"Uns bleibt immer noch Paris", sagt Humphrey Bogart zu Ingrid Bergman auf dem Rollfeld in "Casablanca". Die Hoffnung, dass das Glück auf Erden doch einen Ort haben könnte, und dass eben dieser Ort Paris sei, zieht sich durch die Berichte nicht nur der Paris-Reisenden dreier Jahrhunderte und wird, zeitgemäß variiert, auch heute noch von Millionen Touristen als Wunsch im Gepäck mitgeführt. Die Freiheit, die Moderne, der Luxus, die Moden, die Liebe - gerade die Deutschen suchen hartnäckig in Paris, was zu Hause nicht zu finden ist. Zugleich versuchen sie sich im Fremden des Eigenen zu versichern und reflektierend den Geist der Zeit zu erfassen - auch das ein Glück. Die großen Paris-Deutungen, die auf diese Weise entstanden, sind der Gegenwart weit hinterher. Das vorliegende Buch sucht sie zur gegenwärtigen Wirklichkeit von Paris, zu Pariser Wirklichkeiten in produktive Spannung zu setzen. Besichtigt werden klassische Pariser Erinnerungsorte wie der Eiffelturm oder Notre-Dame, die ein Geschichtsverhältnis repräsentieren, wie man es in Deutschland vergeblich sucht. Besichtigt werden im Westen die Champs-Elysees, der Ort nationaler Repräsentation und weltstädtischen Luxus, aber auch der Vermassung. Wir werden durch die Problemviertel des Nordens wie Barbes und die Goutte d`Or geführt, wo die Stadt immer neue Immigranten aufnimmt, ohne Ghettos zu bilden. Besichtigt wird der neue Osten, wo mit der Bibliotheque Nationale ein ganz neues Stadtviertel entsteht, das Quartier Latin und das Marais, Viertel, in denen die Entwicklungen der französischen Gesellschaft sichtbar und spürbar werden. Karl Heinz Götze bringt die zentralen Orte von Paris zum Sprechen. Der zufällige Blick wird zur historischen Reflexion, die Reportage verdichtet sich zu einem Porträt des gegenwärtigen Paris, das kein Museum ist, sondern eine lebendige Stadt in unaufhörlicher Bewegung, die - wie vielleicht keine andere europäische Stadt - Altes und Neues verbindet, ohne das Alte zum Verschwinden zuingen.
Eine Stadtführung der besonderen Art
Sie waren noch nie in Paris? Sie kennen Paris längst? Egal, wie Sie antworten: Das Buch steigert die Lust, diese europäischste aller Metropolen endlich einmal oder wieder einmal zu besuchen. Das ist das Beste, was man von einem "Stadtführer der besonderen Art" sagen kann. Apropos Stadtführer. Beim Durchblättern wird sofort klar: Ein Besuch unter dem Motto "Paris in fünf Stunden" ist damit nicht zu bestreiten. Die Fotos sind zu klein und "nur" schwarz-weiß, kein Kartenwerk dient als Lotse durch den Großstadtdschungel. Wer sich dennoch auf dieses Paris-Buch einlässt, wird seine helle Freude an dem besonderen Blickwinkel des Autors haben. Er verbindet, ohne zu belehren, Historie und Politik, Kulturkritik und Milieuschilderung.
Souvenirs, Souvenirs ...
Der deutsche Autor, er lehrt Deutsche Literatur und Zivilisation an der Universität Aix-en-Provence, kennt die Stadt seit nahezu 40 Jahren. Und er liebt sie. Deshalb sind seine Momentaufnahmen von magischen und weniger spektakulären Orten stets angereichert mit Gelesenem oder selbst Erlebtem. Es ist ein intelligentes Buch. Und es hat Charme. Ein Höhepunkt: das Kapitel über den sattsam bekannten Eiffelturm. Kein Buch über Paris - auch dieses nicht - ohne das Stahlskelett auf dem Titel, kein Film (Kameraleute und Fotografen reichen Adressen von freundlichen Mietern mit Blick auf den Turm angeblich nur unter der Hand weiter, wie kleine Kostbarkeiten), kein Souvenir, keine Postkarte, kein Erinnerungsfoto ohne das Bauwerk. "Das Symbol der Modernität altert nicht und kennt keine Pause."
