M - Eine Stadt sucht ihren Berg. München spielt im deutschen Bergsteigen von Anfang an die Vorreiterrolle: 1869 wurde hier der Deutsche Alpenverein gegründet, Münchner Kletterer rückten mit ihrer neuen Seiltechnik den Nördlichen Kalkalpen zu Leibe, schrieben in den Nordwänden von Matterhorn, Grandes Jorasses und Eiger Alpingeschichte und waren 1953 an der erfolgreichen Nanga-Parbat-Expedition beteiligt. Nicholas Mailänder spürte den Forschern der Aufklärung und Münchner Landschaftsmalern nach, fand handgeschriebene Fragmente bedeutender alpiner Neuerer wie Georg Winkler und Otto Herzog und führte Interviews mit Legenden wie Otto Eidenschink, Hermann Köllensperger, Helmut Kiene, Thomas und Alexander Huber. Der Leser erfährt, wie der geistige Aufbruch vor dem Ersten Weltkrieg Kletterer wie Paul Preuß und Hans Dülfer veranlasste, im Fels die Grenzen des Möglichen neu zu ziehen. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, Bergvagabundentum und Eiger-Nordwand wird genau so deutlich wie jener zwischen dem Aufbegehren der Jugend in den Sechzigerjahren und dem Entstehen der modernen Freikletterbewegung. Überraschende Querbezüge eröffnen hier Perspektiven, die einen neuen und ideologiefreien Blick auf die Bergsportgeschichte ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk richtet der Autor auf die Rolle des Alpenvereins. Bisher unveröffentlichte Dokumente belegen die Verstrickung des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins in die blutige Niederschlagung der Münchner Räterepublik sowie in den 'völkischen' Antisemitismus. Erstmals wird die Entwicklung des ambivalenten Verhältnisses zwischen NS-Regime und D. u. Oe. A. V. bis zu dessen totaler Gleichschaltung um 1938 lückenlos dargestellt. Die bislang nur wenigen Eingeweihten bekannte Geschichte der Wiedergründung des DAV nach dem Zweiten Weltkrieg liest sich wie ein vereinspolitischer Krimi.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2007Gipfelsieg über der Stadt
Bis zum Kriegsende 1945 definierten sich die "Münchner Neuesten Nachrichten" in ihrem Untertitel auch als Zeitung "für Alpines und Sport". Tatsächlich hat der Mythos der alpinen Welt München so stark geprägt wie außer ihm nur Innsbruck und vielleicht das kaiserliche Wien vor 1914. Von München aus haben im neunzehnten Jahrhundert die Maler die Welt der Berge entdeckt, in München wurde im Jahr 1869 der Deutsche Alpenverein gegründet. Münchner Kletterer rückten mit neuen Techniken den Nördlichen Kalkalpen im Wetterstein, im Karwendel, im Wilden Kaiser zu Leibe; in den Nordwänden von Matterhorn, Grandes Jorasses und Eiger schrieben sie Alpingeschichte. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wagten sie sich sogar bis zu dahin unerreichten Höhen in den Achttausender-Regionen des Himalajas vor; 1953 kehrten sie erfolgreich vom Nanga Parbat, dem "deutschen Schicksalsberg", zurück - allerdings ging in der allgemeinen Erfolgseuphorie unter, dass Hermann Buhl, der Einzige, der den Gipfel erreichte, ein Österreicher war. Doch auch den weniger leistungsbesessenen Bergsteigern bot München optimale Möglichkeiten. In den sonntäglichen Morgenstunden fuhren Groß und Klein, Arm und Reich mit Rucksack und klirrenden Nagelschuhen in überfüllten Zügen nach Garmisch, Kufstein und Innsbruck. Für die ganz Armen, die arbeitslosen "Bergvagabunden" der Zwanziger und Dreißiger, war das Fahrrad das einzige bezahlbare Verkehrsmittel, was sie nicht hinderte, nach vielstündigem Pedaltreten noch die abenteuerlichsten Klettereien zu unternehmen. Legendär wurde der "Ausflug" der Bergsteiger-Brüder Franz und Toni Schmid, die in sechs Tagen von München bis nach Zermatt radelten, um dort die Erstbesteigung der Matterhorn-Nordwand zu erzwingen. In seinem gründlich recherchierten, mit vielen Details angereicherten Buch behandelt der Autor auch die Verstrickungen der Münchner Bergsteiger in die NS-Ideologie und die Hartnäckigkeit, mit der nicht wenige nach 1945 an der nationalistischen Ideenwelt festgehalten haben. In seinen letzten Kapiteln nähert sich das Buch der Gegenwart, in der München seine Sonderstellung als Bergsteigerstadt gegen eine führende Rolle als Operationsbasis für Outdoor-Aktivisten eintauscht.
