Produktdetails
- Verlag: Aufbau-Verlag
- ISBN-13: 9783351014346
- Artikelnr.: 24009239
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2013Die Hölle der Schlachtfelder begreifen
Er war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Die besten Bücher über den Ersten Weltkrieg
Heinrich Breloer.
Die allmähliche geistige Aushöhlung.
Gefallen bei Verdun - mehr wussten wir nicht über meinen Großvater. Das einzige Foto, das wir von ihm hatten, belebte sich für mich erst, als ich 1966, als Student, Arnold Zweigs Roman "Erziehung vor Verdun" in die Hände bekam. Lesend reiste ich mit dem Armierungssoldaten Bertin in die Hölle von Verdun. Ich sah ihn mit seinen Kameraden durch die Granattrichter um sein Leben rennen. Die Einschläge der Artillerie, die Mensch und Pferd in Stücken auf die zersplitterten Baumleichen wirbeln; der Gestank der umherliegenden Leichen, die von den Ratten zerfressen werden; das Gebrüll der Verletzten und Sterbenden, der ohrenbetäubende Lärm der Artillerie. Der Kampf um das Fressen, der Verfall der Moral und als ständige Begleiter die tausend Läuse in den Kleidern. Die allmähliche geistige Aushöhlung der Soldaten. In diesem Erziehungsroman kommt ein Mann zu Verstand - und der Leser mit ihm. Das gelingt Arnold Zweig so eindringlich, weil er selbst als jüdischer Kriegsteilnehmer einen ähnlichen Lernprozess durchlaufen hat. "Erziehung vor Verdun" ist ein großer, spannender Gesellschaftsroman, der zwischen oben und unten, in den verschiedenen Schichten der wilhelminischen Klassengesellschaft spielt. Der Gewinn dabei: Zweig kannte Marx und stand Sigmund Freud sehr nah. Dieser doppelte Blick ist ein Gewinn beim Aufbau seiner Figuren. Eine verlogene, verklärende Kriegsliteratur hat nach 1918 den Zweiten Weltkrieg mit angeschoben. Versteht sich, dass die Nazis Arnold Zweigs Bücher verbrannt haben. Als der Roman im Exil erschien, war die Planung des nächsten Kriegs schon in vollem Gange.
Heinrich Breloer gilt als Vater des deutschen Fernseh-Dokudramas. Zuletzt ausgestrahlt: "Die Buddenbrooks" (2008).
Arnold Zweig: "Erziehung vor Verdun".
Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 583 S., geb., 40,- [Euro].
Viktor Jerofejew.
Vom Krieg in die nächste Katastrophe.
Ich empfehle eigentlich zwei Bücher, die man gegeneinander lesen muss: Alexander Solschenizyns "August Vierzehn" und Michael Scholochows "Der stille Don" - obwohl ich bei dessen Autorschaft Zweifel habe. Ich halte die Passagen, wie der Kosaken-Held Grigori Melechow den Krieg erlebt, für das Beste im ganzen Buch, ihm eröffnet sich darin das ganze Leben als göttliche Fatalität. Als Naturbursche und Donkosak gerät er zwischen alle politischen Fronten und eröffnet so ein Panoramabild der russischen Geschichte. Der pedantisch langweilige "August" des historischen Pessimisten Solschenizyn liefert dazu die Kausalkette, die vom Kriegsbeginn folgerichtig in die Katastrophe der Revolution führt.
Viktor Jerofejew lebt als Schriftsteller in Moskau. Zuletzt erschien "Russische Apokalypse" ( 2009).
Alexander Solschenizyn: "August Vierzehn".
Das Rote Rad. Erster Knoten. Roman. Piper-Verlag, München 1995.
Konrad Paul Liessmann.
Eine handliche Seelenpflückmaschine.
Als "Festungsprojekt" bezeichnete die österreichische Schriftstellerin Marianne Fritz (1948 bis 2007) eine übermenschliche, unvollendet gebliebene Schreibunternehmung, in deren imaginärem Mittel- und Fluchtpunkt der Kampf um die österreichisch-ungarische Festung Przemysl steht. In einer ausufernden, experimentellen, alle Usancen sprengenden literarischen Anstrengung versuchte Marianne Fritz, die Ungeheuerlichkeit des Krieges, seinen Wahnsinn und seine Rationalität, seine mentalen und realen Vorgeschichten und die Verwüstungen, die er an und in den Menschen anrichtete, in die Ungeheuerlichkeit einer Sprache zu transformieren. Die Schriftstellerin hatte sich ein umfangreiches Archiv aus Berichten, Quellen und seltenen Dokumenten zusammengestellt, vieles ging davon in dieses Schreibprojekt ein, nichts aber unverwandelt. Auf fast 8000 Seiten wird nicht einfach vom Krieg, von seinen Protagonisten, den davon Betroffenen, ihren Befindlichkeiten und Schicksalen erzählt, sondern der Krieg selbst wird zur Sprache. Wenn Karl Kraus seine letzten Tage der Menschheit für ein Marstheater geschrieben hatte, so schrieb Marianne Fritz für Leser von einem anderen Stern.
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien.
Marianne Fritz: "Das Festungsprojekt". "Dessen Sprache du nicht verstehst". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985. "Naturgemäß I" (ebd. 1996), "Naturgemäß II" (ebd. 1998). "Naturgemäß III/Rührmichnichtan!", Online-Fassung, Wien 2011.
