Interviews mit Palästinensern, Muslimen und Kabylen in den Einwanderungsländern Deutschland und Frankreich zeigen, wie sich über den palästinensischen Nationalismus, über den Islam beziehungsweise über die kabylische Sprachkultur eine imaginierte Gemeinschaft und damit Zugehörigkeiten herausbilden. Dabei entstehen Kritikpotenziale, die die Immigrationsgeschichte europäischer Nationalstaaten in den Kontext von rechtlichen, ökonomischen und sozialen Ungleichheiten wie auch Ungerechtigkeiten stellen.
Das herausragende Verdienst der vorliegenden Studie ist es, Formen der Kritik in Zugehörigkeitskonstruktionen herauszuarbeiten und aufzuzeigen, dass die Nachkommen der Einwanderer normative Grundsätze und institutionalisierte Standards hinterfragen und dynamisieren. Ob diese Kritik in der Diskussion über eine gerechte Gesellschaftsordnung gehört oder anerkannt wird, ist eine der zentralen Frage künftiger Diskussionen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Das herausragende Verdienst der vorliegenden Studie ist es, Formen der Kritik in Zugehörigkeitskonstruktionen herauszuarbeiten und aufzuzeigen, dass die Nachkommen der Einwanderer normative Grundsätze und institutionalisierte Standards hinterfragen und dynamisieren. Ob diese Kritik in der Diskussion über eine gerechte Gesellschaftsordnung gehört oder anerkannt wird, ist eine der zentralen Frage künftiger Diskussionen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2012Bewegung im Spannungsfeld
Einwanderer-Empfinden
Nikola Tietze hat 76 Palästinenser, Muslime und Kabylen in Deutschland und Frankreich interviewt, um herauszufinden, worüber sie Gemeinschaft, Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit definieren beziehungsweise empfinden. Sie sucht nach Handlungsrationalitäten und normativen Ordnungen, nach der Kritik der Nachkommen von Einwanderern an den Herrschaftsverhältnissen in ihren Einwanderungsgesellschaften sowie nach Bedingungen individueller Autonomie und Gleichbehandlung. So ist sie zwischen 2003 und 2007 auf imaginierte Gemeinschaften des palästinensischen Nationalismus, des Islams und der kabylischen Sprachkultur als "transnationaler Zugehörigkeitskonstruktionen" gestoßen, die in einem offenen Prozess individuell, eklektisch und variabel zusammengesetzt werden. "Mit der Herausbildung von Zugehörigkeiten entstehen Kritikpotentiale, die die Immigrationsgeschichte europäischer Nationalstaaten in den Kontext von rechtlichen, ökonomischen und sozialen Ungleichheiten wie auch Ungerechtigkeiten stellen."
Dass sich diese Aussage jenseits soziologischer Fachdiskurse nicht unmittelbar erschließt, verweist auf ein Problem des Buches: eine schwer nachvollziehbare Begrifflichkeit. Dass Einwanderung der fünfziger und sechziger Jahre pauschal als "postkolonial" bezeichnet wird, "weil sie globalgeschichtlich gesehen in den Zeitabschnitt der kolonialen Unabhängigkeit fällt", ist für die Einwanderung nach Deutschland gerade nicht signifikant. Lesenswertes bietet die Darstellung zum Umgang mit Muslimen unter territorialstaatlichen Gesichtspunkten im deutsch-französischen Vergleich und im Spannungsfeld von Nations-Verständnissen zwischen Willens- und Kulturgemeinschaft - auch über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts von 2000 hinaus, wie der Streit um das Kopftuchverbot zeigt. Dokumentiert werden die Volten deutscher Politik gegenüber Einwanderern und dem Islam: Zunächst wurde muttersprachlicher Unterricht unterstützt, um die Rückkehrbereitschaft zu fördern. Inzwischen wird der Gebrauch der Muttersprache als Integrationshindernis abgelehnt, was für keine deutsche Familie im Ausland so gesehen würde.
