'Severino Corona, genannt Zino, wächst Ende des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Bergdorf im Friaul auf, als Waisenjunge. Als er später den jungen Raggio kennen lernt und sich mit ihm anfreundet, beschließen die beiden, eine Käserei aufzumachen. Die floriert auch bald Aber da versucht Raggios Frau, Zinozu verführen. Ein Drama von biblischem Ausmaß nimmt seinen Lauf. Zino verstrickt sich immer tiefer in Schuld: Am Ende gibt er Raggio zerstoßene Tollkirsche, ein tödliches Gift. Raggio aber stirbt nicht, sondern wird verrückt In der Einsamkeit der Bergwelt, in einer ebenso schönen wie unbarmherzigen Natur mit langen, eisigen Wintern und sengend heißen Sommern, sind die Menschen Gefangene ihrer Triebe, ihres Aberglaubens, ihres Argwohns. Mit seiner von der Bergwelt geprägten Sprache erzeugt Corona eine Mischung aus Härte und Poesie. Einfach, kraftvoll, wie gemeißelt ist jeder Satz wie ein Stein, der auf den vorangegangenen fällt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit viel Lob bespricht Rezensent Wolfgang Schneider Mauro Coronas in Italien bereits im Jahre 2005 veröffentlichten Roman "Im Tal des Vajont", der ihm als ein "vom Höllenfeuer angesengtes Seelengemälde" erscheint. Der "archaische" Roman, der den Kritiker an die Erzählwelt Jeremias Gotthelfs erinnert, erzählt die im Jahre 1920 abgefasste Lebensgeschichte Zino Coronas, der sich nach der Ermordung des Vaters und dem tragischen Tod der Mutter zunächst als (sexueller) Lehrling einer älteren Großgrundbesitzertochter durchschlägt und schließlich eine Käserei mit seinem Freund Raggio gründet, dessen Frau ihn jedoch bald verführt. Selten hat der Rezensent eine mit solcher "Wucht" und Drastik geschriebene Geschichte über Tod und Eros gelesen wie in diesem Epos aus der italienischen Bergwelt, in dem sich Frauen nach blutigen Abtreibungen erhängen und Wahnsinn, Mord und Schuld einander abwechseln. Nicht zuletzt würdigt der Kritiker die Leistung des Übersetzers Helmut Moysich, dem es exzellent gelinge, Coronas gewaltige und "ungeheuerliche" Sprache ins Deutsche zu übertragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2012Wie man ein Kalb ausbluten lässt
Italienisch für Menschenfänger: Mauro Coronas archaischer Roman "Im Tal des Vajont"
Ein Epos aus der italienischen Bergwelt, angesiedelt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts - das scheint nicht gerade ein Aufreger mit hohem feuilletonistischen Brennwert. Auch von einem Autor namens Mauro Corona hat man bisher noch nicht gehört. Das Foto zeigt einen langhaarig-vollbärtigen Sechziger, mit einer Art Piratentuch über dem Kopf. Sohn von "fahrenden Händlern" will er sein und arbeitet neben der Schriftstellerei erfolgreich als Bildhauer, Holzschnitzer und Bergsteiger.
Sein Roman beginnt etwas rumpelig mit einer Rahmengeschichte, die Authentizität verbürgen soll. Da kommt ein Unbekannter ins Atelier und übergibt dem Autor ein altes Manuskript. Er behauptet, er habe es bei der Renovierung eines Stalls unter dem Futtertrog gefunden. Sofort entwickelt Herr Corona brennende Neugier auf den Text: eine Lebensbeichte, abgefasst im Jahr 1920, von einem Mann, der Severino Corona heißt - womöglich ein Verwandter?
Zuerst bietet dieser Severino, genannt Zino, ein bisschen Heimatkunde: "Traurig und gottverlassen" sei die Gegend im Friaul, von Bergen umgeben, die "so hoch und eng beieinanderstehen, dass das Dorf wie am Grund eines Eimers zu liegen scheint." Und doch ist es ein Zuhause. "Es ist zum Weinen, wenn du deinem Dorf den Rücken kehrst. Man sollte nie von seinem Zuhause fortgehen."