John C.G. Röhl.
Ein Dokument liefert die entscheidende Antwort.
Als deutsch-englischer Historiker beschäftigt mich keine Frage so brennend wie die nach den Ursachen der beiden selbstmörderischen deutsch-englischen Konflikte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wieso fühlte sich mein Mutterland genötigt, meinem Vaterlande unter fast unvorstellbaren Opfern gleich zwei Mal den Krieg zu erklären? Und kein anderes Dokument hat mir die Antwort auf diese Frage so deutlich vor Augen geführt wie die Denkschrift des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914, die Fritz Fischer vor fünfzig Jahren in seinem bahnbrechenden Werk "Griff nach der Weltmacht" veröffentlicht hat. Darin bezeichnete Bethmann als das "allgemeine Ziel des Krieges" die "Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit"; zu diesem Zweck müsse "Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden". Man muss nicht lange nachsinnen, um zu erkennen, was dieses Kriegszielprogramm für die ozeanische Supermacht Großbritannien bedeutet hätte: eine deutsche Suprematie über ganz Europa vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, Frankreich - dann ohne Armee, ohne Kohle und Eisen - ein deutscher Satellitenstaat, deutsche Kriegsschiffe und U-Boote in Antwerpen, Brest und Bordeaux, deutsche Soldaten entlang der flandrischen Küste als Bauern angesiedelt. Eine derartige gewaltsame Revolutionierung des europäischen Staatssystems war 1914 für Großbritannien ebenso unerträglich wie 1940.
John C.G. Röhl ist Professor emeritus für Europäische Geschichte an der Universität Sussex.
Fritz Fischer: "Griff nach der Weltmacht".
Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Droste Verlag, Düsseldorf 2009. 575 S., br., 24,95 [Euro].
Michel Tournier.
Seine Haltung ist auch meine Haltung.
Es gibt für mich nur ein Buch über den Ersten Weltkrieg: "Im Westen nichts Neues". Ich teile seinen Antimilitarismus und Pazifismus voll und ganz. Ich habe zwei Romane von Erich Maria Remarque übersetzt, er hat mich zum Essen eingeladen und mir gesagt, ich sei sein einziger Übersetzer, mit dem er in seiner Muttersprache reden könne. Er sah aus wie ein preußischer Offizier und trug stets ein Monokel. Seine amerikanischen, italienischen, spanischen, russischen Übersetzer beherrschten Deutsch nur als tote Sprache, erzählte Remarque. Ich hatte ihn "à la Zola" übersetzt. Zwei Überraschungen habe ihm die Lektüre beschert: "Ich habe einige Stellen aus dem Original nicht gefunden", fing er an. Ich wurde rot. "Und die zweite?", fragte ich keck weiter: "Es gibt in der Übersetzung mehrere Seiten, die nicht im Original sind." Sie gefielen ihm gar nicht schlecht. Remarque ermunterte mich, mein eigenes literarisches Schaffen voranzutreiben.
Michel Tournier hat zusammen mit Remarque dessen Roman "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" (1954) ins Französische übersetzt.
Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues".
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987. 224 S., br., 6,99 [Euro].
Robin Lane Fox.
Argumente für ein deutsches Europa.
Die bei weitem beste kurze Interpretation des Krieges ist die des unnachahmlichen Norman Stone. Ein brillanter Bericht über die Ursprünge, Strategien, Taktiken und "unvermeidlichen Unfälle" dieser Jahre, geschrieben mit funkelndem Geist und durchdringender Menschlichkeit. Die Türken 1914, der Russe Brusilov 1916, die Italiener 1917 - sie sind alle hier, ebenso wie die Ironien der ersten Kriegsmonate: "Generäle versprachen ihren Frauen, jeden Tag zu schreiben, aber bald gingen ihnen die Themen aus. Der österreichisch-ungarische Befehlshaber (der der Ehefrau eines anderen schrieb) schlief in einem eisernen Kinderbett. Das russische Oberkommando schwor dem Wodka ab, außer wenn Fremde anwesend waren." Wer sonst weiß oder zeigt uns so viel? "Es spricht viel für ein deutsches Europa", beginnt Stone. Beinahe glaube ich ihm.
Robin Lane Fox ist Fellow am New College in Oxford.
Norman Stone: "World War One".
A Short History. Penguin Books, London 2008. 240 S., br., 10,20 [Euro].
Jay Winter.
Elegie auf die verlorene Generation.
Dieser schlanke Band birgt ein Prosagedicht, das alles ausdrückt, was gesagt werden muss über die Sinnlosigkeit und Tragödie des Großen Krieges. Eine Elegie auf die verlorene Generation, die Bestand haben wird.
Jay Winter ist Charles J. Stille Professor of History an der Universität Yale.
David Malouf: "Fly away Peter".
Vintage Books, New York 1999. 160 S., br., 8,90 [Euro].
Jörg Baberowski.
So kann man Geschichte erzählen.
Im Krieg werden Soldaten auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen. Es kommt nur darauf an, das eigene Leben zu retten und das Grauen zu bewältigen. Peter Englund führt seine Leser auf die Schlachtfelder und lässt sie spüren, was es bedeutete, der Gewalt des Krieges ausgeliefert zu sein. Niemand hat je so schön über Tod und Verderben geschrieben. Ein Meisterwerk der erzählenden Geschichtsschreibung.
Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Peter Englund: "Schönheit und Schrecken".
Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt Verlag, Berlin 2011. 704 S., geb., 34,95 [Euro].
Inka Mülder-Bach.
Weltgeschichte aus der Nähe betrachtet.
Wer sich Begriffe davon machen will, warum es bis heute so schwer ist, sich einen Begriff vom Ersten Weltkrieg zu machen, lese die Essays, die Robert Musil - 1914 bis 1916 als Offizier in Südtirol und am Isonzo kämpfend, danach für die österreichische Kriegspresse tätig - verfasste. Etwa das Fragment "Der deutsche Mensch als Symptom" (1923) oder die Reflexionen, die er unter dem unverändert aktuellen Titel "Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste" (1922) veröffentlichte. "So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts": Prägnanter lässt sich die Disproportionalität zwischen Geschichte und Sinnlichkeit kaum fassen.
Inka Mülder-Bach lehrt Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Robert Musil: "Gesammelte Werke".
Hrsg. von Adolf Frisé, Bd. II: Prosa und Stücke. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1978.
Barbara Coudenhove-Kalergi.
Er hat es so gewollt.
Das Opus magnum des österreichischen Schriftstellers, in dessen Worten ein "Drama, einem Marstheater zugedacht, in dem Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielen". Dokumentarisch, schrecklich und schrecklich komisch.
Barbara Coudenhove-Kalergi, in Prag geborene österreichische Journalistin, hat soeben ihre Memoiren "Zuhause ist überall" vorgelegt.
Karl Kraus: "Die letzten Tage der Menschheit".
Bühnenfassung des Autors. Hrsg. von Eckart Früh. Suhrkamp Verlag, Berlin 2005. 284 S., br., 8,99 [Euro].
Stefan Collini.
Dulce et decorum est pro patria mori?
Wilfred Owen wurde im Alter von fünfundzwanzig Jahren am 4. November 1918 in Flandern getötet - eine Woche vor dem Waffenstillstand. Bis zu diesem Tag hatte er sehr wenig publiziert, aber er hatte eine schmale Sammlung von Gedichten geschrieben, die nach seinem Tod veröffentlich wurde. Diese Gedichte zählen heute zu den größten Werken der Literatur nicht nur über den Ersten Weltkrieg, sondern über die Erfahrung des Kriegs zu allen Zeiten: "My subject is War and the pity of War. The Poetry is in the pity."
Stefan Collini ist Professor für Englische Literatur an der Universität Cambridge.
Wilfred Owen: "Poems".
With an Introduction by Siegfried Sassoon. Chatto and Windus, London 1920.
Christina von Hodenberg.
Eine Sammlung aus der Wirklichkeit.
Mehr als dreizehn Millionen deutsche Soldaten zogen in den Krieg. Zwei Millionen von ihnen starben, fast fünf Millionen wurden verwundet. Die Todesangst und Nervenzusammenbrüche der Soldaten, die Schikanen der Offiziere, der Hunger der Daheimgebliebenen: Die Wirklichkeit des Weltkriegs wird in dieser Sammlung kurzer Quellenstücke lebendig. Aus Feldpostbriefen, Polizeiberichten, militärischen Erlassen und ärztlichen Berichten entsteht ein Bild des Kriegsgeschehens, das von der nachträglichen Verklärung ("Frontgemeinschaft", "im Felde unbesiegt") meilenweit entfernt ist. Die Kommentare machen die Lektüre zum Gewinn für Leser auch ohne Vorkenntnisse.
Christina von Hodenberg hat einen Lehrstuhl für Europäische Geschichte an der Queen Mary Universität London.
Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann (Hrsg.): "Frontalltag im Ersten Weltkrieg".
Ein historisches Lesebuch. Klartext Verlag, Essen 2008. 160 S., br., 18,90 [Euro].
Anne Lipp.
Seine Leser waren klüger als die Propaganda.
Vieles von dem, was die neuere Forschung aus persönlichen Dokumenten zu soldatischen Kriegserfahrungen erarbeitet hat, findet sich bereits in Remarques Roman. Während die Dolchstoßlegende "Heimat" später zu einem monolithischen Block gemacht und daraus ein Gegensatzpaar Front - Heimat konstruiert hat, bedeutete "Heimat" für die Soldaten gleichermaßen die eigene Familie, um die man sich gesorgt hat; es waren aber auch die "Bierbankstrategen", denen der Krieg nicht schnell genug ging, oder die "Kriegsgewinnler" der Rüstungsindustrie.
Anne Lipp arbeitet für die DFG und forscht über Meinungslenkung im Ersten Weltkrieg.
Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues".
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987. 224 S., br., 6,99 [Euro].
Umfrage: Hannes Hintermeier
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Die besten Bücher über den Ersten Weltkrieg
Heinrich Breloer.
Die allmähliche geistige Aushöhlung.
