Clemens Meyers zweiter Roman: Ein großes Gesellschaftsepos unserer Zeit.
Ein vielstimmiger Gesang der Nacht: Prostituierte, Engel und Geschäftsmänner kämpfen um Geld und Macht und ihre Träume. Eine junge Frau steht am Fenster, schaut in den Abendhimmel, im Januar laufen die Geschäfte nicht, die Gedanken tanzen in ihrem Kopf. "Der Pferdemann", der alte Jockey, sucht seine Tochter. "Der Bielefelder" rollt mit neuen Geschäftskonzepten den Markt auf, investiert in Clubs und Eroscenter. "AK 47" liegt angeschossen auf dem Asphalt. Schonungslos und zärtlich schreibt Clemens Meyer in seinem großen Roman von den Menschen, den Nachtgestalten, von ihrem Aufstieg und Fall, vom Schmutz der Straße und dem Fluss des Geldes. Mit großer Kraft und Emotion erzählt er die Geschichte einer Stadt, die zum Epochen-Roman unserer Zeit wird.
Ein vielstimmiger Gesang der Nacht: Prostituierte, Engel und Geschäftsmänner kämpfen um Geld und Macht und ihre Träume. Eine junge Frau steht am Fenster, schaut in den Abendhimmel, im Januar laufen die Geschäfte nicht, die Gedanken tanzen in ihrem Kopf. "Der Pferdemann", der alte Jockey, sucht seine Tochter. "Der Bielefelder" rollt mit neuen Geschäftskonzepten den Markt auf, investiert in Clubs und Eroscenter. "AK 47" liegt angeschossen auf dem Asphalt. Schonungslos und zärtlich schreibt Clemens Meyer in seinem großen Roman von den Menschen, den Nachtgestalten, von ihrem Aufstieg und Fall, vom Schmutz der Straße und dem Fluss des Geldes. Mit großer Kraft und Emotion erzählt er die Geschichte einer Stadt, die zum Epochen-Roman unserer Zeit wird.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein Buch über den Exzess liest Jens Uthoff mit Clemens Meyers neuem Roman. Doch das ist nicht alles. Sprachlich und stilistisch bewegt sich der Autor laut Uthoff erstaunlich sicher, realistisch, nüchtern und packend. Thematisch weist er über das Leipziger Rotlichtmilieu und die Prostitution in ihrer drastischen Alltäglichkeit hinaus in die Zusammenhänge von Kapital und Sex, wie der Rezensent zu verstehen gibt. Debatten, wie die um Zwangsprostitution, nimmt der Roman auf, Marx wird zitiert und die Abgründe der Sexindustrie im Osten ausgelotet. Für Uthoff ein wichtiges Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2013Reisender, kommst du nach Eden City
Ein Roman über die Nachtseite unserer Gegenwart, über Prostituierte, Zuhälter und Kunden - aber auch ein so schreckliches wie starkes literarisches Werk über Vertrauen und Verrat, Sehnsucht und Einsamkeit: Heute erscheint Clemens Meyers "Im Stein".
Zu Clemens Meyer gehört, dass vieles von dem, was er sagt und schreibt, zunächst einmal einer Echtheitsprüfung unterzogen wird. Das liegt zum Teil an Meyers Habitus, an jenem Frei-von-der-Leber-weg-Stil, in dem er klug und unverstellt über seine Bücher spricht. Zum größeren Teil aber liegt es an der Ähnlichkeit, die der Leipziger Schriftsteller mit seinen Figuren zu haben scheint - da spielt es auch keine Rolle, dass derlei Übertragungen den Grundregeln des Romanlesens eklatant widersprechen. Meyer wird diese Bilder nicht los. Nicht die von seiner großen bierflaschenschwenkenden Freude, als er 2008 für seinen Erzählungsband "Die Nacht, die Lichter" den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Nicht die von seinen vielen Tattoos. Nicht die von seiner Vergangenheit als Bauarbeiter, Gabelstaplerfahrer und Hartz-IV-Empfänger.