Nicht irgendein Paris-Buch
Irgendwo im Buch fragt sich der Autor, warum er es eigentlich gewagt hat, ein weiteres Paris-Buch zu schreiben, angesichts der vielfältigen Literatur, den unzähligen Filmen und Beschreibungen, die die Stadt an der Seine aus allen erdenklichen Perspektiven beleuchten. Schön, dass Götze dieses Wagnis eingegangen ist.
(Roland Große Holtforth, literaturtest.de)
Sie waren noch nie in Paris? Sie kennen Paris längst? Egal, wie Sie antworten: Das Buch steigert die Lust, diese europäischste aller Metropolen endlich einmal oder wieder einmal zu besuchen. Das ist das Beste, was man von einem "Stadtführer der besonderen Art" sagen kann. Apropos Stadtführer. Beim Durchblättern wird sofort klar: Ein Besuch unter dem Motto "Paris in fünf Stunden" ist damit nicht zu bestreiten. Die Fotos sind zu klein und "nur" schwarz-weiß, kein Kartenwerk dient als Lotse durch den Großstadtdschungel. Wer sich dennoch auf dieses Paris-Buch einlässt, wird seine helle Freude an dem besonderen Blickwinkel des Autors haben. Er verbindet, ohne zu belehren, Historie und Politik, Kulturkritik und Milieuschilderung.
Souvenirs, Souvenirs ...
Der deutsche Autor, er lehrt Deutsche Literatur und Zivilisation an der Universität Aix-en-Provence, kennt die Stadt seit nahezu 40 Jahren. Und er liebt sie. Deshalb sind seine Momentaufnahmen von magischen und weniger spektakulären Orten stets angereichert mit Gelesenem oder selbst Erlebtem. Es ist ein intelligentes Buch. Und es hat Charme. Ein Höhepunkt: das Kapitel über den sattsam bekannten Eiffelturm. Kein Buch über Paris - auch dieses nicht - ohne das Stahlskelett auf dem Titel, kein Film (Kameraleute und Fotografen reichen Adressen von freundlichen Mietern mit Blick auf den Turm angeblich nur unter der Hand weiter, wie kleine Kostbarkeiten), kein Souvenir, keine Postkarte, kein Erinnerungsfoto ohne das Bauwerk. "Das Symbol der Modernität altert nicht und kennt keine Pause."
Nicht irgendein Paris-Buch
Irgendwo im Buch fragt sich der Autor, warum er es eigentlich gewagt hat, ein weiteres Paris-Buch zu schreiben, angesichts der vielfältigen Literatur, den unzähligen Filmen und Beschreibungen, die die Stadt an der Seine aus allen erdenklichen Perspektiven beleuchten. Schön, dass Götze dieses Wagnis eingegangen ist.
(Roland Große Holtforth, literaturtest.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Wenn die Originale gehen, bleiben die Originellen
Karl Heinz Götze braucht kein gutes Wort für die Stadt des Lichtes einzulegen, wir fühlen doch alle französisch / Von Joseph Hanimann
Der Eiffelturm auf dem Umschlag ist auch diesem Autor nicht erspart geblieben. Karl Heinz Götze macht aber heitere Miene zum unabwendbaren Spiel mit dem Klischee und hat dem Bauwerk gleich ein ganzes Kapitel gewidmet. Anders als die übrigen sieben Kapitelstreifzüge des Buchs führt dieser aber nicht unmittelbar an den Gegenstand heran, sondern hält ihn von Invalidendom, Rodin-Museum und Trocadéro aus gebührlich auf Distanz, so daß das Stahlrüschenwerk sich hübsch gegen den Pariser Himmel abheben kann. Das Buch ist sonst gerade anders herum geschrieben: ganz nah bei der langen Geschichte und den tausend flüchtigen Details einer bewunderten Stadt. Und ein bißchen lieben darf man, ganz wie Apollinaire, Robert Delaunay und all die übrigen Künstler, den Eiffelturm schon auch.
