Es gibt wohl kein Kunstwerk, zu dem im Laufe der Jahrhunderte mehr Interpretationen erschienen sind als zu Albrecht Dürers Kupferstich »Melencolia I« von 1514. Wenn nun nach exakt 500 Jahren ein weiterer Deutungsversuch erscheint, so darf man gespannt sein, was dieser dem Erkenntnisstand hinzufügen
kann; immerhin hat sich die Elite der Kunstgeschichte (Justi, Wölfflin, Panofsky et al.) an diesem…mehrEs gibt wohl kein Kunstwerk, zu dem im Laufe der Jahrhunderte mehr Interpretationen erschienen sind als zu Albrecht Dürers Kupferstich »Melencolia I« von 1514. Wenn nun nach exakt 500 Jahren ein weiterer Deutungsversuch erscheint, so darf man gespannt sein, was dieser dem Erkenntnisstand hinzufügen kann; immerhin hat sich die Elite der Kunstgeschichte (Justi, Wölfflin, Panofsky et al.) an diesem Werk abgearbeitet. Der Autor versucht, Zugang zu dem immer noch in vielen Aspekten rätselhaft gebliebenen Denkbild nicht wie üblich über die dominierende geflügelte Hauptfigur, sondern über den Putto zu gewinnen. Dieser Weg erscheint legitim, zumal die wohlgenährt pausbäckige Figur mit den Stummelflügeln zwar selten das eingehende Interesse der Betrachter gefunden hat, aber ohne Zweifel von Dürer durch seine Position im Goldenen Schnitt des Stiches exponiert und zentral plaziert wurde. Während der Putto bisher überwiegend als die aktive Gegenfigur (»schreibend, kritzelnd, emsig«) zur geflügelten Melancholie stilisiert wurde, kann Hoffmann durch seine akribische Beschreibung plausibel zeigen, dass der Putto mit seinem verfinsterten Blick (facies nigra) eher als ein Putto melancholicus zu interpretieren ist. Und über die Beobachtung des Stillstands, der Ereignislosigkeit und der unaufklärbaren Lichtverhältnisse im Dürerblatt kommt Hoffmann zum Ergebnis, dass die Szenerie der »Melencolia I« mit dem Begriff "Im Zwielicht" am aufschlussreichsten beschrieben ist.
Indem er zuletzt seine Deutung (3. Kap.) der allegorischen Melencolia mit theoretischen Schriften des wohl zeitweilig von Schwermut geplagten Künstlers Dürer parallelisiert, erweist sich dem Autor der meisterhafte Stich nicht als Personifikation eines melancholischen Temperaments, sondern als Ausdruck einer ambivalenten Erfahrung, einer existenziellen Grenzerfahrung: zur absoluten Wahrheit kann der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit trotz allen Wissens und Könnens nicht gelangen. Zwar hatte auch Panofsky bereits diese melancholische Verzweiflung in dem Kupferstich gelesen, aber Hoffmann möchte auf die lichte Seite (»wo Schatten ist, da ist auch Licht«), die sich vor allem im "hellen, offenen, ... und gedankenvoll nach innen gerichteten Blick" der Melencolia zeige, mehr Aufmerksamkeit lenken.
Die Studie wendet sich zunächst (auch sprachlich) an Dürerspezialisten und Kunsthistoriker, wie bereits das Übergewicht an Fußnoten plus Bibliografie von 100 Seiten deutlich macht, aber auch der am Phänomen der Melancholie allgemein Interessierte wird von der Lektüre angeregt, selbst wenn er nicht jeder Assoziation des Autors folgen wird.
Das Buch ist sorgfältig ediert, u.a. mit hilfreichen Detailansichten angereichert und eine Ausfaltseite erlaubt bei der Lektüre stets einen gleichzeitigen Blick auf den Stich.