Marion Samuel starb im Alter von elf Jahren in Auschwitz. Fast alle Verwandten wurden ermordet und hinterließen nur wenige Spuren. Bei seinen aufwändigen Recherchen stieß Aly zunächst auf kalte Behördendokumente, dann auf einige Familienfotos. Mit einem ausfürlichen Dokumenten-Anhang.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2004Erschütternd
JUDENVERNICHTUNG. Jedes Buch hat seine Vorgeschichte. Im vorliegenden Fall erhielt der in Berlin lebende Historiker und Publizist Götz Aly 2003 den Marion-Samuel-Preis für seine verschiedenen Studien zur Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Marion Samuel, geboren 1931 in der Kleinstadt Arnswalde/Brandenburg, wurde im Alter von elf Jahren in Auschwitz ermordet. Der Preis trägt ihren Namen, weil die Stiftung "Erinnerung" das Schicksal dieses Mädchens - stellvertretend für Hunderttausende jüdischer Kinder - vor dem Vergessen bewahren wollte. Für seine Dankesrede zur Preisverleihung recherchierte Aly in mehreren Archiven, um Genaueres über Marion Samuels kurze Lebensgeschichte zu erfahren. Die Spurensuche förderte zunächst nur in "trockenem" Bürokratendeutsch gehaltene Berichte der Polizei- und Finanzbehörden über "evakuierte" Juden und deren beschlagnahmte Wohnungen ans Tageslicht. Doch dann gelang es Aly, überlebende Angehörige der Familie Samuel in den Vereinigten Staaten und eine ehemalige Mitschülerin von Marion zu finden, die ihm Fotos und persönliche Zeugnisse anvertrauten und als Zeitzeugen detaillierte Auskünfte gaben. Auf dieser Quellengrundlage hat der Autor die Leidensgeschichte der Familie Samuel in den Jahren 1933 bis 1943 sachkundig rekonstruiert und einfühlsam aufgezeichnet: von der Flucht aus der Provinz in die Anonymität der Großstadt Berlin über die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, die Verhaftung und Enteignung bis zur "fahrplanmäßigen" Deportation nach Auschwitz. Am 4. März 1943 wurde Marion Samuel von ihrem (vorübergehend) noch arbeitsfähigen Vater getrennt und zu einer der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau geführt. Der Titel des Buches soll an die letzte Begegnung mit Marion Samuel erinnern, von der eine Mitschülerin dem Autor berichtete: "Plötzlich fing Marion an zu weinen und sagte, sie hätte Angst. Ich war verwundert, denn sie sagte: ,Da gehen Menschen durch einen Tunnel im Berg und da ist auf dem Weg ein großes Loch und alle werden hineinfallen und sind weg.'" Das Buch bringt im Kern das ganze Ausmaß der menschenverachtenden Politik des NS-Regimes zum Ausdruck - fokussiert auf die Tochter einer jüdischen Familie. Die erschütternde Darstellung ihrer Lebensgeschichte sei insbesondere jüngeren Lesern empfohlen. (Götz Aly: Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943. Mit einem Nachwort von Walther Seinsch. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2004. 159 Seiten, 7,90 [Euro])
HANS-JÜRGEN DÖSCHER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
JUDENVERNICHTUNG. Jedes Buch hat seine Vorgeschichte. Im vorliegenden Fall erhielt der in Berlin lebende Historiker und Publizist Götz Aly 2003 den Marion-Samuel-Preis für seine verschiedenen Studien zur Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Marion Samuel, geboren 1931 in der Kleinstadt Arnswalde/Brandenburg, wurde im Alter von elf Jahren in Auschwitz ermordet. Der Preis trägt ihren Namen, weil die Stiftung "Erinnerung" das Schicksal dieses Mädchens - stellvertretend für Hunderttausende jüdischer Kinder - vor dem Vergessen bewahren wollte. Für seine Dankesrede zur Preisverleihung recherchierte Aly in mehreren Archiven, um Genaueres über Marion Samuels kurze Lebensgeschichte zu erfahren. Die Spurensuche förderte zunächst nur in "trockenem" Bürokratendeutsch gehaltene Berichte der Polizei- und Finanzbehörden über "evakuierte" Juden und deren beschlagnahmte Wohnungen ans Tageslicht. Doch dann gelang es Aly, überlebende Angehörige der Familie Samuel in den Vereinigten Staaten und eine ehemalige Mitschülerin von Marion zu finden, die ihm Fotos und persönliche Zeugnisse anvertrauten und als Zeitzeugen detaillierte Auskünfte gaben. Auf dieser Quellengrundlage hat der Autor die Leidensgeschichte der Familie Samuel in den Jahren 1933 bis 1943 sachkundig rekonstruiert und einfühlsam aufgezeichnet: von der Flucht aus der Provinz in die Anonymität der Großstadt Berlin über die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, die Verhaftung und Enteignung bis zur "fahrplanmäßigen" Deportation nach Auschwitz. Am 4. März 1943 wurde Marion Samuel von ihrem (vorübergehend) noch arbeitsfähigen Vater getrennt und zu einer der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau geführt. Der Titel des Buches soll an die letzte Begegnung mit Marion Samuel erinnern, von der eine Mitschülerin dem Autor berichtete: "Plötzlich fing Marion an zu weinen und sagte, sie hätte Angst. Ich war verwundert, denn sie sagte: ,Da gehen Menschen durch einen Tunnel im Berg und da ist auf dem Weg ein großes Loch und alle werden hineinfallen und sind weg.'" Das Buch bringt im Kern das ganze Ausmaß der menschenverachtenden Politik des NS-Regimes zum Ausdruck - fokussiert auf die Tochter einer jüdischen Familie. Die erschütternde Darstellung ihrer Lebensgeschichte sei insbesondere jüngeren Lesern empfohlen. (Götz Aly: Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943. Mit einem Nachwort von Walther Seinsch. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2004. 159 Seiten, 7,90 [Euro])
HANS-JÜRGEN DÖSCHER
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein "Pflichtexemplar für jede Schulbibliothek" ist das Buch von Götz Aly für Rezensent Hans-Martin Lohmann. Der Autor und Zeithistoriker zeichne mit "sensibler Hand" die Geschichte des kurzen Lebens der Jüdin Marion Samuel und ihrer Familie nach, dem im März 1943 in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau ein Ende gemacht wurde. Mit "Energie und Zielstrebigkeit" hat sich Götz Aly auf die Suche nach Spuren dieses Kindes gemacht, als er von seiner bevorstehenden Ehrung mit dem Marion-Samuel-Preis - ein Symbol für die Kinder, die von den Nazis umgebracht wurden - erfuhr. Mit seiner "anrührenden" Geschichte ist es ihm gelungen, ein "individuelles Gesicht" mit dem allgemeinen Geschehen zu verbinden, lobt der Rezensent. Ein Werk, das unter all den "leicht" wiegenden Büchern von heute dem Leser die Schamesröte ins Gesicht treibe. Und ein Buch, das man "lesen muss".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Buch, das sich so leicht und schnell liest, wie es schwer wiegt und langsam nachwirkt. [...] Marion wird dem Leser/der Leserin unvergesslich bleiben. Ruth Klüger im Vorwort von "Eine von so vielen"