Gefallen bei Verdun - mehr wussten wir nicht über meinen Großvater. Das einzige Foto, das wir von ihm hatten, belebte sich für mich erst, als ich 1966, als Student, Arnold Zweigs Roman "Erziehung vor Verdun" in die Hände bekam. Lesend reiste ich mit dem Armierungssoldaten Bertin in die Hölle von Verdun. Ich sah ihn mit seinen Kameraden durch die Granattrichter um sein Leben rennen. Die Einschläge der Artillerie, die Mensch und Pferd in Stücken auf die zersplitterten Baumleichen wirbeln; der Gestank der umherliegenden Leichen, die von den Ratten zerfressen werden; das Gebrüll der Verletzten und Sterbenden, der ohrenbetäubende Lärm der Artillerie. Der Kampf um das Fressen, der Verfall der Moral und als ständige Begleiter die tausend Läuse in den Kleidern. Die allmähliche geistige Aushöhlung der Soldaten. In diesem Erziehungsroman kommt ein Mann zu Verstand - und der Leser mit ihm. Das gelingt Arnold Zweig so eindringlich, weil er selbst als jüdischer Kriegsteilnehmer einen ähnlichen Lernprozess durchlaufen hat. "Erziehung vor Verdun" ist ein großer, spannender Gesellschaftsroman, der zwischen oben und unten, in den verschiedenen Schichten der wilhelminischen Klassengesellschaft spielt. Der Gewinn dabei: Zweig kannte Marx und stand Sigmund Freud sehr nah. Dieser doppelte Blick ist ein Gewinn beim Aufbau seiner Figuren. Eine verlogene, verklärende Kriegsliteratur hat nach 1918 den Zweiten Weltkrieg mit angeschoben. Versteht sich, dass die Nazis Arnold Zweigs Bücher verbrannt haben. Als der Roman im Exil erschien, war die Planung des nächsten Kriegs schon in vollem Gange.
Heinrich Breloer gilt als Vater des deutschen Fernseh-Dokudramas. Zuletzt ausgestrahlt: "Die Buddenbrooks" (2008).
Arnold Zweig: "Erziehung vor Verdun".
Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 583 S., geb., 40,- [Euro].
Viktor Jerofejew.
Vom Krieg in die nächste Katastrophe.
Ich empfehle eigentlich zwei Bücher, die man gegeneinander lesen muss: Alexander Solschenizyns "August Vierzehn" und Michael Scholochows "Der stille Don" - obwohl ich bei dessen Autorschaft Zweifel habe. Ich halte die Passagen, wie der Kosaken-Held Grigori Melechow den Krieg erlebt, für das Beste im ganzen Buch, ihm eröffnet sich darin das ganze Leben als göttliche Fatalität. Als Naturbursche und Donkosak gerät er zwischen alle politischen Fronten und eröffnet so ein Panoramabild der russischen Geschichte. Der pedantisch langweilige "August" des historischen Pessimisten Solschenizyn liefert dazu die Kausalkette, die vom Kriegsbeginn folgerichtig in die Katastrophe der Revolution führt.
Viktor Jerofejew lebt als Schriftsteller in Moskau. Zuletzt erschien "Russische Apokalypse" ( 2009).
Alexander Solschenizyn: "August Vierzehn".
Das Rote Rad. Erster Knoten. Roman. Piper-Verlag, München 1995.
Konrad Paul Liessmann.
Eine handliche Seelenpflückmaschine.
Als "Festungsprojekt" bezeichnete die österreichische Schriftstellerin Marianne Fritz (1948 bis 2007) eine übermenschliche, unvollendet gebliebene Schreibunternehmung, in deren imaginärem Mittel- und Fluchtpunkt der Kampf um die österreichisch-ungarische Festung Przemysl steht. In einer ausufernden, experimentellen, alle Usancen sprengenden literarischen Anstrengung versuchte Marianne Fritz, die Ungeheuerlichkeit des Krieges, seinen Wahnsinn und seine Rationalität, seine mentalen und realen Vorgeschichten und die Verwüstungen, die er an und in den Menschen anrichtete, in die Ungeheuerlichkeit einer Sprache zu transformieren. Die Schriftstellerin hatte sich ein umfangreiches Archiv aus Berichten, Quellen und seltenen Dokumenten zusammengestellt, vieles ging davon in dieses Schreibprojekt ein, nichts aber unverwandelt. Auf fast 8000 Seiten wird nicht einfach vom Krieg, von seinen Protagonisten, den davon Betroffenen, ihren Befindlichkeiten und Schicksalen erzählt, sondern der Krieg selbst wird zur Sprache. Wenn Karl Kraus seine letzten Tage der Menschheit für ein Marstheater geschrieben hatte, so schrieb Marianne Fritz für Leser von einem anderen Stern.
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien.
Marianne Fritz: "Das Festungsprojekt". "Dessen Sprache du nicht verstehst". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985. "Naturgemäß I" (ebd. 1996), "Naturgemäß II" (ebd. 1998). "Naturgemäß III/Rührmichnichtan!", Online-Fassung, Wien 2011.
John C.G. Röhl.
Ein Dokument liefert die entscheidende Antwort.