Wenn Meyer von Gefängnisaufenthalten, Alkoholexzessen und Bordellbesuchen schreibt, schöpft er dann aus selbstgemachten Erfahrungen, oder bedient er sich seiner Phantasie? Das ist so eine Frage, die auch heute, wo sein neuer Roman "Im Stein" erscheint, sicher wieder gestellt wird. Das ist der Preis, den Meyer vom ersten Buch, dem Roman "Als wir träumten" (2006), an für seine Weigerung bezahlt, sich bürgerlich-bescheiden zu geben, und auch dafür, dass er in seinen Büchern an Figuren und Milieus festhält, die man wohl als literaturfremd bezeichnen darf. Es ist selten geworden, dass Schriftsteller so konsequent wie er Parallelwelten erkunden, die von Knastbrüdern, Dealern, Säufern, Pennern, Puffgängern, Zuhältern, Nutten und sonstigen Vögeln bevölkert sind. Und selbst diejenigen Schriftsteller, die einem in diesem Zusammenhang gleich in den Sinn kommen, Jean Genet etwa, Louis-Ferdinand Céline, Charles Bukowski und in jüngerer Zeit vor allem Michel Houellebecq, tragen das Etikett der Anders- und bisweilen auch Abartigkeit mit sich herum.
Da hilft es wenig, dass Meyer in einem Interview, das zu seinem neuen Roman auf seiner Homepage steht, betont, wie normal seine Figuren doch seien, "Teile unserer Gesellschaft und moralisch genauso integer oder nicht wie ein Investmentbanker, ein Manager, ein Vorstandsboss oder wer auch immer". Das mag schon stimmen. Den meisten seiner Romanleser aber sind diese Lebenswelten dennoch erst einmal fremd.
Wer weiß schon Genaues über die Nuttenszene in einer mittelgroßen deutschen Stadt, zweihundert Kilometer von der polnischen Grenze? Wer ahnt, dass sich das Rotlichtviertel dieses in seinem neuen Buch bisweilen mythisch-spöttisch "Eden City" genannten Ortes nach der Wende tiefgreifend wandelte, dass, gleichsam vom Versprechen auf blühende Landschaften angelockt, sofort allerlei dark lords aus Ost und West hierherkamen, um die neuen Märkte zu sondieren? Einen ganz normalen marktwirtschaftlichen Vorgang könnte man das nennen, und genau in diese Richtung scheint Meyers Vorwärtsverteidigung auch zu zielen. Doch in Wahrheit weiß er es besser.
Prostitution mag ein Geschäft sein, aber weil es sich bei der Ware um Sex handelt, um Körper, können die üblichen Business-Parameter hier nicht allein gelten. Das tun sie bei Clemens Meyer auch nicht. Es geht in seinem Roman zwar um so banal anmutende Dinge wie Angebot und Nachfrage, Sicherheiten und Risiken, Perspektiven und Profite. Viel mehr aber geht es um das Menschliche selbst in dieser Branche, mithin um Vertrauen und Verrat, Hoffnungen und Illusionen, Sehnsucht und Einsamkeit. Und gerade aus dem Wissen um den tiefen, letztlich unüberwindbaren Abgrund, der zwischen diesen beiden Seiten derselben Sache liegt, zieht der Roman "Im Stein" eine enorme urwüchsige Kraft.