Den Rest der Stadt liebt Karl Heinz Götze, seines Zeichens Germanist und Gelegenheitsautor über französisches Essen, nicht so wie der routiniert weltläufige Reiseliteraturspezialist und auch nicht wie der von der fremden Pracht überwältigte Neuling. Das Buch ist offensichtlich das Ergebnis einer jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Beziehung, die Zärtlichkeit, Befremden, Begeisterung, Skepsis und leise Ironie gegenüber dem, was in der Stadt gleichbleibt und was sich ändert, mit einschließt. Diese zwischen Subjektivität und - meist in Nebensätzen untergebrachter - Informationsfülle flimmernde Darstellung reicht im Ton vom Privatjournal bis zur sachlichen Reportage. Weder ein Reiseführer noch eine historische Studie, weder eine datengespickte Analyse noch eine impressionistische Stadtbetrachtung ist dabei herausgekommen - und doch von allem ein bißchen.
Die Freude des Autors über die wunderbar halbperfekte Art, mit der in Frankreich und besonders in Paris immer noch Altes und Neues ineinanderwachsen, zeigt sich auf jeder Seite. So kann im Eingang eines prächtigen Stadtpalais die neue Stromleitung über Monate, ja über Jahre hin unverputzt herumbaumeln, weil ehrwürdig Gealtertes eben nicht vor der Alternative steht, überholt zu sein oder steril restauriert zu werden. Allen dargestellten Orten und Objekten gewährt der Autor überdies jenen Abstand, der ihnen einen Hauch Fremdheit beläßt und sich weder in exotisierender "Oh-là-là"-Euphorie noch in abgebrühter Besserwisserei und dem immer gerade passenden Geheimtip verausgabt. Das sanfte Schrittempo, mit dem die Arrondissements erkundet werden, läßt Zeit fürs Staunen, auch fürs eingestandene Unwissen vor den wohl berühmten, dem Autor aber ganz unbekannten Sängernamen auf den Plakaten von Barbès.
Im Massengeläuf der Champs-Elysées trübt sich der Flaneurblick des Autors gleichsam naturgemäß, weil die Sicht auf das Besondere nicht mehr möglich ist - und weil im Scheinluxus der großen Markennamen sich ohnehin nur noch der gängige Weltstandard findet. Der Besucher, auf der Place Vendôme noch ein Parvenu, ist als Konsument König auf den Champs-Elysées, wo mit großer Vergangenheit großräumig Massenware nobilitiert wird. Vielfalt ist da bei aller Vielfarbigkeit kaum zu finden. Der Spaziergänger Götze schlendert also weiter in den weniger prominenten Norden und Osten der Stadt.
Zu den besten Stellen des Buchs gehören die mit subtiler Beobachtung geknüpften Entsprechungen zwischen dem von Nord- und Schwarzafrikanern geprägten Barbès-Viertel am Fuß des Montmartre und dem asiatisch bestimmten Tolbiac im dreizehnten Arrondissement. Die Zukunft wird an diesen Orten, wo komplizierte Einwandererschicksale gestrickt werden, in bange verspielter Erwartung allemal befragt: bei dem Liebe, Glück, Arbeit, gute Examensnoten und Partnertreue versprechenden Professor Souare Karamba, der vor dem Billigwarenhaus Tati mit Handzetteln wirbt, ebenso wie vor dem Orakel des unterirdisch einbetonierten Buddha-Tempels bei Tolbiac, wo man numerierte Stäbchen ziehen kann. In solchen Quartieren ist Flanieren schwer möglich, das Tempo stimmt nicht. Die Besorgungen sind zu dringlich und werden von Straßenhändlern bedient wie jenem, der französische Aufenthaltspapiere in Plastik verschweißt, oder von Reisebüros, die statt Urlaubs- billige Heimreisen anbieten: Heimreisen mit Hin- und Rückfahrticket.
