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Ovids Metamorphosen zählen zu den wirkungsmächtigsten Werken der Weltliteratur. Besonders ragen die Geschichten von Narcissus und Pygmalion hervor. Beide artikulieren auf eine teilweise komplementäre Weise komplexe Konfigurationen gleicher Elemente: Marmor(haut) und Fleisch, Eros, Täuschung, Bild, männlich-weiblich, Natur-Kultur, Leben-Tod und Sterben bzw. Verlebendigung als die Prozesse des Übergangs im Feld der Leben-Tod-Opposition. Die Autorin beschränkt sich auf die - zum Teil erst von ihr entdeckte - Pygmalionik- von vier Autoren: Winckelmann, Lessing, Herder und Klopstock. In den…mehr

Produktbeschreibung
Ovids Metamorphosen zählen zu den wirkungsmächtigsten Werken der Weltliteratur. Besonders ragen die Geschichten von Narcissus und Pygmalion hervor. Beide artikulieren auf eine teilweise komplementäre Weise komplexe Konfigurationen gleicher Elemente: Marmor(haut) und Fleisch, Eros, Täuschung, Bild, männlich-weiblich, Natur-Kultur, Leben-Tod und Sterben bzw. Verlebendigung als die Prozesse des Übergangs im Feld der Leben-Tod-Opposition. Die Autorin beschränkt sich auf die - zum Teil erst von ihr entdeckte - Pygmalionik- von vier Autoren: Winckelmann, Lessing, Herder und Klopstock. In den behandelten Arbeiten dieser Autoren figurieren direkte oder indirekte Pygmalionismen als Metaphern oder besser als theoretisches Modell eines neuen Denkens über das, was Betrachten, Lesen und Hören von Kunstwerken ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.1998

Marmor in Bewegung
Inka Mülder-Bach über Pygmalion im achtzehnten Jahrhundert

Viel besungen ist die Vorliebe des achtzehnten Jahrhunderts für Prometheus und seinen Sturmlauf gegen den Götterhimmel. Neben diesen lautstarken Aufrührer tritt für wenige Jahre eine leisere Figur, mit der die so kompliziert gewordene Kunst arbeitsteilig organisiert werden kann. Denn kaum interessiert Pygmalion als Bildhauer. Sein Auftritt beginnt erst nach Vollendung des Werks, wenn er den Meißel beiseite legt. Ihn hat die selbstgeschaffene Frauenstatue so bezaubert, daß er ihr nach der schönen Form nun bewegtes Leben schenken und so die Kunst vollenden will. Die im Abstand bewunderte Statue verwandelt sich in die unmittelbar berührte Geliebte, die den Künstler als Mann belohnt.

Es verwundert nicht, daß Theoretiker von Winckelmann bis Klopstock sich dieser Geschichte angenommen haben, die ihrer tagträumenden Allmacht so schmeichelt. Schließlich glichen sie dem Pygmalion, unter dessen beharrlichen Blicken das Werk zum Sprechen gebracht werden sollte. Für sie war das Faszinierende an diesem Mythos, daß er den eigentlichen Schöpfungsakt auf die Rezeptionsseite hin verschob. Von nun an gehörte der Interpret zum Werk, während der Autor ins transzendentale Abseits lief.

Inka Mülder-Bach wirft in ihrem Buch den pygmalionschen Blick auf poetologische Trockenblumen aus den Jahren 1750 bis 1770 und läßt sie wieder aufblühen. Vorgeführt wird das "close reading einiger weniger, zeitlich eng benachbarter Texte", in denen freilich nicht weniger verhandelt wird als die ganze Kunst. Denn Pygmalion ist auch eine Allegorie der soeben erfundenen Ästhetik: Am mythischen Bild seiner Statuenbelebung lassen sich vom Zeichenbegriff bis zur Geschlechterdifferenz alle Generalthemen der Moderne nachzeichnen.

Winckelmann - den Goethe zum Namensgeber eines ganzen Jahrhunderts ausrief - verdankt die Poetik den wiederentdeckten Pygmalion, den seine Nachfahren schreibend imitieren wollen. Daß seine Anstrengung "erotischer Rekreation" dem gleichgeschlechtlichen Apollo von Belvedere gehört, hat den Klassizismus nicht von Übernahmen abgehalten. Winckelmann stimuliert seinen schöpferischen Eros, um die geschädigten Torsi sprachlich zu vervollständigen. Nur im Pathos der Worte verwandelt sich der faktisch ruinöse Körper in einen griechischen zurück. Der Torso provoziert das Erlebnis berührbarer Antike, weil er selbst vergessen werden soll. Die Beschreibung löscht ihren Gegenstand aus.