Als deutsch-englischer Historiker beschäftigt mich keine Frage so brennend wie die nach den Ursachen der beiden selbstmörderischen deutsch-englischen Konflikte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wieso fühlte sich mein Mutterland genötigt, meinem Vaterlande unter fast unvorstellbaren Opfern gleich zwei Mal den Krieg zu erklären? Und kein anderes Dokument hat mir die Antwort auf diese Frage so deutlich vor Augen geführt wie die Denkschrift des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914, die Fritz Fischer vor fünfzig Jahren in seinem bahnbrechenden Werk "Griff nach der Weltmacht" veröffentlicht hat. Darin bezeichnete Bethmann als das "allgemeine Ziel des Krieges" die "Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit"; zu diesem Zweck müsse "Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden". Man muss nicht lange nachsinnen, um zu erkennen, was dieses Kriegszielprogramm für die ozeanische Supermacht Großbritannien bedeutet hätte: eine deutsche Suprematie über ganz Europa vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, Frankreich - dann ohne Armee, ohne Kohle und Eisen - ein deutscher Satellitenstaat, deutsche Kriegsschiffe und U-Boote in Antwerpen, Brest und Bordeaux, deutsche Soldaten entlang der flandrischen Küste als Bauern angesiedelt. Eine derartige gewaltsame Revolutionierung des europäischen Staatssystems war 1914 für Großbritannien ebenso unerträglich wie 1940.
John C.G. Röhl ist Professor emeritus für Europäische Geschichte an der Universität Sussex.
Fritz Fischer: "Griff nach der Weltmacht".
Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Droste Verlag, Düsseldorf 2009. 575 S., br., 24,95 [Euro].
Michel Tournier.
Seine Haltung ist auch meine Haltung.
Es gibt für mich nur ein Buch über den Ersten Weltkrieg: "Im Westen nichts Neues". Ich teile seinen Antimilitarismus und Pazifismus voll und ganz. Ich habe zwei Romane von Erich Maria Remarque übersetzt, er hat mich zum Essen eingeladen und mir gesagt, ich sei sein einziger Übersetzer, mit dem er in seiner Muttersprache reden könne. Er sah aus wie ein preußischer Offizier und trug stets ein Monokel. Seine amerikanischen, italienischen, spanischen, russischen Übersetzer beherrschten Deutsch nur als tote Sprache, erzählte Remarque. Ich hatte ihn "à la Zola" übersetzt. Zwei Überraschungen habe ihm die Lektüre beschert: "Ich habe einige Stellen aus dem Original nicht gefunden", fing er an. Ich wurde rot. "Und die zweite?", fragte ich keck weiter: "Es gibt in der Übersetzung mehrere Seiten, die nicht im Original sind." Sie gefielen ihm gar nicht schlecht. Remarque ermunterte mich, mein eigenes literarisches Schaffen voranzutreiben.
Michel Tournier hat zusammen mit Remarque dessen Roman "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" (1954) ins Französische übersetzt.
Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues".
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987. 224 S., br., 6,99 [Euro].
Robin Lane Fox.
Argumente für ein deutsches Europa.
Die bei weitem beste kurze Interpretation des Krieges ist die des unnachahmlichen Norman Stone. Ein brillanter Bericht über die Ursprünge, Strategien, Taktiken und "unvermeidlichen Unfälle" dieser Jahre, geschrieben mit funkelndem Geist und durchdringender Menschlichkeit. Die Türken 1914, der Russe Brusilov 1916, die Italiener 1917 - sie sind alle hier, ebenso wie die Ironien der ersten Kriegsmonate: "Generäle versprachen ihren Frauen, jeden Tag zu schreiben, aber bald gingen ihnen die Themen aus. Der österreichisch-ungarische Befehlshaber (der der Ehefrau eines anderen schrieb) schlief in einem eisernen Kinderbett. Das russische Oberkommando schwor dem Wodka ab, außer wenn Fremde anwesend waren." Wer sonst weiß oder zeigt uns so viel? "Es spricht viel für ein deutsches Europa", beginnt Stone. Beinahe glaube ich ihm.
Robin Lane Fox ist Fellow am New College in Oxford.
Norman Stone: "World War One".
A Short History. Penguin Books, London 2008. 240 S., br., 10,20 [Euro].
Jay Winter.
Elegie auf die verlorene Generation.
Dieser schlanke Band birgt ein Prosagedicht, das alles ausdrückt, was gesagt werden muss über die Sinnlosigkeit und Tragödie des Großen Krieges. Eine Elegie auf die verlorene Generation, die Bestand haben wird.
Jay Winter ist Charles J. Stille Professor of History an der Universität Yale.
David Malouf: "Fly away Peter".
Vintage Books, New York 1999. 160 S., br., 8,90 [Euro].
Jörg Baberowski.
So kann man Geschichte erzählen.
Im Krieg werden Soldaten auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen. Es kommt nur darauf an, das eigene Leben zu retten und das Grauen zu bewältigen. Peter Englund führt seine Leser auf die Schlachtfelder und lässt sie spüren, was es bedeutete, der Gewalt des Krieges ausgeliefert zu sein. Niemand hat je so schön über Tod und Verderben geschrieben. Ein Meisterwerk der erzählenden Geschichtsschreibung.
Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Peter Englund: "Schönheit und Schrecken".
Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt Verlag, Berlin 2011. 704 S., geb., 34,95 [Euro].
Inka Mülder-Bach.
Weltgeschichte aus der Nähe betrachtet.