Folglich ist das Buch immer dann am schwächsten, wenn es versucht, sein Milieu zu verlassen, sich zum Panorama zu weiten und das Geschehen, die Geschichten um Verteilungskämpfe und Bandenkriege im Rotlichtviertel, als Parabeln des gewöhnlichen Wirtschaftsgebarens unserer Zeit darzustellen. Dass etwa Arnold "Arnie" Kraushaar, genannt AK, der Immobilienmogul der Stadt, der seine Wohnungen zu bestimmten Tagessätzen den Prostituierten überlässt, irgendwann beschließt, BWL zu studieren, ist in diesem Sinn ein Detail, das eigentlich in die Irre führt: "Er begreift jetzt die Dinge anders, gleicht die Geschehnisse und Erinnerungen ab mit den Lehrsätzen und Theorien aus den Büchern und den Seminaren, versucht, das Geheimnis des Marktes zu begreifen, und es ist überall derselbe Markt, das begreift und sieht er immer mehr und immer klarer, ob Bumsen, Badelatschen oder Millionen made by Ackermann." Mit derlei Verallgemeinerungen arbeitet Clemens Meyer gegen seine eigenen - starken - Figuren.
Denn sie, und damit sind wir bei dem, was diesen Roman so großartig macht, kreisen in ihrem Denken ohne Unterlass um das moralische Dilemma, man könnte auch sagen: um den Dreck, in dem sie stecken. Wer über Prostitution schreibt, erzählt von gebrochenen Herzen. Jedes einzelne von ihnen bildet in Meyers Roman ein eigenes kleines Zentrum. Daraus resultiert sein konsequenter Verzicht auf eine chronologische Erzählstruktur und auf eine klare Hierarchie unter den Figuren. Die Personen, die Prostituierte Lilli, der Immobilienkönig AK, dessen rechte Hand Hans Pieszeck, ein Kommissar, der seinen Dienst nicht antritt, bevor er nicht bei seiner Stammhure war, die ihm regelmäßig ein "Na, mein Gutster" entgegengurrt, auch der "Mann hinter den Spiegeln", jener ominöse Strippenzieher, der sich erst spät als solcher zu erkennen gibt - all diese Personen ließen sich zwar problemlos in Haupt- und Nebenfiguren einteilen. Aber erst gemeinsam bilden sie jenen Stimmenchor, der dem Roman seine Dichte, Komplexität und Wucht verleiht.
Clemens Meyer dirigiert diesen Chor mit beeindruckender Kompromisslosigkeit. Er zoomt nicht nur nah an die Figuren heran, sondern schlüpft meist ganz in sie hinein. Er erzählt nicht, er lässt erzählen. So reihen sich in seinem mehr als fünfhundert Seiten dicken Werk die inneren Monologe all dieser gefallenen Helden aneinander - aus ihren Gedanken, Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Träumen entsteht eine Art kollektiver Bewusstseinsstrom, dem nichts Unmenschliches fremd ist. Das ist weder leicht noch immer schön zu lesen: Etwa dort, wo die einunddreißig Jahre alte Prostituierte Lilli mit einer naturalistisch anmutenden Detailversessenheit über sexuelle Praktiken nachdenkt, die sie anbietet (oder auch nicht). Und auch dort, wo die Teenager-Hure, deren Namen wir nicht erfahren, davon erzählt, wie sie die Falten der auf die Tapete des Zimmers gedruckten Fächer zählt, während sie ihren Kunden zu Diensten sein muss, überschreitet der Roman radikal die Grenzen des Erträglichen.
Immer wieder aber beweist Meyer in seinen langen, teils aus sehr kurzen Sätzen, teils aus Parataxen bestehenden Gedankenströmen, in denen Zeiten und Perspektiven innerhalb eines Satzes wechseln können, ein besonderes Gespür für den Rhythmus seiner Sprache. Bei aller Obszönität, mit der man es als Leser zu tun bekommt und von der man gar nicht wissen will, wie genau der Autor da eigentlich recherchiert hat, entstehen so zuweilen Augenblicke von großer innerer Poesie. Und auch von Komik. Man lernt beispielsweise nicht nur, dass selbst die Unterwelt einen Hang zur Spießigkeit besitzt, sondern auch, dass hier die Grenzen zwischen Gut und Böse wenn auch nicht besonders wichtig, so zumindest noch bekannt sind.