Winckelmanns Pygmalionik wird von Mülder-Bach an den Anfang einer Auslegungstradition gesetzt, die ihren Urheber überwinden muß. Lessing, Herder, Klopstock - die Dreiuneinigkeit dieses Buches - retten die Kunst vor ihrem Mythos. Während Winckelmann die Stofflichkeit des Steins imaginativ auflöst und das Material an die Idee verrät, wollen sie das Leben im Stein selbst anschauen. Ihnen geht es um die Ansichtigkeit des Kunstwerks, nicht um die klassizistische Durchsicht auf das Ideal. Dieser Gegensatz kann nicht scharf genug markiert werden, weil Mülder-Bach ihm die These vom Ende der Repräsentation auflastet. Deren Schicksal und das klassische Zeitalter hatten sich an die Vorstellung gebunden, die Vollkommenheit eines Zeichens offenbare sich in seiner Transparenz auf den einen Sinn. Die Funktion des Zeichens ist damit seine Selbstauslöschung. Aus der materialen Asche der Phänomene tritt das eigentlich Gemeinte seine Himmelfahrt an. Seit Foucault weiß man, daß an dieser scheinbaren semiotischen Beiläufigkeit alle Autorität hängt. Hätte man eine Vorliebe für historische Tragik, dann wäre Winckelmanns Arbeit ein dankbares Sujet. Seine Wiederentdeckung des Pygmalion feiert ein letztes Mal die Zeichentransparenz im Ideal, um mit diesem Triumph ihrer Überwindung den Weg zu bereiten. Die Pygmalioniker der zweiten Generation sind Post-Klassiker, Nachkommen der trübe angelaufenen Repräsentation. Ihr Kampfruf gegen die bisherige Bescheidenheit des Zeichens lautet: "Darstellung".

In Lessings "Laokoon" spürt Mülder-Bach die Gründungsurkunde dieser modernen Darstellung auf, obwohl der Begriff hier ohne "theoretisch markantes Profil" daherkommt: pränatale Begriffsgeschichte. Oft schon gewürdigt (und auch kritisiert) wurde Lessings Leitdifferenz von sprachlicher Zeit- und malerischer Raumkunst. Mülder-Bach liest diesen kanonischen Text der Aufklärungspoetik deshalb genau, um aus seinem groben Schema die feine Nuance abzudestillieren: Lessings Anerkennung der Kunstmedialität bringe diese nicht zum Verschwinden, sondern werte sie zur Bedingung lebendiger Wirkung auf. Leben gewinnt die Kunst nicht jenseits der Zeichen, sondern in ihnen. Dabei tritt die erfundene Welt der Kunst zu einer außersprachlichen nicht länger in ein konkurrierendes oder nachzeitiges Verhältnis. Die Rechtfertigung vor der Wirklichkeit, die alle Kunst seit Plato dem Betrugsverdacht aussetzte, entfällt. Statt dessen darf man sich vollständig illudiert den Zeichen hingeben, weil ihr Eigenleben dramatisch zu fesseln vermag. Lessing inszeniert das Kunstwerk als Theater der Worte und Gesten, deren mächtiger Gegenwart der Zuschauer gerne erliegt.

Mit Herder geht die Pygmalionik aufs Ganze. Anthropologie nennt sich das Projekt, den Menschen wieder vom Denken auf seine Erfahrungssinne zu stellen. Dafür sind in der Kunstwerkstatt die Folgen eines Zivilisationsunfalls zu beheben, den nur das Auge der Vernunft unbeschadet überstanden hat. Herders Geschichtsbild ist ebenso zweiwertig im Aufbau wie eindeutig in der Wertung: Am Anfang war das Sein, und das Sein war ungeschieden, merkmalreich und gut. Alle Sinne machten es erfahrbar, kein Wort konnte es erfassen. Mit der Zeit geht diese ganze Wirklichkeit verloren, bis Auge, Schrift und Philosophie sich die Dinge endgültig vom Leib halten. In dieser Sinnesquarantäne wirkt die Statue wie Konterbande aus einer besseren Vergangenheit. Ihren Formen - nackt und weiblich - ist mit der Hand solange nachzugleiten, bis man Fleisch zu fühlen scheint. Nur der Betaster einer Plastik erlebt die Rückkehr ins verlorene Paradies. Seine Hand erinnert sich wieder einer Zeit, deren Verlust der Geschichtsphilosoph allein betrauern kann. Er ist der umgekehrte Pygmalion, dem die Statue vergangenes Leben einhaucht.

Mülder-Bach schreibt die Geschichte der "Darstellung" als Erweckungserlebnis. Weil der Begriff erstmals bei Klopstock zu theoretischer Würde und poetischer Anwendung durchbricht, muß ihm eine Inkubationszeit vorausgehen. Tatsächlich gehört das Aufspüren der Moderne in scheinbar altmodischen Oden zu den stärksten Kapiteln des Buches. Klopstock nimmt die Leiblichkeit der Sprache beim Wort und will den Vers das Tanzen lehren. Aus dem Rhythmus des Vortrags und den Notationssystemen seiner "Metaphysik der Metrik" ist die Leidenschaft herauszuhören, die den Wortfolgen selbst innewohnt. Der Vers hat Leben, aber er beschreibt keines mehr. Wer auf die Stimme horcht, erfährt den heiligen Moment, wenn die Statue zum Leben erwacht. Herder wußte, daß die Wissenschaft vom Schönen selbst nicht mehr schön sein kann. Die Lektüre des Buches kann für diesen Mangel entschädigen. Aufregend ist diese Mikrophilologie für alle, die das fugenlose Gleiten der Argumentation der himmelstürmenden Behauptung vorziehen. An Texten und Statuen arbeitet hier der Feinmeißel so lange, bis der Leser den Marmorstaub im Mund zu spüren meint. Schmecken kann er dort Erkenntnis. THOMAS WIRTZ

Inka Mülder-Bach: "Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ,Darstellung' im 18. Jahrhundert". Wilhelm Fink Verlag, München 1998, 254 S., br., 68,- DM.

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