Jonathan Lear's insightful meditation joins the end of the world to the end-that is, the purpose-of living. How to persist in the face of planetary catastrophe and the realization that even cultures can die? Lear sees in mourning an avenue of thriving and turns to a handful of moral exemplars to refine our sense of the good we can yet achieve.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2023Das Licht am Ende der Geschichte
Welche Perspektive bleibt in einer Zeit der Zukunftsangst? Der Philosoph Jonathan Lear beschwört die Kraft des Trauerns
Es beginnt mit einem Witz. Nach einer Vorlesung über den Klimawandel, die Jonathan Lear besucht, steht eine junge Akademikerin auf und erklärt: „Lasst mich euch etwas sagen: Man wird uns nicht vermissen!“ Das Publikum lacht. Doch was ist lustig an der Vorstellung, dass die Menschheit nicht nur ihr eigenes Ende herbeiführt, sondern keine andere, überlebende Art ihr eine Träne nachweint? Natürlich, der Witz ist, dass mit dem Aussterben der Menschen auch die ihnen eigene Fähigkeit des Vermissens vom Erdboden verschwände, das Trauern. Aufgrund ihres zerstörerischen Treibens haben die Menschen es nicht nur nicht verdient, betrauert zu werden – es wäre auch schlicht niemand mehr da, der dies tun könnte. Ist das aber ein Grund zu lachen?
Das fragt sich Jonathan Lear, der an der University of Chicago Philosophie und Politisches Denken lehrt, in seinem neuen Buch „Imagining the End“, das noch nicht auf Deutsch vorliegt. Sieben lose verbundene Essays untersuchen darin die Situation der Menschheit an einem „Ende der Geschichte“, das sich ganz anders ausnimmt als 1992 in Francis Fukuyamas gleichnamigem und epochemachendem Buch: Statt ihren Vormarsch als ultimative Form der politischen Organisation fortzusetzen, hat die liberale Demokratie sich an den Abgrund ihrer eigenen Existenzgrundlage manövriert. Neben dem Klimawandel und der Pandemie zeugen davon der Aufschwung des Nationalismus und die autokratischen Allüren eines Trump oder Bolsonaro – die womöglich nur für den Moment gebannt scheinen.
Dass sich in dieser Lage tief greifende Desillusion breitmacht, kann nicht verwundern. Wie der Soziologe Philipp Staab in seinem Buch „Anpassung“ diagnostiziert, hegt die junge Generation selbst hierzulande bescheidene Hoffnungen auf die Zukunft: Sie verspricht sich nicht länger Selbstentfaltung, sondern ist vor allem mit Selbsterhaltung beschäftigt. Das Leitmotiv des Fortschritts hat die Tragkraft von Jahrhunderten eingebüßt.
Ob Lear das ahnte, als 2006 sein Buch „Radikale Hoffnung“ erschien, dessen späte Übersetzung vor zwei Jahren die deutschen Sachbuch-Bestenlisten eroberte? Rezensenten jedenfalls bemerkten, die darin erzählte Geschichte der Crow-Indianer lese sich wie eine Allegorie auf unsere Zeit: Im späten 19. Jahrhundert trieben die europäischen Siedler die nordamerikanischen Büffelherden an den Rand der Ausrottung und raubten dem Stamm damit die Grundlage seiner nomadischen Lebensweise und Kultur. In den Worten des Häuptlings Plenty Coups: „Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen.“ Das Ende der Geschichte – nicht das selbst verschuldete der Menschheit, doch das fremdverschuldete einer Kultur.
Statt gegen die übermächtigen Weißen zu kämpfen, führte Plenty Coups seinen Stamm ins Reservat. Darin sieht Lear jedoch keine bloße Resignation, sondern einen Akt der Hoffnung – darauf, dass die Crow in ungewisser Zukunft zu einer Lebensweise zurückkehren können, die ihnen entspricht. Doch hat das Prinzip Hoffnung auch im trüben Licht von Pandemie und Klimawandel noch Konjunktur? Der Titel von Lears neuem Buch klingt wie ein Eingeständnis, zumal es diesmal ums Trauern geht. Doch der Professor von der Universität Chicago weiß zu überraschen. Das Trauern ist ihm nicht vor allem Ausdruck von Negativem, sondern eine Form der Gesundheit: Im Verlustschmerz suchen wir die Heilsamkeit der Bedeutung. Dies beschränkt sich nicht auf Unglücksfälle, sondern stellt ein grundlegendes Muster menschlicher Entwicklung dar: Wir müssen immer wieder den Abgrund zwischen unserem Innern und der Außenwelt überbrücken und uns dabei von liebgewonnenen Vorstellungen verabschieden.