Der 1996 aus dem Ruhrpott in den Osten gereiste Friedrich von Pfeil, genannt "der Bielefelder", nimmt auf Ausflügen jedenfalls immer seinen Weltempfänger mit, weil er am liebsten WDR hört. Eines Nachts, als er im Hotel darauf wartet, zu einem Geschäftsgespräch mit den ortsansässigen Milieugrößen abgeholt zu werden, lauscht er dem Moderator Domian, der gerade Harald Schmidt interviewt. Man spricht über Respekt und das Fehlen desselben. Und wie sich hier bald die Ebenen mischen, die Gesprächsfetzen von Domian/Schmidt in die Verhandlungen über neue Eros-Center im Osten, geschmierte V-Männer und angebotene Dienstleistungen hineinwehen, bis selbst der Bielefelder nolens volens über gewisse Werte nachdenkt - das ist einfach gut gemacht. "Die Politik unterstützt das Projekt, die Behörden sind mit im Boot, die Steuergelder fließen in beide Richtungen, und der Kommissar vom Dezernat 1 hält ihnen die Konkurrenz vom Hals. Europa-City. Alles wird sich ändern. Er schaltet seinen kleinen Weltempfänger ein. Domian und Harald Schmidt. Er lacht, was ist das nur für eine Type, dieser Schmidt. Kein Respekt vor niemand."
Dieses häufige Ineinandergreifen der Wahrnehmungsebenen öffnet allerdings nicht nur den Raum für zahlreiche Anspielungen, für ein fast mythisch zu nennendes Raunen, das den Roman durchzieht, sondern es begrenzt gleichzeitig die Autonomie der Figuren. Für sie geht der Verlust an Orientierung mit einer ins Unermessliche sich steigernden Einsamkeit einher. Ständig ist in diesem Buch jemand müde, sehnt sich nach Schlaf oder phantasiert sich weit weg. Das wird nicht nur in jener wunderbaren Szene in der Mitte deutlich, in der zwei alternde Huren jede für sich heimlich davon tagträumen, mit der anderen befreundet zu sein, und zwar so sehr, dass sie in einem Café vor aller Augen beginnen, miteinander Walzer zu tanzen - eine Vision, die, weil beide sie hegen, die Einsamkeit jeder Einzelnen verstärkt. Die labyrinthische Struktur und der verschachtelte Stil, die Clemens Meyer ins Wort gesetzt hat, zielen letztlich auf die Veranschaulichung dieser großen allumfassenden Leere.
Meyer gibt die Fäden nicht aus der Hand. Er wechselt Tonhöhen, schwenkt vom umgangssprachlichen "Sag ich jetzt mal so" einfacher Leute, meist einfacher Frauen, ins notgeile Gequatsche routinierter Freier und lässt in den fernen, halb verschütteten Kindheitserinnerungen der Bosse zuweilen so etwas wie Nostalgie anklingen. Er verschränkt Zeiten und Räume und hält seine Figuren doch immer in Selbstgesprächen gefangen. Und neben all der Pornographie, der Gewalt, der wabernden Angst, der Unruhe und der Ungewissheit ist es dieses Grundgefühl der krassen Verlorenheit, das sein Buch so schrecklich und so stark macht. "Im Stein" ist wahrlich kein Lesevergnügen. Aber ein sehr guter Roman.
LENA BOPP
Clemens Meyer: "Im Stein". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 558 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman über die Nachtseite unserer Gegenwart, über Prostituierte, Zuhälter und Kunden - aber auch ein so schreckliches wie starkes literarisches Werk über Vertrauen und Verrat, Sehnsucht und Einsamkeit: Heute erscheint Clemens Meyers "Im Stein".