Doch unser kundiger Fußgänger drückt sich auch an den Touristenattraktionen nicht vorbei und beweist um den Louvre, an der Place des Vosges oder vor dem Sacré-Coeur mehr wohlwollende Gelassenheit als kulturpessimistische Überreizung. Schließlich kamen die Touristen schon, als noch vor dem Ersten Weltkrieg Picasso, Braque, Gris und die anderen Künstler gerade das "Bateau Lavoir" verließen und Gilles seinen Vergnügungsschuppen "Lapin agile" am Nordhang des Montmartre aufmachte. Das läßt Zeit zur pointierten Beobachtung und ermutigt den Autor mitunter zu Sentenzen von beinahe aphoristischem Zuschnitt. Die Touristen werden angezogen von dem, was verschwindet, wenn sie kommen, schreibt er: "Die Schöpfer von Originalen gehen, die ,Originale', die nichts hervorbringen als sich selbst, die bleiben. Montmartre wurde pittoresk." Auch im neu-schicken Vergnügungsviertel auf den begradigten Pflastersteingäßchen des ehemaligen Weinlagers Bercy-Village mag der Parisfahrer nicht ganz heimisch werden, wo eine stilbewußt kosmopolitische Großstadtgesellschaft wahlweise Nyons-Oliven, Sushi oder Basilikum-Tomaten nascht. Bei all den Stühlen aus Tropenholz und auf Schiefertafeln geschriebene Speiseangeboten verlangt es den Autor nach Plastik und gedruckten Speisekarten.
Statt dessen erholt er sich im neuen Bercy-Park gleich nebenan oder im Park André-Citroën des weiter westlich gelegenen fünfzehnten Bezirks. Ist diese kleinteilig mit Tümpeln, Kaskaden, Bambusdickicht und Parzellenbepflanzung spielende Gartenarchitektur aber tatsächlich nur eine neue Fassung französischer Naturbändigungsobsession im Geiste Le Nôtres? Ebensowenig braucht man dem Autor bei seiner resoluten, wenn auch immer gefällig vorgebrachten Kritik an manchen Neubauten zu folgen. Wenn etwa die vier Glastürme von Dominique Perraults Nationalbibliothek abermals auf das Metaphernklischee der vier aufgeschlagenen Bücher reduziert werden, wo der Architekt selbst sie unermüdlich als die vier Eckklammern eines im Stadtgebiet ausgesparten freien Stücks Himmel erklärte, liegt das leicht unter dem Niveau dieses Buchs. An dessen Informationsfülle gibt es im übrigen wenig auszusetzen, abgesehen von Geringfügigkeiten: daß etwa der vom Autor verabscheute Montparnasse-Turm bei weitem nicht die Höhe des Eiffelturms erreicht, daß Rousseau im Pantheon zwar eine Gedenkstätte hat, in Wahrheit aber in einem Park nördlich von Paris begraben liegt, daß der ehemalige Pariser Oberbürgermeister Tiberi als Bürgermeister seines fünften Arrondissements keineswegs abgewählt wurde.
Manchmal wirkt Karl Heinz Götze wie der wunderbare Schatten des Pariser Literaten Léon-Paul Fargue mit fremdem Profil. Wo der Franzose, Autor des berühmten "Piéton de Paris", aus der Unscheinbarkeit der täglich begangenen Boulevards großstädtisches Intimleben las, bietet der deutsche Besucher eine aus Fassaden und Hinterhöfen gewonnene kulturgeschichtlich kundige Nahansicht. Nur der auf den Schlußsatz Humphrey Bogarts zu Ingrid Bergman auf dem Rollfeld von Casablanca anspielende Buchtitel geht einem etwas trocken über die Lippen. Um zur süffisanten Leichtflüssigkeit des wohl gemeinten "Toujours Paris" zu gelangen, sei ein Zwischenhalt an einem einschlägigen Zinktresen empfohlen, am besten in Paris selbst.