Was wird die Menschheit auf diese Weise hinter sich lassen müssen? Lear, der eine Zusatzausbildung in Psychoanalyse hat, greift Freuds Essay „Vergänglichkeit“ auf. Dieser sucht mitten im Ersten Weltkrieg einen Umgang mit der desillusionierenden Zerstörung des Fortschrittsglaubens – was einer gewissen Allegorie wiederum nicht entbehrt: Auch im Anthropozän müssen wir die Vorstellung aufgeben, die Natur durch menschgemachte Technik beherrschen zu können. Gleiches gilt für Landstriche, Arten und Lebensweisen. Doch sollten wir, fragt Lear erneut mit Freud, deshalb der Melancholie verfallen und ungesunden Vorstellungen verhaften? Oder entscheiden wir uns zu trauern – um gestärkt daraus hervorzugehen, mit einem geläuterten Blick auf die Wirklichkeit und mit neuem Handlungswillen?
Lears Antwort wird deutlich in der weiteren Auslegung des Witzes, die in dessen Widerlegung mündet: Er entlarvt die Gespaltenheit seiner Erzählerin, die als Teil der Menschheit eine Mitschuld trägt und sich als selbsternannte Richterin zugleich darüber erhebt. Die Misanthropie ihrer Darstellung verdeckt die Schönheit, die Güte und Errungenschaften, derer die Menschheit auch fähig ist. Statt sich auf eine Seite zu schlagen will Lear menschliche Ambivalenz zulassen und sich im Trauern durch sie hindurchbewegen. Das bedeutet nicht, Fehltaten zu verleugnen, wie sein Essay über Gettysburg beweist, den Ort einer der blutigsten Schlachten im amerikanischen Bürgerkrieg: Allein die gefallenen Soldaten der siegreichen Nordstaaten wurden dort begraben, nicht die der Konföderierten. Abraham Lincoln hielt seine berühmte Rede über die Prinzipien amerikanischer Demokratie anlässlich der Einweihung des Friedhofs in einem Panorama verstreuter Feindesleichen. Welches Recht, fragt Lear, ist damit getan, einem Toten die Trauer zu verwehren? Keinesfalls sollen die Südstaatler glorifiziert werden, genauso wenig wie die Menschheit, die tiefe Narben in der Natur hinterlässt. Doch es schließt sich nicht aus, ihre fundamentale Würde anzuerkennen und sie gleichzeitig als Fehlgeleitete zu benennen. Wie sonst können und sollen wir aus ihren Taten lernen?
Diese Botschaft überbringt Jonathan Lear in einer zugänglichen, aber eigenwilligen Sprache zwischen Philosophie und Psychoanalytik. Aus ihrer Präzision klingt eine Einfühlsamkeit, die gesättigt ist mit Lebens- und Denkerfahrung. Liest man das Buch langsam, in dem ihm gemäßen Tempo, zergeht diese Sprache in Geist und Herz. Man kann einwenden, dass das nicht reicht. Was sollen wir den Opfern des Klimawandels, der Pandemie, weltweiter Kriege und Armut erzählen? Trauer erreicht ihre Grenze, wo politische Maßnahmen beginnen. Sie als Ausweg aus der „Schwierigkeit der Wirklichkeit“ zu bemühen, wäre zu einfach, wie Lear mit der Philosophin Cora Diamond schreibt. Doch insofern unser Blick auf die Zukunft – wie verschwommen auch immer – unser Verhalten beeinflusst, ist Trauern eminent politisch: Aus ihm kann Hoffnung erst erwachsen, der fortgesetzte Glaube an die Möglichkeit des Guten.
NIKLAS ELSENBRUCH
Jonathan Lear: Imagining the End. Mourning and Ethical Life. Harvard University Press, Cambridge 2022. 176 Seiten, 28 Euro.