Zu Clemens Meyer gehört, dass vieles von dem, was er sagt und schreibt, zunächst einmal einer Echtheitsprüfung unterzogen wird. Das liegt zum Teil an Meyers Habitus, an jenem Frei-von-der-Leber-weg-Stil, in dem er klug und unverstellt über seine Bücher spricht. Zum größeren Teil aber liegt es an der Ähnlichkeit, die der Leipziger Schriftsteller mit seinen Figuren zu haben scheint - da spielt es auch keine Rolle, dass derlei Übertragungen den Grundregeln des Romanlesens eklatant widersprechen. Meyer wird diese Bilder nicht los. Nicht die von seiner großen bierflaschenschwenkenden Freude, als er 2008 für seinen Erzählungsband "Die Nacht, die Lichter" den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Nicht die von seinen vielen Tattoos. Nicht die von seiner Vergangenheit als Bauarbeiter, Gabelstaplerfahrer und Hartz-IV-Empfänger.
Wenn Meyer von Gefängnisaufenthalten, Alkoholexzessen und Bordellbesuchen schreibt, schöpft er dann aus selbstgemachten Erfahrungen, oder bedient er sich seiner Phantasie? Das ist so eine Frage, die auch heute, wo sein neuer Roman "Im Stein" erscheint, sicher wieder gestellt wird. Das ist der Preis, den Meyer vom ersten Buch, dem Roman "Als wir träumten" (2006), an für seine Weigerung bezahlt, sich bürgerlich-bescheiden zu geben, und auch dafür, dass er in seinen Büchern an Figuren und Milieus festhält, die man wohl als literaturfremd bezeichnen darf. Es ist selten geworden, dass Schriftsteller so konsequent wie er Parallelwelten erkunden, die von Knastbrüdern, Dealern, Säufern, Pennern, Puffgängern, Zuhältern, Nutten und sonstigen Vögeln bevölkert sind. Und selbst diejenigen Schriftsteller, die einem in diesem Zusammenhang gleich in den Sinn kommen, Jean Genet etwa, Louis-Ferdinand Céline, Charles Bukowski und in jüngerer Zeit vor allem Michel Houellebecq, tragen das Etikett der Anders- und bisweilen auch Abartigkeit mit sich herum.
Da hilft es wenig, dass Meyer in einem Interview, das zu seinem neuen Roman auf seiner Homepage steht, betont, wie normal seine Figuren doch seien, "Teile unserer Gesellschaft und moralisch genauso integer oder nicht wie ein Investmentbanker, ein Manager, ein Vorstandsboss oder wer auch immer". Das mag schon stimmen. Den meisten seiner Romanleser aber sind diese Lebenswelten dennoch erst einmal fremd.
Wer weiß schon Genaues über die Nuttenszene in einer mittelgroßen deutschen Stadt, zweihundert Kilometer von der polnischen Grenze? Wer ahnt, dass sich das Rotlichtviertel dieses in seinem neuen Buch bisweilen mythisch-spöttisch "Eden City" genannten Ortes nach der Wende tiefgreifend wandelte, dass, gleichsam vom Versprechen auf blühende Landschaften angelockt, sofort allerlei dark lords aus Ost und West hierherkamen, um die neuen Märkte zu sondieren? Einen ganz normalen marktwirtschaftlichen Vorgang könnte man das nennen, und genau in diese Richtung scheint Meyers Vorwärtsverteidigung auch zu zielen. Doch in Wahrheit weiß er es besser.
Prostitution mag ein Geschäft sein, aber weil es sich bei der Ware um Sex handelt, um Körper, können die üblichen Business-Parameter hier nicht allein gelten. Das tun sie bei Clemens Meyer auch nicht. Es geht in seinem Roman zwar um so banal anmutende Dinge wie Angebot und Nachfrage, Sicherheiten und Risiken, Perspektiven und Profite. Viel mehr aber geht es um das Menschliche selbst in dieser Branche, mithin um Vertrauen und Verrat, Hoffnungen und Illusionen, Sehnsucht und Einsamkeit. Und gerade aus dem Wissen um den tiefen, letztlich unüberwindbaren Abgrund, der zwischen diesen beiden Seiten derselben Sache liegt, zieht der Roman "Im Stein" eine enorme urwüchsige Kraft.
