten etwa Schneewittchens (Stief)Mutter, Nofretete, Sisi, Kim Kardashian oder Rachel und Lea aus dem ersten Buch Mose auf.
Strömquists Stil ist ein satirisch-punkiger Sachcomic-Stil, klug und ziemlich respektlos. Sie reist durch 2000 Jahre Kulturgeschichte und zitiert, wie in früheren Büchern, bekannte Philosophen, Historikerinnen oder Soziologinnen als Kronzeugen für ihre Thesen. Beginnend mit dem Philosophen René Girard und seiner mimetischen Theorie: Der Mensch begehrt, was andere begehren. Deshalb machen wir jede noch so bekloppte Mode mit. Die Historikerin Stephanie Coontz wird mit ihrer „Geschichte der Ehe“ erwähnt: Während in der frühen Versorgungsgemeinschaft Sexyness keine große Rolle spielte, wurde sie essenziell auf dem freien Liebesmarkt nach der sexuellen Revolution. Der Standard im Spätkapitalismus: „Man muss sexy sein, auch wenn man gar nicht nach Liebe sucht ... weil ,Sexyness‘ ... zu einem eigenen Wert geworden ist, der den eigenen Status signalisiert.“
Ganz neu ist das alles nicht, aber Strömquists Schlussfolgerungen werden so prägnant und witzig präsentiert, dass man das Buch jeder Instagram-hungrigen 15-Jährigen sofort in die Hand drücken möchte. Ein Wartezimmer-Ersatz für die Frauenzeitschrift ist „Im Spiegelsaal“ aber nicht. Dafür ist die Struktur zu labyrinthisch – was der verzwickten Thematik entspricht und die Schönheitsfalle ganz gut nachbildet, in der wir alle stecken.
Ein Lichtblick immerhin sind Zitate aus Interviews mit fünf Frauen im Alter von 53 bis 73 Jahren, die Strömquist aufgeschrieben und illustriert hat. Im Wettstreit um die Krone der Schönsten dürfte keine von ihnen eine Chance haben; sie machen sich als ältere Frauen ihren ganz eigenen Reim auf das Thema. Eine hat sich vom Weltlichen schon weitgehend gelöst, eine andere verteidigt Schönheitsoperationen, weil Schönheit demokratisch sei: „eine Ressource, die sich Menschen, die sonst keine Ressourcen haben, zu Nutze machen können“. Strömquist hat die Auftritte dieser Frauen mit märchenhaften Attributen versehen – sie hat sie als Königinnen inszeniert.
MARTINA KNOBEN
Liv Strömquist: Im Spiegelsaal. Comic. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten, 20 Euro.
Es treten Kylie Jenner, Nofretete,
Schneewittchens (Stief)Mutter,
Kim Kardashian und Sisi auf
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Martina Knoben entdeckt zwar nichts wesentlich Neues zum Thema Schönheit in Liv Strömquists Comic, wie die für ihre Kulturgeschichte der Vulva bekannte Autorin sich des Themas annimmt, philosophisch, historisch, popkulturell, respektlos, satirisch, mit Blick auf bekannte Schönheiten von Schneewittchen über Nofretete bis Sisi und Kim Kardashian, findet Knoben aber überzeugend. Was uns an Schönheit anzieht, warum wir uns für sie verbiegen oder eben nicht, lernt Knoben unter anderem anhand der Gespräche zwischen Autorin und Frauen, die dem Schönheitsideal ganz und gar nicht entsprechen. Ein Buch nicht nur für Insta-Junkies, meint Knoben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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