Jonathan Lear, geboren 1948, lehrt Philosophy und Politisches Denken an der University of Chicago.
Foto: Erielle Bakkum
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Welche Perspektive bleibt in einer Zeit der Zukunftsangst? Der Philosoph Jonathan Lear beschwört die Kraft des Trauerns
Es beginnt mit einem Witz. Nach einer Vorlesung über den Klimawandel, die Jonathan Lear besucht, steht eine junge Akademikerin auf und erklärt: „Lasst mich euch etwas sagen: Man wird uns nicht vermissen!“ Das Publikum lacht. Doch was ist lustig an der Vorstellung, dass die Menschheit nicht nur ihr eigenes Ende herbeiführt, sondern keine andere, überlebende Art ihr eine Träne nachweint? Natürlich, der Witz ist, dass mit dem Aussterben der Menschen auch die ihnen eigene Fähigkeit des Vermissens vom Erdboden verschwände, das Trauern. Aufgrund ihres zerstörerischen Treibens haben die Menschen es nicht nur nicht verdient, betrauert zu werden – es wäre auch schlicht niemand mehr da, der dies tun könnte. Ist das aber ein Grund zu lachen?
Das fragt sich Jonathan Lear, der an der University of Chicago Philosophie und Politisches Denken lehrt, in seinem neuen Buch „Imagining the End“, das noch nicht auf Deutsch vorliegt. Sieben lose verbundene Essays untersuchen darin die Situation der Menschheit an einem „Ende der Geschichte“, das sich ganz anders ausnimmt als 1992 in Francis Fukuyamas gleichnamigem und epochemachendem Buch: Statt ihren Vormarsch als ultimative Form der politischen Organisation fortzusetzen, hat die liberale Demokratie sich an den Abgrund ihrer eigenen Existenzgrundlage manövriert. Neben dem Klimawandel und der Pandemie zeugen davon der Aufschwung des Nationalismus und die autokratischen Allüren eines Trump oder Bolsonaro – die womöglich nur für den Moment gebannt scheinen.
Dass sich in dieser Lage tief greifende Desillusion breitmacht, kann nicht verwundern. Wie der Soziologe Philipp Staab in seinem Buch „Anpassung“ diagnostiziert, hegt die junge Generation selbst hierzulande bescheidene Hoffnungen auf die Zukunft: Sie verspricht sich nicht länger Selbstentfaltung, sondern ist vor allem mit Selbsterhaltung beschäftigt. Das Leitmotiv des Fortschritts hat die Tragkraft von Jahrhunderten eingebüßt.
Ob Lear das ahnte, als 2006 sein Buch „Radikale Hoffnung“ erschien, dessen späte Übersetzung vor zwei Jahren die deutschen Sachbuch-Bestenlisten eroberte? Rezensenten jedenfalls bemerkten, die darin erzählte Geschichte der Crow-Indianer lese sich wie eine Allegorie auf unsere Zeit: Im späten 19. Jahrhundert trieben die europäischen Siedler die nordamerikanischen Büffelherden an den Rand der Ausrottung und raubten dem Stamm damit die Grundlage seiner nomadischen Lebensweise und Kultur. In den Worten des Häuptlings Plenty Coups: „Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen.“ Das Ende der Geschichte – nicht das selbst verschuldete der Menschheit, doch das fremdverschuldete einer Kultur.
Statt gegen die übermächtigen Weißen zu kämpfen, führte Plenty Coups seinen Stamm ins Reservat. Darin sieht Lear jedoch keine bloße Resignation, sondern einen Akt der Hoffnung – darauf, dass die Crow in ungewisser Zukunft zu einer Lebensweise zurückkehren können, die ihnen entspricht. Doch hat das Prinzip Hoffnung auch im trüben Licht von Pandemie und Klimawandel noch Konjunktur? Der Titel von Lears neuem Buch klingt wie ein Eingeständnis, zumal es diesmal ums Trauern geht. Doch der Professor von der Universität Chicago weiß zu überraschen. Das Trauern ist ihm nicht vor allem Ausdruck von Negativem, sondern eine Form der Gesundheit: Im Verlustschmerz suchen wir die Heilsamkeit der Bedeutung. Dies beschränkt sich nicht auf Unglücksfälle, sondern stellt ein grundlegendes Muster menschlicher Entwicklung dar: Wir müssen immer wieder den Abgrund zwischen unserem Innern und der Außenwelt überbrücken und uns dabei von liebgewonnenen Vorstellungen verabschieden.