Folglich ist das Buch immer dann am schwächsten, wenn es versucht, sein Milieu zu verlassen, sich zum Panorama zu weiten und das Geschehen, die Geschichten um Verteilungskämpfe und Bandenkriege im Rotlichtviertel, als Parabeln des gewöhnlichen Wirtschaftsgebarens unserer Zeit darzustellen. Dass etwa Arnold "Arnie" Kraushaar, genannt AK, der Immobilienmogul der Stadt, der seine Wohnungen zu bestimmten Tagessätzen den Prostituierten überlässt, irgendwann beschließt, BWL zu studieren, ist in diesem Sinn ein Detail, das eigentlich in die Irre führt: "Er begreift jetzt die Dinge anders, gleicht die Geschehnisse und Erinnerungen ab mit den Lehrsätzen und Theorien aus den Büchern und den Seminaren, versucht, das Geheimnis des Marktes zu begreifen, und es ist überall derselbe Markt, das begreift und sieht er immer mehr und immer klarer, ob Bumsen, Badelatschen oder Millionen made by Ackermann." Mit derlei Verallgemeinerungen arbeitet Clemens Meyer gegen seine eigenen - starken - Figuren.
Denn sie, und damit sind wir bei dem, was diesen Roman so großartig macht, kreisen in ihrem Denken ohne Unterlass um das moralische Dilemma, man könnte auch sagen: um den Dreck, in dem sie stecken. Wer über Prostitution schreibt, erzählt von gebrochenen Herzen. Jedes einzelne von ihnen bildet in Meyers Roman ein eigenes kleines Zentrum. Daraus resultiert sein konsequenter Verzicht auf eine chronologische Erzählstruktur und auf eine klare Hierarchie unter den Figuren. Die Personen, die Prostituierte Lilli, der Immobilienkönig AK, dessen rechte Hand Hans Pieszeck, ein Kommissar, der seinen Dienst nicht antritt, bevor er nicht bei seiner Stammhure war, die ihm regelmäßig ein "Na, mein Gutster" entgegengurrt, auch der "Mann hinter den Spiegeln", jener ominöse Strippenzieher, der sich erst spät als solcher zu erkennen gibt - all diese Personen ließen sich zwar problemlos in Haupt- und Nebenfiguren einteilen. Aber erst gemeinsam bilden sie jenen Stimmenchor, der dem Roman seine Dichte, Komplexität und Wucht verleiht.
Clemens Meyer dirigiert diesen Chor mit beeindruckender Kompromisslosigkeit. Er zoomt nicht nur nah an die Figuren heran, sondern schlüpft meist ganz in sie hinein. Er erzählt nicht, er lässt erzählen. So reihen sich in seinem mehr als fünfhundert Seiten dicken Werk die inneren Monologe all dieser gefallenen Helden aneinander - aus ihren Gedanken, Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Träumen entsteht eine Art kollektiver Bewusstseinsstrom, dem nichts Unmenschliches fremd ist. Das ist weder leicht noch immer schön zu lesen: Etwa dort, wo die einunddreißig Jahre alte Prostituierte Lilli mit einer naturalistisch anmutenden Detailversessenheit über sexuelle Praktiken nachdenkt, die sie anbietet (oder auch nicht). Und auch dort, wo die Teenager-Hure, deren Namen wir nicht erfahren, davon erzählt, wie sie die Falten der auf die Tapete des Zimmers gedruckten Fächer zählt, während sie ihren Kunden zu Diensten sein muss, überschreitet der Roman radikal die Grenzen des Erträglichen.
Immer wieder aber beweist Meyer in seinen langen, teils aus sehr kurzen Sätzen, teils aus Parataxen bestehenden Gedankenströmen, in denen Zeiten und Perspektiven innerhalb eines Satzes wechseln können, ein besonderes Gespür für den Rhythmus seiner Sprache. Bei aller Obszönität, mit der man es als Leser zu tun bekommt und von der man gar nicht wissen will, wie genau der Autor da eigentlich recherchiert hat, entstehen so zuweilen Augenblicke von großer innerer Poesie. Und auch von Komik. Man lernt beispielsweise nicht nur, dass selbst die Unterwelt einen Hang zur Spießigkeit besitzt, sondern auch, dass hier die Grenzen zwischen Gut und Böse wenn auch nicht besonders wichtig, so zumindest noch bekannt sind.