Wer sich Begriffe davon machen will, warum es bis heute so schwer ist, sich einen Begriff vom Ersten Weltkrieg zu machen, lese die Essays, die Robert Musil - 1914 bis 1916 als Offizier in Südtirol und am Isonzo kämpfend, danach für die österreichische Kriegspresse tätig - verfasste. Etwa das Fragment "Der deutsche Mensch als Symptom" (1923) oder die Reflexionen, die er unter dem unverändert aktuellen Titel "Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste" (1922) veröffentlichte. "So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts": Prägnanter lässt sich die Disproportionalität zwischen Geschichte und Sinnlichkeit kaum fassen.
Inka Mülder-Bach lehrt Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Robert Musil: "Gesammelte Werke".
Hrsg. von Adolf Frisé, Bd. II: Prosa und Stücke. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1978.
Barbara Coudenhove-Kalergi.
Er hat es so gewollt.
Das Opus magnum des österreichischen Schriftstellers, in dessen Worten ein "Drama, einem Marstheater zugedacht, in dem Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielen". Dokumentarisch, schrecklich und schrecklich komisch.
Barbara Coudenhove-Kalergi, in Prag geborene österreichische Journalistin, hat soeben ihre Memoiren "Zuhause ist überall" vorgelegt.
Karl Kraus: "Die letzten Tage der Menschheit".
Bühnenfassung des Autors. Hrsg. von Eckart Früh. Suhrkamp Verlag, Berlin 2005. 284 S., br., 8,99 [Euro].
Stefan Collini.
Dulce et decorum est pro patria mori?
Wilfred Owen wurde im Alter von fünfundzwanzig Jahren am 4. November 1918 in Flandern getötet - eine Woche vor dem Waffenstillstand. Bis zu diesem Tag hatte er sehr wenig publiziert, aber er hatte eine schmale Sammlung von Gedichten geschrieben, die nach seinem Tod veröffentlich wurde. Diese Gedichte zählen heute zu den größten Werken der Literatur nicht nur über den Ersten Weltkrieg, sondern über die Erfahrung des Kriegs zu allen Zeiten: "My subject is War and the pity of War. The Poetry is in the pity."
Stefan Collini ist Professor für Englische Literatur an der Universität Cambridge.
Wilfred Owen: "Poems".
With an Introduction by Siegfried Sassoon. Chatto and Windus, London 1920.
Christina von Hodenberg.
Eine Sammlung aus der Wirklichkeit.
Mehr als dreizehn Millionen deutsche Soldaten zogen in den Krieg. Zwei Millionen von ihnen starben, fast fünf Millionen wurden verwundet. Die Todesangst und Nervenzusammenbrüche der Soldaten, die Schikanen der Offiziere, der Hunger der Daheimgebliebenen: Die Wirklichkeit des Weltkriegs wird in dieser Sammlung kurzer Quellenstücke lebendig. Aus Feldpostbriefen, Polizeiberichten, militärischen Erlassen und ärztlichen Berichten entsteht ein Bild des Kriegsgeschehens, das von der nachträglichen Verklärung ("Frontgemeinschaft", "im Felde unbesiegt") meilenweit entfernt ist. Die Kommentare machen die Lektüre zum Gewinn für Leser auch ohne Vorkenntnisse.
Christina von Hodenberg hat einen Lehrstuhl für Europäische Geschichte an der Queen Mary Universität London.
Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann (Hrsg.): "Frontalltag im Ersten Weltkrieg".
Ein historisches Lesebuch. Klartext Verlag, Essen 2008. 160 S., br., 18,90 [Euro].
Anne Lipp.
Seine Leser waren klüger als die Propaganda.
Vieles von dem, was die neuere Forschung aus persönlichen Dokumenten zu soldatischen Kriegserfahrungen erarbeitet hat, findet sich bereits in Remarques Roman. Während die Dolchstoßlegende "Heimat" später zu einem monolithischen Block gemacht und daraus ein Gegensatzpaar Front - Heimat konstruiert hat, bedeutete "Heimat" für die Soldaten gleichermaßen die eigene Familie, um die man sich gesorgt hat; es waren aber auch die "Bierbankstrategen", denen der Krieg nicht schnell genug ging, oder die "Kriegsgewinnler" der Rüstungsindustrie.
Anne Lipp arbeitet für die DFG und forscht über Meinungslenkung im Ersten Weltkrieg.
Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues".
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1987. 224 S., br., 6,99 [Euro].
Umfrage: Hannes Hintermeier
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2014DAS HÖRBUCH
Tanzplatz
des Todes
Brüchig: Tom Schilling liest
„In Stahlgewittern“
Als Ernst Jünger Anfang Januar 1915 mit dem hannoverschen Füsilier-Regiment Nr. 73 „endlich“, wie er sechs Jahre später schrieb, an die Westfront kam, war der deutsche Vormarsch längst gestoppt, der Krieg zum mörderischen Stellungskrieg geworden. „In Stahlgewittern – Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“, so der vollständige Titel des Buches bei seinem ersten Erscheinen 1920, ist in seiner eigentümlichen Mischung aus sachlich-nüchternem Bericht und dramatisch-feierlichem Heldenpathos zweifellos eines der bedeutendsten Bücher über den Ersten Weltkrieg. Lange war es auch eines der umstrittensten. Der Vorwurf lautete, vereinfacht ausgedrückt: Kriegsverherrlichung.