Besser wär's gewesen, er wäre so früh wie möglich gegangen. Zino erzählt, wie er und sein Bruder zu Waisen wurden. Ein Mann hatte ein Auge auf die Mutter geworfen und dem Vater mit der Hacke im Wald den Schädel gespalten. Dann machte sich der Unhold mit schmieriger Hilfsbereitschaft an die Witwe heran, die ihn aber abwies und bald an einem Blutsturz starb, der direkt aus dem gebrochenen Herzen zu kommen schien. Eine dem Alkohol verfallene Tante trat als Mutterersatz auf den Plan. Sie pflegte zu singen, wenn sie einen guten Schluck intus hatte: "Die Welt, die ist ein Jammertal, sie kann mich kreuzweis, kann mich mal."
Maura Corona bringt Tod und Eros in Verhängniszusammenhang, ein altes Lied, aber selten mit solcher Wucht gespielt. Eines Tages trifft der jugendliche Zino auf eine ältere Grundbesitzertochter, die auf zwei kopulierende Hunde einschlägt. Sie verflucht die jaulenden Tiere wegen des gottlosen Treibens, wird dann aber schlagartig zutraulich: "Sollen wir zwei das auch mal probieren, was die Hunde machen?" Es folgen sexuelle Lehrjahre in der Scheune, unterbrochen vom blutigen Gestocher einer Abtreibung - bis sich die Frau im Stall erhängt. "Wer tötet, muss sich selber töten", hat sie vorher noch auf den Boden eines Bottichs geschrieben. Ein Menetekel.
"Im Tal des Vajont", im italienischen Original 2005 erschienen, ist ein vom Höllenfeuer angesengtes Seelengemälde, ein nekrophiles Schauermärchen, voller Schuld, Mord und Tollkirschenwahnsinn, eine einzige Auftürmung von Unglück und Niedertracht. Im Zentrum steht die Geschichte einer verratenen Freundschaft. Mit Raggio gründet Zino eine Käserei. Aber Raggios Frau, die schon bei der Hochzeit zu Zino hinübergeschielt hat, stellt ihm weiter nach, lockt ihn bei jeder Gelegenheit mit beiläufig entblößten Körperteilen, bis er seinen Widerstand aufgibt und ihr zu Willen ist. Von diesem Tag an, heißt es, "rutschte mein Leben immer tiefer ins Verderben bis zum tiefen Grund der Mistgrube".
Der Roman bietet eine archaische, bisweilen an Jeremias Gotthelf erinnernde Erzählwelt, wie mit der Axt behauen, einfach und echt, nur dass diese Einfachheit entsetzliche Komplikationen gebiert und das Archaische auf heutige Leser wie eine ungeheuerliche Kunstwelt wirkt. Der Erzähltrick der unter der Viehtränke gefundenen Lebensbeichte gibt die Lizenz zu althergebrachten, direkten Erzählweisen, die der Geschichte geballte Kraft und Präsenz verleihen. Es ist ein einziger Totentanz. Und es gibt ungeheuerliche Sätze wie diesen: "Es ist nicht einfach, ein Kalb ausbluten zu lassen, während es dich mit seinen Kinderaugen ansieht, und Raggio tat sich schwer, die Klinge tief bis zum Griff in die Kehle des armen Tiers zu stoßen." Die Drastik dieses Erzählens schlägt den Leser in Bann.
Rund um das Dorf lauern unheimliche Orte wie die Dolinen und Karstlöcher, abgrundtiefe Spalten, in denen selbst im Sommer eisige Kälte herrscht, "klaffende Münder, die nach einem Toten rufen". Verträge unterzeichnet man auf einem Steinblock mit dem Fußabdruck von Christus - als Jesus über ihn schritt, wurde er weich wie Butterschmalz, und der Fuß sank ein "wie ein mit Glut gefülltes Bügeleisen". Eingefügt sind legendenhafte Geschichten von Wundern, Hexen und Heiligen. Ein Ketzer wurde einst verbrannt, weil er behauptete, das Leben auf der Erde sei aus einem universalen Käselaib entstanden.