Der 1996 aus dem Ruhrpott in den Osten gereiste Friedrich von Pfeil, genannt "der Bielefelder", nimmt auf Ausflügen jedenfalls immer seinen Weltempfänger mit, weil er am liebsten WDR hört. Eines Nachts, als er im Hotel darauf wartet, zu einem Geschäftsgespräch mit den ortsansässigen Milieugrößen abgeholt zu werden, lauscht er dem Moderator Domian, der gerade Harald Schmidt interviewt. Man spricht über Respekt und das Fehlen desselben. Und wie sich hier bald die Ebenen mischen, die Gesprächsfetzen von Domian/Schmidt in die Verhandlungen über neue Eros-Center im Osten, geschmierte V-Männer und angebotene Dienstleistungen hineinwehen, bis selbst der Bielefelder nolens volens über gewisse Werte nachdenkt - das ist einfach gut gemacht. "Die Politik unterstützt das Projekt, die Behörden sind mit im Boot, die Steuergelder fließen in beide Richtungen, und der Kommissar vom Dezernat 1 hält ihnen die Konkurrenz vom Hals. Europa-City. Alles wird sich ändern. Er schaltet seinen kleinen Weltempfänger ein. Domian und Harald Schmidt. Er lacht, was ist das nur für eine Type, dieser Schmidt. Kein Respekt vor niemand."
Dieses häufige Ineinandergreifen der Wahrnehmungsebenen öffnet allerdings nicht nur den Raum für zahlreiche Anspielungen, für ein fast mythisch zu nennendes Raunen, das den Roman durchzieht, sondern es begrenzt gleichzeitig die Autonomie der Figuren. Für sie geht der Verlust an Orientierung mit einer ins Unermessliche sich steigernden Einsamkeit einher. Ständig ist in diesem Buch jemand müde, sehnt sich nach Schlaf oder phantasiert sich weit weg. Das wird nicht nur in jener wunderbaren Szene in der Mitte deutlich, in der zwei alternde Huren jede für sich heimlich davon tagträumen, mit der anderen befreundet zu sein, und zwar so sehr, dass sie in einem Café vor aller Augen beginnen, miteinander Walzer zu tanzen - eine Vision, die, weil beide sie hegen, die Einsamkeit jeder Einzelnen verstärkt. Die labyrinthische Struktur und der verschachtelte Stil, die Clemens Meyer ins Wort gesetzt hat, zielen letztlich auf die Veranschaulichung dieser großen allumfassenden Leere.
Meyer gibt die Fäden nicht aus der Hand. Er wechselt Tonhöhen, schwenkt vom umgangssprachlichen "Sag ich jetzt mal so" einfacher Leute, meist einfacher Frauen, ins notgeile Gequatsche routinierter Freier und lässt in den fernen, halb verschütteten Kindheitserinnerungen der Bosse zuweilen so etwas wie Nostalgie anklingen. Er verschränkt Zeiten und Räume und hält seine Figuren doch immer in Selbstgesprächen gefangen. Und neben all der Pornographie, der Gewalt, der wabernden Angst, der Unruhe und der Ungewissheit ist es dieses Grundgefühl der krassen Verlorenheit, das sein Buch so schrecklich und so stark macht. "Im Stein" ist wahrlich kein Lesevergnügen. Aber ein sehr guter Roman.
LENA BOPP
Clemens Meyer: "Im Stein". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 558 S., geb., 22,99 [Euro].
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Clemens Meyers Roman ist - das lässt sich nicht anders sagen - ein Wurf, wie man ihn nicht alle Jahre in die Hände bekommt. Rainer Moritz Neue Zürcher Zeitung 20131003