Dazu trug bei, dass es Jünger, der sich als 19-Jähriger weniger aus patriotischem Furor denn aus dem drängenden Bedürfnis heraus, der verhassten Schule zu entfliehen und ein großes „Abenteuer“ zu erleben, freiwillig gemeldet hatte, zeitlebens nicht für nötig befand, zu seinen nationalrevolutionären und antidemokratischen Ansichten zur Zeit der Weimarer Republik Stellung zu beziehen. Gar sich von ihnen zu distanzieren. Höhepunkt der Auseinandersetzungen für und wider Jünger war 1982 seine Ehrung mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt.
Mit Ernst Jüngers damaliger Dankesrede endet die vollständige Lesung von „In Stahlgewittern“, die dieser Tage im Hörverlag erschienen ist. Auf zehn CDs mit meh r als zwölf Stunden Laufzeit nimmt uns Tom Schilling mit auf die grabenzerfurchten Schlachtfelder Frankreichs und Flanderns 1914 bis 1918, berichtet mit seiner immer noch ein wenig jungenhaft klingenden, vor allem aber brüchigen und angekratzten, zurückhaltend agierenden Stimme von der Schlacht an der Somme oder der Doppelschlacht bei Cambrai.
Schilling hat so gar nichts Auftrumpfendes. Immer schwingt eine nachdenkliche Verletzlichkeit mit. Dadurch schafft er den denkbar größten Kontrast zum Text. Dessen einerseits kühlen und sachlichen, einer „Ästhetik des Schreckens“ (Karl Heinz Bohrer) verpflichteten Beobachtungen selbst grausamster, barbarischer Ereignisse. Und andererseits seinen metapherngesättigten Schilderungen der Kampfhandlungen auf dem „Tanzplatz des Todes“. Der Kontrast besteht aber auch zu Ernst Jünger selbst. Auch wenn dieser in Frankfurt bereits 87 Jahre alt ist, redet er als Geehrter diszipliniert, fest und durchdringend. Textgrundlage des Hörbuches ist die im vergangenen Jahr bei Klett-Cotta von Helmuth Kiesel verantwortete historisch-kritische Ausgabe in zwei Bänden. Eine überzeugende Editions-Leistung, die das Buch erstmals in seiner ganzen verwickelten Genese als „einzigartiges Dokument einer unablässigen Auseinandersetzung“ mit dem Ersten Weltkrieg (Helmuth Kiesel), problemlos zu lesen erlaubt. Denn Jünger arbeitete „In Stahlgewittern“ immer wieder um, frisierte, strich Stellen und fügte neue hinzu. Das Wie und Warum soll hier nicht interessieren. Dass Jünger den Text immer auch den politischen Zeitläuften anpasste, ist unstrittig. Insgesamt entstanden in knapp sechzig Jahren sieben unterschiedliche Fassungen. Die letzte datiert auf das Jahr 1978.
Es ist diese, die Tom Schilling liest. Zu keiner Zeit biedert er sich dem Text an. Er gestaltet und formt ihn nicht: Jüngers Weltkriegsdarstellung soll nicht schauspielerisch geschliffen klingen. Schillings Vortrag zieht gleichsam einen doppelten Boden ein, indem er jedes männlich-laute Heldenpathos unterläuft. So lässt er den Hörer immer wieder aufhorchen. Das Hörbuch ist eine Einladung, den Krieg und seine in den Worten Helmuth Kiesels „eindringliche und schonungslose, zugleich leiderfüllte und frivole, ebenso ergreifende wie schockierende“ Darstellung bei Jünger zu reflektieren und zu hinterfragen.
Auch Erich Maria Remarque, Generationsgenosse von Jünger und Kriegsteilnehmer wie dieser – aber mit einer gänzlich anderen politischen Einstellung –, lobte seinerzeit deren „wohltuende Sachlichkeit“. Bereits im vergangenen Jahr ist im Hörverlag Remarques „Im Westen nichts Neues“ erschienen, gelesen von August Diehl. Es bietet sich an, diese wegen ihrer Ernsthaftigkeit und Sensitivität kongeniale Einlesung des Lebens und Sterbens von Paul Bäumer unmittelbar nach der Stahlgewitter-Lesung zu hören. Ebenso radikal und ungeschminkt wie Jünger schildert Remarque in seinem schnell zum Weltbestseller gewordenen Roman das massenhafte, maschinelle Töten an der Westfront. Mit einem gravierenden Unterschied: Sätze wie „Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden“ und „Es darf nie wieder geschehen“ sucht man bei Jünger vergebens.
FLORIAN WELLE
Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Gelesen von Tom Schilling. Mit einem Originalton des Autors. Der Hörverlag, München 2014. 10 CDs, ca. 12 h 13 min, 34,99 Euro.
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Gelesen von August Diehl. Der Hörverlag, München 2013, 5 CDs, ca. 6 h 7 min., 13,95 Euro.
Schillings zurückhaltender
Vortrag unterläuft
alles Laute, Heroisierende
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tanzplatz
des Todes
Brüchig: Tom Schilling liest
„In Stahlgewittern“
Als Ernst Jünger Anfang Januar 1915 mit dem hannoverschen Füsilier-Regiment Nr. 73 „endlich“, wie er sechs Jahre später schrieb, an die Westfront kam, war der deutsche Vormarsch längst gestoppt, der Krieg zum mörderischen Stellungskrieg geworden. „In Stahlgewittern – Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“, so der vollständige Titel des Buches bei seinem ersten Erscheinen 1920, ist in seiner eigentümlichen Mischung aus sachlich-nüchternem Bericht und dramatisch-feierlichem Heldenpathos zweifellos eines der bedeutendsten Bücher über den Ersten Weltkrieg. Lange war es auch eines der umstrittensten. Der Vorwurf lautete, vereinfacht ausgedrückt: Kriegsverherrlichung.