H.E.R.
"Im Zeichen des Edelweiß - Die Geschichte Münchens als Bergsteigerstadt" von Nicholas Mailänder. AS Verlag Zürich 2007. 416 Seiten, 230 Schwarzweiß- und Farbfotografien. Gebunden, 39,80 Euro. ISBN 3-909111-28-9
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bis zum Kriegsende 1945 definierten sich die "Münchner Neuesten Nachrichten" in ihrem Untertitel auch als Zeitung "für Alpines und Sport". Tatsächlich hat der Mythos der alpinen Welt München so stark geprägt wie außer ihm nur Innsbruck und vielleicht das kaiserliche Wien vor 1914. Von München aus haben im neunzehnten Jahrhundert die Maler die Welt der Berge entdeckt, in München wurde im Jahr 1869 der Deutsche Alpenverein gegründet. Münchner Kletterer rückten mit neuen Techniken den Nördlichen Kalkalpen im Wetterstein, im Karwendel, im Wilden Kaiser zu Leibe; in den Nordwänden von Matterhorn, Grandes Jorasses und Eiger schrieben sie Alpingeschichte. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wagten sie sich sogar bis zu dahin unerreichten Höhen in den Achttausender-Regionen des Himalajas vor; 1953 kehrten sie erfolgreich vom Nanga Parbat, dem "deutschen Schicksalsberg", zurück - allerdings ging in der allgemeinen Erfolgseuphorie unter, dass Hermann Buhl, der Einzige, der den Gipfel erreichte, ein Österreicher war. Doch auch den weniger leistungsbesessenen Bergsteigern bot München optimale Möglichkeiten. In den sonntäglichen Morgenstunden fuhren Groß und Klein, Arm und Reich mit Rucksack und klirrenden Nagelschuhen in überfüllten Zügen nach Garmisch, Kufstein und Innsbruck. Für die ganz Armen, die arbeitslosen "Bergvagabunden" der Zwanziger und Dreißiger, war das Fahrrad das einzige bezahlbare Verkehrsmittel, was sie nicht hinderte, nach vielstündigem Pedaltreten noch die abenteuerlichsten Klettereien zu unternehmen. Legendär wurde der "Ausflug" der Bergsteiger-Brüder Franz und Toni Schmid, die in sechs Tagen von München bis nach Zermatt radelten, um dort die Erstbesteigung der Matterhorn-Nordwand zu erzwingen. In seinem gründlich recherchierten, mit vielen Details angereicherten Buch behandelt der Autor auch die Verstrickungen der Münchner Bergsteiger in die NS-Ideologie und die Hartnäckigkeit, mit der nicht wenige nach 1945 an der nationalistischen Ideenwelt festgehalten haben. In seinen letzten Kapiteln nähert sich das Buch der Gegenwart, in der München seine Sonderstellung als Bergsteigerstadt gegen eine führende Rolle als Operationsbasis für Outdoor-Aktivisten eintauscht.
H.E.R.
"Im Zeichen des Edelweiß - Die Geschichte Münchens als Bergsteigerstadt" von Nicholas Mailänder. AS Verlag Zürich 2007. 416 Seiten, 230 Schwarzweiß- und Farbfotografien. Gebunden, 39,80 Euro. ISBN 3-909111-28-9
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"Am 9. Mai 1869 kamen 90 Alpenfreunde zusammen und gründeten die erste Sektion München des Deutschen Alpenvereins"