Die deutsche und französische Integrations-, Religions- und Sprachpolitik diene dazu, so eine These des Buches, das kritische Potential der Zugehörigkeitskonstruktionen dieser Einwanderungsgruppen abzublocken und zu zerstören. Zugleich besäßen diese "keine klare Kontur", verbänden vielmehr Kritik und Bestätigung der Herrschaftsverhältnisse in den Einwanderungsgesellschaften und bewirkten "also weder eindeutige emanzipatorische Momente noch ein eindeutiges postkoloniales empowerment". Dass diese Befunde anstelle eines Resümees "mithilfe des Dribblings von Zinedine Zidane" - dessen Biographie das gesamte Buch inspiriert - "in Bewegung gebracht, charakterisiert und in ein Verhältnis zu europäischen Normen sowie zur Staats- und Verwaltungspolitik in Deutschland und Frankreich gestellt" werden, ist zwar metaphorisch originell, hilft aber nicht wirklich, das Runde ins Eckige zu bringen.
ANDREAS RÖDDER
Nikola Tietze: Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft. Hamburger Edition., Hamburg 2012. 494 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einwanderer-Empfinden
Nikola Tietze hat 76 Palästinenser, Muslime und Kabylen in Deutschland und Frankreich interviewt, um herauszufinden, worüber sie Gemeinschaft, Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit definieren beziehungsweise empfinden. Sie sucht nach Handlungsrationalitäten und normativen Ordnungen, nach der Kritik der Nachkommen von Einwanderern an den Herrschaftsverhältnissen in ihren Einwanderungsgesellschaften sowie nach Bedingungen individueller Autonomie und Gleichbehandlung. So ist sie zwischen 2003 und 2007 auf imaginierte Gemeinschaften des palästinensischen Nationalismus, des Islams und der kabylischen Sprachkultur als "transnationaler Zugehörigkeitskonstruktionen" gestoßen, die in einem offenen Prozess individuell, eklektisch und variabel zusammengesetzt werden. "Mit der Herausbildung von Zugehörigkeiten entstehen Kritikpotentiale, die die Immigrationsgeschichte europäischer Nationalstaaten in den Kontext von rechtlichen, ökonomischen und sozialen Ungleichheiten wie auch Ungerechtigkeiten stellen."
Dass sich diese Aussage jenseits soziologischer Fachdiskurse nicht unmittelbar erschließt, verweist auf ein Problem des Buches: eine schwer nachvollziehbare Begrifflichkeit. Dass Einwanderung der fünfziger und sechziger Jahre pauschal als "postkolonial" bezeichnet wird, "weil sie globalgeschichtlich gesehen in den Zeitabschnitt der kolonialen Unabhängigkeit fällt", ist für die Einwanderung nach Deutschland gerade nicht signifikant. Lesenswertes bietet die Darstellung zum Umgang mit Muslimen unter territorialstaatlichen Gesichtspunkten im deutsch-französischen Vergleich und im Spannungsfeld von Nations-Verständnissen zwischen Willens- und Kulturgemeinschaft - auch über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts von 2000 hinaus, wie der Streit um das Kopftuchverbot zeigt. Dokumentiert werden die Volten deutscher Politik gegenüber Einwanderern und dem Islam: Zunächst wurde muttersprachlicher Unterricht unterstützt, um die Rückkehrbereitschaft zu fördern. Inzwischen wird der Gebrauch der Muttersprache als Integrationshindernis abgelehnt, was für keine deutsche Familie im Ausland so gesehen würde.
Die deutsche und französische Integrations-, Religions- und Sprachpolitik diene dazu, so eine These des Buches, das kritische Potential der Zugehörigkeitskonstruktionen dieser Einwanderungsgruppen abzublocken und zu zerstören. Zugleich besäßen diese "keine klare Kontur", verbänden vielmehr Kritik und Bestätigung der Herrschaftsverhältnisse in den Einwanderungsgesellschaften und bewirkten "also weder eindeutige emanzipatorische Momente noch ein eindeutiges postkoloniales empowerment". Dass diese Befunde anstelle eines Resümees "mithilfe des Dribblings von Zinedine Zidane" - dessen Biographie das gesamte Buch inspiriert - "in Bewegung gebracht, charakterisiert und in ein Verhältnis zu europäischen Normen sowie zur Staats- und Verwaltungspolitik in Deutschland und Frankreich gestellt" werden, ist zwar metaphorisch originell, hilft aber nicht wirklich, das Runde ins Eckige zu bringen.
ANDREAS RÖDDER
Nikola Tietze: Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft. Hamburger Edition., Hamburg 2012. 494 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main