Stichwort Käse; da erscheint eine Sache doch merkwürdig. Man braucht Lab zum Käsemachen. Es wird hergestellt aus dem vierten Kälbermagen, der das Gerinnungsferment Chymosin enthält und deshalb auch Labmagen heißt. In Zinos friaulischem Dorf aber geht das anders: "Lab macht man halt mit den Hodensäcken der Kälber" - dergleichen liest man wiederholt und erfährt, dass die Hodensäcke im Kamin aufgehängt und lange durchgeräuchert werden müssen. Das klingt martialisch und bietet Gelegenheit zu Übertragungen auf die menschlich-männliche Sphäre. Aber was mag das für einen Käse geben?
Ist da bei der Übersetzung von Helmut Moysich etwas danebengegangen? Sie liest sich ansonsten vorzüglich - keine geringe Leistung, das urtümliche Idiom des Originals ins Deutsche zu bringen. In Italien ist Mauro Corona ein Bestsellerautor, der bedeutende Literaturpreise bekommt und von Claudio Magris gefeiert wird. Da sind weitere Übersetzungen fällig.
WOLFGANG SCHNEIDER
Mauro Corona: "Im Tal des Vajont". Roman.
Aus dem Italienischen von Helmut Moysich. Graf Verlag, Berlin 2012., 304 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Italienisch für Menschenfänger: Mauro Coronas archaischer Roman "Im Tal des Vajont"
Ein Epos aus der italienischen Bergwelt, angesiedelt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts - das scheint nicht gerade ein Aufreger mit hohem feuilletonistischen Brennwert. Auch von einem Autor namens Mauro Corona hat man bisher noch nicht gehört. Das Foto zeigt einen langhaarig-vollbärtigen Sechziger, mit einer Art Piratentuch über dem Kopf. Sohn von "fahrenden Händlern" will er sein und arbeitet neben der Schriftstellerei erfolgreich als Bildhauer, Holzschnitzer und Bergsteiger.
Sein Roman beginnt etwas rumpelig mit einer Rahmengeschichte, die Authentizität verbürgen soll. Da kommt ein Unbekannter ins Atelier und übergibt dem Autor ein altes Manuskript. Er behauptet, er habe es bei der Renovierung eines Stalls unter dem Futtertrog gefunden. Sofort entwickelt Herr Corona brennende Neugier auf den Text: eine Lebensbeichte, abgefasst im Jahr 1920, von einem Mann, der Severino Corona heißt - womöglich ein Verwandter?
Zuerst bietet dieser Severino, genannt Zino, ein bisschen Heimatkunde: "Traurig und gottverlassen" sei die Gegend im Friaul, von Bergen umgeben, die "so hoch und eng beieinanderstehen, dass das Dorf wie am Grund eines Eimers zu liegen scheint." Und doch ist es ein Zuhause. "Es ist zum Weinen, wenn du deinem Dorf den Rücken kehrst. Man sollte nie von seinem Zuhause fortgehen."
Besser wär's gewesen, er wäre so früh wie möglich gegangen. Zino erzählt, wie er und sein Bruder zu Waisen wurden. Ein Mann hatte ein Auge auf die Mutter geworfen und dem Vater mit der Hacke im Wald den Schädel gespalten. Dann machte sich der Unhold mit schmieriger Hilfsbereitschaft an die Witwe heran, die ihn aber abwies und bald an einem Blutsturz starb, der direkt aus dem gebrochenen Herzen zu kommen schien. Eine dem Alkohol verfallene Tante trat als Mutterersatz auf den Plan. Sie pflegte zu singen, wenn sie einen guten Schluck intus hatte: "Die Welt, die ist ein Jammertal, sie kann mich kreuzweis, kann mich mal."
Maura Corona bringt Tod und Eros in Verhängniszusammenhang, ein altes Lied, aber selten mit solcher Wucht gespielt. Eines Tages trifft der jugendliche Zino auf eine ältere Grundbesitzertochter, die auf zwei kopulierende Hunde einschlägt. Sie verflucht die jaulenden Tiere wegen des gottlosen Treibens, wird dann aber schlagartig zutraulich: "Sollen wir zwei das auch mal probieren, was die Hunde machen?" Es folgen sexuelle Lehrjahre in der Scheune, unterbrochen vom blutigen Gestocher einer Abtreibung - bis sich die Frau im Stall erhängt. "Wer tötet, muss sich selber töten", hat sie vorher noch auf den Boden eines Bottichs geschrieben. Ein Menetekel.