Was wird die Menschheit auf diese Weise hinter sich lassen müssen? Lear, der eine Zusatzausbildung in Psychoanalyse hat, greift Freuds Essay „Vergänglichkeit“ auf. Dieser sucht mitten im Ersten Weltkrieg einen Umgang mit der desillusionierenden Zerstörung des Fortschrittsglaubens – was einer gewissen Allegorie wiederum nicht entbehrt: Auch im Anthropozän müssen wir die Vorstellung aufgeben, die Natur durch menschgemachte Technik beherrschen zu können. Gleiches gilt für Landstriche, Arten und Lebensweisen. Doch sollten wir, fragt Lear erneut mit Freud, deshalb der Melancholie verfallen und ungesunden Vorstellungen verhaften? Oder entscheiden wir uns zu trauern – um gestärkt daraus hervorzugehen, mit einem geläuterten Blick auf die Wirklichkeit und mit neuem Handlungswillen?
Lears Antwort wird deutlich in der weiteren Auslegung des Witzes, die in dessen Widerlegung mündet: Er entlarvt die Gespaltenheit seiner Erzählerin, die als Teil der Menschheit eine Mitschuld trägt und sich als selbsternannte Richterin zugleich darüber erhebt. Die Misanthropie ihrer Darstellung verdeckt die Schönheit, die Güte und Errungenschaften, derer die Menschheit auch fähig ist. Statt sich auf eine Seite zu schlagen will Lear menschliche Ambivalenz zulassen und sich im Trauern durch sie hindurchbewegen. Das bedeutet nicht, Fehltaten zu verleugnen, wie sein Essay über Gettysburg beweist, den Ort einer der blutigsten Schlachten im amerikanischen Bürgerkrieg: Allein die gefallenen Soldaten der siegreichen Nordstaaten wurden dort begraben, nicht die der Konföderierten. Abraham Lincoln hielt seine berühmte Rede über die Prinzipien amerikanischer Demokratie anlässlich der Einweihung des Friedhofs in einem Panorama verstreuter Feindesleichen. Welches Recht, fragt Lear, ist damit getan, einem Toten die Trauer zu verwehren? Keinesfalls sollen die Südstaatler glorifiziert werden, genauso wenig wie die Menschheit, die tiefe Narben in der Natur hinterlässt. Doch es schließt sich nicht aus, ihre fundamentale Würde anzuerkennen und sie gleichzeitig als Fehlgeleitete zu benennen. Wie sonst können und sollen wir aus ihren Taten lernen?
Diese Botschaft überbringt Jonathan Lear in einer zugänglichen, aber eigenwilligen Sprache zwischen Philosophie und Psychoanalytik. Aus ihrer Präzision klingt eine Einfühlsamkeit, die gesättigt ist mit Lebens- und Denkerfahrung. Liest man das Buch langsam, in dem ihm gemäßen Tempo, zergeht diese Sprache in Geist und Herz. Man kann einwenden, dass das nicht reicht. Was sollen wir den Opfern des Klimawandels, der Pandemie, weltweiter Kriege und Armut erzählen? Trauer erreicht ihre Grenze, wo politische Maßnahmen beginnen. Sie als Ausweg aus der „Schwierigkeit der Wirklichkeit“ zu bemühen, wäre zu einfach, wie Lear mit der Philosophin Cora Diamond schreibt. Doch insofern unser Blick auf die Zukunft – wie verschwommen auch immer – unser Verhalten beeinflusst, ist Trauern eminent politisch: Aus ihm kann Hoffnung erst erwachsen, der fortgesetzte Glaube an die Möglichkeit des Guten.
NIKLAS ELSENBRUCH
Jonathan Lear: Imagining the End. Mourning and Ethical Life. Harvard University Press, Cambridge 2022. 176 Seiten, 28 Euro.
Jonathan Lear, geboren 1948, lehrt Philosophy und Politisches Denken an der University of Chicago.
Foto: Erielle Bakkum
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