Dazu trug bei, dass es Jünger, der sich als 19-Jähriger weniger aus patriotischem Furor denn aus dem drängenden Bedürfnis heraus, der verhassten Schule zu entfliehen und ein großes „Abenteuer“ zu erleben, freiwillig gemeldet hatte, zeitlebens nicht für nötig befand, zu seinen nationalrevolutionären und antidemokratischen Ansichten zur Zeit der Weimarer Republik Stellung zu beziehen. Gar sich von ihnen zu distanzieren. Höhepunkt der Auseinandersetzungen für und wider Jünger war 1982 seine Ehrung mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt.
Mit Ernst Jüngers damaliger Dankesrede endet die vollständige Lesung von „In Stahlgewittern“, die dieser Tage im Hörverlag erschienen ist. Auf zehn CDs mit meh r als zwölf Stunden Laufzeit nimmt uns Tom Schilling mit auf die grabenzerfurchten Schlachtfelder Frankreichs und Flanderns 1914 bis 1918, berichtet mit seiner immer noch ein wenig jungenhaft klingenden, vor allem aber brüchigen und angekratzten, zurückhaltend agierenden Stimme von der Schlacht an der Somme oder der Doppelschlacht bei Cambrai.
Schilling hat so gar nichts Auftrumpfendes. Immer schwingt eine nachdenkliche Verletzlichkeit mit. Dadurch schafft er den denkbar größten Kontrast zum Text. Dessen einerseits kühlen und sachlichen, einer „Ästhetik des Schreckens“ (Karl Heinz Bohrer) verpflichteten Beobachtungen selbst grausamster, barbarischer Ereignisse. Und andererseits seinen metapherngesättigten Schilderungen der Kampfhandlungen auf dem „Tanzplatz des Todes“. Der Kontrast besteht aber auch zu Ernst Jünger selbst. Auch wenn dieser in Frankfurt bereits 87 Jahre alt ist, redet er als Geehrter diszipliniert, fest und durchdringend. Textgrundlage des Hörbuches ist die im vergangenen Jahr bei Klett-Cotta von Helmuth Kiesel verantwortete historisch-kritische Ausgabe in zwei Bänden. Eine überzeugende Editions-Leistung, die das Buch erstmals in seiner ganzen verwickelten Genese als „einzigartiges Dokument einer unablässigen Auseinandersetzung“ mit dem Ersten Weltkrieg (Helmuth Kiesel), problemlos zu lesen erlaubt. Denn Jünger arbeitete „In Stahlgewittern“ immer wieder um, frisierte, strich Stellen und fügte neue hinzu. Das Wie und Warum soll hier nicht interessieren. Dass Jünger den Text immer auch den politischen Zeitläuften anpasste, ist unstrittig. Insgesamt entstanden in knapp sechzig Jahren sieben unterschiedliche Fassungen. Die letzte datiert auf das Jahr 1978.
Es ist diese, die Tom Schilling liest. Zu keiner Zeit biedert er sich dem Text an. Er gestaltet und formt ihn nicht: Jüngers Weltkriegsdarstellung soll nicht schauspielerisch geschliffen klingen. Schillings Vortrag zieht gleichsam einen doppelten Boden ein, indem er jedes männlich-laute Heldenpathos unterläuft. So lässt er den Hörer immer wieder aufhorchen. Das Hörbuch ist eine Einladung, den Krieg und seine in den Worten Helmuth Kiesels „eindringliche und schonungslose, zugleich leiderfüllte und frivole, ebenso ergreifende wie schockierende“ Darstellung bei Jünger zu reflektieren und zu hinterfragen.
Auch Erich Maria Remarque, Generationsgenosse von Jünger und Kriegsteilnehmer wie dieser – aber mit einer gänzlich anderen politischen Einstellung –, lobte seinerzeit deren „wohltuende Sachlichkeit“. Bereits im vergangenen Jahr ist im Hörverlag Remarques „Im Westen nichts Neues“ erschienen, gelesen von August Diehl. Es bietet sich an, diese wegen ihrer Ernsthaftigkeit und Sensitivität kongeniale Einlesung des Lebens und Sterbens von Paul Bäumer unmittelbar nach der Stahlgewitter-Lesung zu hören. Ebenso radikal und ungeschminkt wie Jünger schildert Remarque in seinem schnell zum Weltbestseller gewordenen Roman das massenhafte, maschinelle Töten an der Westfront. Mit einem gravierenden Unterschied: Sätze wie „Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden“ und „Es darf nie wieder geschehen“ sucht man bei Jünger vergebens.
FLORIAN WELLE
Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Gelesen von Tom Schilling. Mit einem Originalton des Autors. Der Hörverlag, München 2014. 10 CDs, ca. 12 h 13 min, 34,99 Euro.
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Gelesen von August Diehl. Der Hörverlag, München 2013, 5 CDs, ca. 6 h 7 min., 13,95 Euro.
Schillings zurückhaltender
Vortrag unterläuft
alles Laute, Heroisierende
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de