Karl Heinz Götze: "Immer Paris". Siedler Verlag, Berlin 2002. 256 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Heinz Götze braucht kein gutes Wort für die Stadt des Lichtes einzulegen, wir fühlen doch alle französisch / Von Joseph Hanimann
Der Eiffelturm auf dem Umschlag ist auch diesem Autor nicht erspart geblieben. Karl Heinz Götze macht aber heitere Miene zum unabwendbaren Spiel mit dem Klischee und hat dem Bauwerk gleich ein ganzes Kapitel gewidmet. Anders als die übrigen sieben Kapitelstreifzüge des Buchs führt dieser aber nicht unmittelbar an den Gegenstand heran, sondern hält ihn von Invalidendom, Rodin-Museum und Trocadéro aus gebührlich auf Distanz, so daß das Stahlrüschenwerk sich hübsch gegen den Pariser Himmel abheben kann. Das Buch ist sonst gerade anders herum geschrieben: ganz nah bei der langen Geschichte und den tausend flüchtigen Details einer bewunderten Stadt. Und ein bißchen lieben darf man, ganz wie Apollinaire, Robert Delaunay und all die übrigen Künstler, den Eiffelturm schon auch.
Den Rest der Stadt liebt Karl Heinz Götze, seines Zeichens Germanist und Gelegenheitsautor über französisches Essen, nicht so wie der routiniert weltläufige Reiseliteraturspezialist und auch nicht wie der von der fremden Pracht überwältigte Neuling. Das Buch ist offensichtlich das Ergebnis einer jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Beziehung, die Zärtlichkeit, Befremden, Begeisterung, Skepsis und leise Ironie gegenüber dem, was in der Stadt gleichbleibt und was sich ändert, mit einschließt. Diese zwischen Subjektivität und - meist in Nebensätzen untergebrachter - Informationsfülle flimmernde Darstellung reicht im Ton vom Privatjournal bis zur sachlichen Reportage. Weder ein Reiseführer noch eine historische Studie, weder eine datengespickte Analyse noch eine impressionistische Stadtbetrachtung ist dabei herausgekommen - und doch von allem ein bißchen.
Die Freude des Autors über die wunderbar halbperfekte Art, mit der in Frankreich und besonders in Paris immer noch Altes und Neues ineinanderwachsen, zeigt sich auf jeder Seite. So kann im Eingang eines prächtigen Stadtpalais die neue Stromleitung über Monate, ja über Jahre hin unverputzt herumbaumeln, weil ehrwürdig Gealtertes eben nicht vor der Alternative steht, überholt zu sein oder steril restauriert zu werden. Allen dargestellten Orten und Objekten gewährt der Autor überdies jenen Abstand, der ihnen einen Hauch Fremdheit beläßt und sich weder in exotisierender "Oh-là-là"-Euphorie noch in abgebrühter Besserwisserei und dem immer gerade passenden Geheimtip verausgabt. Das sanfte Schrittempo, mit dem die Arrondissements erkundet werden, läßt Zeit fürs Staunen, auch fürs eingestandene Unwissen vor den wohl berühmten, dem Autor aber ganz unbekannten Sängernamen auf den Plakaten von Barbès.
Im Massengeläuf der Champs-Elysées trübt sich der Flaneurblick des Autors gleichsam naturgemäß, weil die Sicht auf das Besondere nicht mehr möglich ist - und weil im Scheinluxus der großen Markennamen sich ohnehin nur noch der gängige Weltstandard findet. Der Besucher, auf der Place Vendôme noch ein Parvenu, ist als Konsument König auf den Champs-Elysées, wo mit großer Vergangenheit großräumig Massenware nobilitiert wird. Vielfalt ist da bei aller Vielfarbigkeit kaum zu finden. Der Spaziergänger Götze schlendert also weiter in den weniger prominenten Norden und Osten der Stadt.