"Im Tal des Vajont", im italienischen Original 2005 erschienen, ist ein vom Höllenfeuer angesengtes Seelengemälde, ein nekrophiles Schauermärchen, voller Schuld, Mord und Tollkirschenwahnsinn, eine einzige Auftürmung von Unglück und Niedertracht. Im Zentrum steht die Geschichte einer verratenen Freundschaft. Mit Raggio gründet Zino eine Käserei. Aber Raggios Frau, die schon bei der Hochzeit zu Zino hinübergeschielt hat, stellt ihm weiter nach, lockt ihn bei jeder Gelegenheit mit beiläufig entblößten Körperteilen, bis er seinen Widerstand aufgibt und ihr zu Willen ist. Von diesem Tag an, heißt es, "rutschte mein Leben immer tiefer ins Verderben bis zum tiefen Grund der Mistgrube".
Der Roman bietet eine archaische, bisweilen an Jeremias Gotthelf erinnernde Erzählwelt, wie mit der Axt behauen, einfach und echt, nur dass diese Einfachheit entsetzliche Komplikationen gebiert und das Archaische auf heutige Leser wie eine ungeheuerliche Kunstwelt wirkt. Der Erzähltrick der unter der Viehtränke gefundenen Lebensbeichte gibt die Lizenz zu althergebrachten, direkten Erzählweisen, die der Geschichte geballte Kraft und Präsenz verleihen. Es ist ein einziger Totentanz. Und es gibt ungeheuerliche Sätze wie diesen: "Es ist nicht einfach, ein Kalb ausbluten zu lassen, während es dich mit seinen Kinderaugen ansieht, und Raggio tat sich schwer, die Klinge tief bis zum Griff in die Kehle des armen Tiers zu stoßen." Die Drastik dieses Erzählens schlägt den Leser in Bann.
Rund um das Dorf lauern unheimliche Orte wie die Dolinen und Karstlöcher, abgrundtiefe Spalten, in denen selbst im Sommer eisige Kälte herrscht, "klaffende Münder, die nach einem Toten rufen". Verträge unterzeichnet man auf einem Steinblock mit dem Fußabdruck von Christus - als Jesus über ihn schritt, wurde er weich wie Butterschmalz, und der Fuß sank ein "wie ein mit Glut gefülltes Bügeleisen". Eingefügt sind legendenhafte Geschichten von Wundern, Hexen und Heiligen. Ein Ketzer wurde einst verbrannt, weil er behauptete, das Leben auf der Erde sei aus einem universalen Käselaib entstanden.
Stichwort Käse; da erscheint eine Sache doch merkwürdig. Man braucht Lab zum Käsemachen. Es wird hergestellt aus dem vierten Kälbermagen, der das Gerinnungsferment Chymosin enthält und deshalb auch Labmagen heißt. In Zinos friaulischem Dorf aber geht das anders: "Lab macht man halt mit den Hodensäcken der Kälber" - dergleichen liest man wiederholt und erfährt, dass die Hodensäcke im Kamin aufgehängt und lange durchgeräuchert werden müssen. Das klingt martialisch und bietet Gelegenheit zu Übertragungen auf die menschlich-männliche Sphäre. Aber was mag das für einen Käse geben?
Ist da bei der Übersetzung von Helmut Moysich etwas danebengegangen? Sie liest sich ansonsten vorzüglich - keine geringe Leistung, das urtümliche Idiom des Originals ins Deutsche zu bringen. In Italien ist Mauro Corona ein Bestsellerautor, der bedeutende Literaturpreise bekommt und von Claudio Magris gefeiert wird. Da sind weitere Übersetzungen fällig.
WOLFGANG SCHNEIDER
Mauro Corona: "Im Tal des Vajont". Roman.
Aus dem Italienischen von Helmut Moysich. Graf Verlag, Berlin 2012., 304 S., geb., 18,- [Euro].
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