Zu den besten Stellen des Buchs gehören die mit subtiler Beobachtung geknüpften Entsprechungen zwischen dem von Nord- und Schwarzafrikanern geprägten Barbès-Viertel am Fuß des Montmartre und dem asiatisch bestimmten Tolbiac im dreizehnten Arrondissement. Die Zukunft wird an diesen Orten, wo komplizierte Einwandererschicksale gestrickt werden, in bange verspielter Erwartung allemal befragt: bei dem Liebe, Glück, Arbeit, gute Examensnoten und Partnertreue versprechenden Professor Souare Karamba, der vor dem Billigwarenhaus Tati mit Handzetteln wirbt, ebenso wie vor dem Orakel des unterirdisch einbetonierten Buddha-Tempels bei Tolbiac, wo man numerierte Stäbchen ziehen kann. In solchen Quartieren ist Flanieren schwer möglich, das Tempo stimmt nicht. Die Besorgungen sind zu dringlich und werden von Straßenhändlern bedient wie jenem, der französische Aufenthaltspapiere in Plastik verschweißt, oder von Reisebüros, die statt Urlaubs- billige Heimreisen anbieten: Heimreisen mit Hin- und Rückfahrticket.
Doch unser kundiger Fußgänger drückt sich auch an den Touristenattraktionen nicht vorbei und beweist um den Louvre, an der Place des Vosges oder vor dem Sacré-Coeur mehr wohlwollende Gelassenheit als kulturpessimistische Überreizung. Schließlich kamen die Touristen schon, als noch vor dem Ersten Weltkrieg Picasso, Braque, Gris und die anderen Künstler gerade das "Bateau Lavoir" verließen und Gilles seinen Vergnügungsschuppen "Lapin agile" am Nordhang des Montmartre aufmachte. Das läßt Zeit zur pointierten Beobachtung und ermutigt den Autor mitunter zu Sentenzen von beinahe aphoristischem Zuschnitt. Die Touristen werden angezogen von dem, was verschwindet, wenn sie kommen, schreibt er: "Die Schöpfer von Originalen gehen, die ,Originale', die nichts hervorbringen als sich selbst, die bleiben. Montmartre wurde pittoresk." Auch im neu-schicken Vergnügungsviertel auf den begradigten Pflastersteingäßchen des ehemaligen Weinlagers Bercy-Village mag der Parisfahrer nicht ganz heimisch werden, wo eine stilbewußt kosmopolitische Großstadtgesellschaft wahlweise Nyons-Oliven, Sushi oder Basilikum-Tomaten nascht. Bei all den Stühlen aus Tropenholz und auf Schiefertafeln geschriebene Speiseangeboten verlangt es den Autor nach Plastik und gedruckten Speisekarten.
Statt dessen erholt er sich im neuen Bercy-Park gleich nebenan oder im Park André-Citroën des weiter westlich gelegenen fünfzehnten Bezirks. Ist diese kleinteilig mit Tümpeln, Kaskaden, Bambusdickicht und Parzellenbepflanzung spielende Gartenarchitektur aber tatsächlich nur eine neue Fassung französischer Naturbändigungsobsession im Geiste Le Nôtres? Ebensowenig braucht man dem Autor bei seiner resoluten, wenn auch immer gefällig vorgebrachten Kritik an manchen Neubauten zu folgen. Wenn etwa die vier Glastürme von Dominique Perraults Nationalbibliothek abermals auf das Metaphernklischee der vier aufgeschlagenen Bücher reduziert werden, wo der Architekt selbst sie unermüdlich als die vier Eckklammern eines im Stadtgebiet ausgesparten freien Stücks Himmel erklärte, liegt das leicht unter dem Niveau dieses Buchs. An dessen Informationsfülle gibt es im übrigen wenig auszusetzen, abgesehen von Geringfügigkeiten: daß etwa der vom Autor verabscheute Montparnasse-Turm bei weitem nicht die Höhe des Eiffelturms erreicht, daß Rousseau im Pantheon zwar eine Gedenkstätte hat, in Wahrheit aber in einem Park nördlich von Paris begraben liegt, daß der ehemalige Pariser Oberbürgermeister Tiberi als Bürgermeister seines fünften Arrondissements keineswegs abgewählt wurde.
Manchmal wirkt Karl Heinz Götze wie der wunderbare Schatten des Pariser Literaten Léon-Paul Fargue mit fremdem Profil. Wo der Franzose, Autor des berühmten "Piéton de Paris", aus der Unscheinbarkeit der täglich begangenen Boulevards großstädtisches Intimleben las, bietet der deutsche Besucher eine aus Fassaden und Hinterhöfen gewonnene kulturgeschichtlich kundige Nahansicht. Nur der auf den Schlußsatz Humphrey Bogarts zu Ingrid Bergman auf dem Rollfeld von Casablanca anspielende Buchtitel geht einem etwas trocken über die Lippen. Um zur süffisanten Leichtflüssigkeit des wohl gemeinten "Toujours Paris" zu gelangen, sei ein Zwischenhalt an einem einschlägigen Zinktresen empfohlen, am besten in Paris selbst.
Karl Heinz Götze: "Immer Paris". Siedler Verlag, Berlin 2002. 256 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2003BÜCHER FÜR DIE REISE
Der Flickenteppich
Karl Heinz Götzes Pariser Erkundungen
Der Zwang, Frankreich mit Deutschland zu vergleichen, hat einen Namen und einen Buchtitel: Friedrich Sieburg, „Gott in Frankreich?”, 1928 zum ersten Mal erschienen und lange Zeit für jeden unentbehrlich, der einen Heißhunger hatte auf gängige Klischees, schmackhaft angemacht in fetter essayistischer Sauce. Sieburg beschwor „das altmodische und unordentliche Paradies”, welches einem unerschöpflichen Vorrat an Weißbrot und Rotwein der sozialen Fürsorge den Vorzug gab. Frankreich, ein auf dem religiösen Mythos Jeanne d’ Arc gebauter, inzwischen leicht schmuddeliger Traum vom Glück, dem aber im Gegensatz zum kalt funktionalen Deutschland keine solide Zukunft in Europa beschert sei.
Der in Aix lebende deutsche Literaturwissenschaftler Karl Heinz Götze muss Sieburgs hybrides Gutachten in seiner Einleitung würdigen, um es endgültig abzuheften. Denn Götzes Buch „Immer Paris” zeigt das Dilemma dieser Metropole: Einerseits ist sie das größte Freilichtmuseum Europas. Andererseits hat sie sich zu einer gigantischen Krake entwickelt, mit wuchernder Peripherie – ein Sinnbild der Unbewohnbarkeit.
Götze durchstreift die Arrondissements von Westen nach Süden. Die Champs Elysées erinnern an die bürgerliche Epoche des 19.Jahrhunderts. Äußerlich freilich. Denn wo einst die Salons der Bürger waren, gibt es heute Büros und Geschäfte. Die Goutte d’Or, in dem sich die vielen Völkergruppen sammeln, und mit deren behaupteter Gefährlichkeit Wahlkämpfe geführt werden. Montmartre, die hügelige Geschmacklosigkeit, mit der diese Stadt ihre größten Umsätze macht. Und der Eiffelturm, der sich gegen jeden Protest behauptet hat in seiner offenen Nutzlosigkeit. Er hat kein Innen, kein Außen. Aber er besitzt das, was vor ihm nur das Kunstwerk für sich beanspruchen konnte: Autonomie.
„Eine einheitliche, große Erzählung lässt sich aus Paris nicht mehr machen”, schreibt Götze als Leitsatz auf. Seine Beschreibung ist die genaue Diagnose eines atomisierten Stadtkörpers, der nicht weniger reizvoll wird, wenn man weiß, wo er krankt.
HILMAR KLUTE
KARL HEINZ GÖTZE: Immer Paris, Geschichte und Gegenwart, Berlin 2002, 253 Seiten, Siedler-Verlag, 19,90 Euro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der Flickenteppich
Karl Heinz Götzes Pariser Erkundungen
Der Zwang, Frankreich mit Deutschland zu vergleichen, hat einen Namen und einen Buchtitel: Friedrich Sieburg, „Gott in Frankreich?”, 1928 zum ersten Mal erschienen und lange Zeit für jeden unentbehrlich, der einen Heißhunger hatte auf gängige Klischees, schmackhaft angemacht in fetter essayistischer Sauce. Sieburg beschwor „das altmodische und unordentliche Paradies”, welches einem unerschöpflichen Vorrat an Weißbrot und Rotwein der sozialen Fürsorge den Vorzug gab. Frankreich, ein auf dem religiösen Mythos Jeanne d’ Arc gebauter, inzwischen leicht schmuddeliger Traum vom Glück, dem aber im Gegensatz zum kalt funktionalen Deutschland keine solide Zukunft in Europa beschert sei.
Der in Aix lebende deutsche Literaturwissenschaftler Karl Heinz Götze muss Sieburgs hybrides Gutachten in seiner Einleitung würdigen, um es endgültig abzuheften. Denn Götzes Buch „Immer Paris” zeigt das Dilemma dieser Metropole: Einerseits ist sie das größte Freilichtmuseum Europas. Andererseits hat sie sich zu einer gigantischen Krake entwickelt, mit wuchernder Peripherie – ein Sinnbild der Unbewohnbarkeit.
Götze durchstreift die Arrondissements von Westen nach Süden. Die Champs Elysées erinnern an die bürgerliche Epoche des 19.Jahrhunderts. Äußerlich freilich. Denn wo einst die Salons der Bürger waren, gibt es heute Büros und Geschäfte. Die Goutte d’Or, in dem sich die vielen Völkergruppen sammeln, und mit deren behaupteter Gefährlichkeit Wahlkämpfe geführt werden. Montmartre, die hügelige Geschmacklosigkeit, mit der diese Stadt ihre größten Umsätze macht. Und der Eiffelturm, der sich gegen jeden Protest behauptet hat in seiner offenen Nutzlosigkeit. Er hat kein Innen, kein Außen. Aber er besitzt das, was vor ihm nur das Kunstwerk für sich beanspruchen konnte: Autonomie.
„Eine einheitliche, große Erzählung lässt sich aus Paris nicht mehr machen”, schreibt Götze als Leitsatz auf. Seine Beschreibung ist die genaue Diagnose eines atomisierten Stadtkörpers, der nicht weniger reizvoll wird, wenn man weiß, wo er krankt.
HILMAR KLUTE
KARL HEINZ GÖTZE: Immer Paris, Geschichte und Gegenwart, Berlin 2002, 253 Seiten, Siedler-Verlag, 19,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Dieses Buch ist kein Essay, sondern eine "geordnete Sammlung der Beobachtungen und Reflexionen eines Stadtwanderers, der viel sieht, viel weiß und sich sein Teil dazu denkt", schreibt Klaus Harpprecht in seiner Rezension. Ganz glücklich ist er mit dem Buch des in Aix lehrenden Literaturwissenschaftlers Karl Heinz Götze jedoch nicht geworden. Zwar kommen die Champs-Elysees vor, das Einwandererviertel im Pariser Norden rund um die Goutte d'or, die "Entwicklungsreviere" Bercy und Tolbiac oder das Quartier Latin. Andere Arrondissements - wie das 20. oder 16. - ignoriert Götze. Dieses Fehlen jeglicher "teutonischer Systematik" nimmt Harpprecht dem Autor gar nicht übel. Aber eins vermisst er doch: "Nirgendwo", klagt unser Rezensent, "beschreibt er den beharrlichen Exodus der kleinen und mittleren Bürger in die Banlieue. Kein Exkurs in die villes nouvelles weit draußen vor den Toren ..." Dies wäre nach Ansicht Harpprechts jedoch Pflicht für jeden, der "eine neue Sicht" auf Paris öffnen will. Wir schließen daraus, dass Götze dies nicht gelingt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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