Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2000Höhlensänger
Neues vom Immernie: Gedichte von Robert Schindel
Einer weiteren Öffentlichkeit wurde Robert Schindel 1992 durch einen Roman bekannt. Er habe ihn nur geschrieben, behauptete der Dichter, um ein für allemal zu beweisen, daß er ein Lyriker sei. Die salvatorische Ausflucht mißlang. Denn "Gebürtig", eine deutsch-jüdische Geschichte von "Mitschuld und Mitunschuld", wurde ein ganz ausgezeichneter Roman, scharf in seiner Analyse und schwarz in seinem Humor.
Und doch ist der Kern der These richtig. "Immernie", der fünfte Gedichtband, bestätigt das. Robert Schindel ist so sehr Lyriker, wie Erich Fried oder Eduard Mörike es waren. Beide sind nicht ganz zufällig die Namenspatrone der Preise, die Schindel erhielt. Man darf streiten, wem dieser ebenso engagierte wie formbewußte Poet nähersteht. Die neuen Gedichte reden im Untertitel vom "Moos der Neunzigerhöhlen". Doch auf jeder Seite wird klar, daß ihr Autor es sich in keiner Höhle und auf keinem Moos bequem machen möchte. Deutlicher als in früheren Bänden kommt Tagesgeschehen ins Spiel, der Bosnien-Krieg vor allem. Das Gedicht ist der aktuellen Daten eingedenk, und der Dichter spart nicht mit Kommentaren. Aber manchmal genügt ihm der Augenschein, der Schnappschuß: "Um einen Tisch / Deutsche Soldaten im Tarnanzug / Mittags Mitte Mai neunzehn / Siebenundneunzig. Sie / trinken Cola".
Der Autor, Jahrgang 1944, Sohn jüdischer Widerstandskämpfer, muß dieses Bild nicht kommentieren. Die beiläufige Notiz wird ihm zur Chiffre eines säkularen Weltalltags. Das bedeutet nicht, daß die geschichtliche Perspektive ihn nicht interessierte. Brecht und Benjamin sind ihm immer noch für Anspielungen gut. Nur daß Ironie den geschichtsphilosophischen Ernst imprägniert. "Ich bin so zugeneigt den Ebenen", heißt es einmal, mit einer Verbeugung gegen Brecht. Auf die Mühen dieser Ebenen zielt die Einsicht: "Heute müssen die Deserteure / In den Ebenen sich verbergen".
In wessen Namen kann man heute noch desertieren? Für die Postmoderne ist das eine anachronistische Frage. Für Schindel nicht. Er hält an der Hoffnung fest, in den "Maserungen der Ebene" der allgemeinen Planierung zu entgehen. Mehr noch: Er formuliert die apokalyptische Vision von einem Sturm, der neue Verwerfungen - und damit Zukunft - erzeugt: "Über die Ebenen geht er / Faltet sie, faltet sie wieder". Ich wüßte im Moment sonst keinen Dichter, dem Benjamins Engel der Geschichte mehr ist als eine überholte Metapher.
Andererseits wäre nichts falscher, als sich den Dichter in schwerer philosophischer Rüstung vorzustellen. Robert Schindel mag noch so sehr an der Historie tragen - als Poet gibt er den Ariel, gern auch den notorischen Troubadour. Seit seinem ersten Gedichtband listet er seine Seligkeiten und Desperationen auf, seine "Sehn-" und "Lieblieder", die er fortlaufend numeriert. Nun gibt es eine neue Serie mit dem Titel "Immernie".
Mir scheint, daß Schindels Gedichte hier eine Synthese suchen, das Zugleich von Erfüllung und Desillusionierung, das "Immernie" aller Liebe. Es sind gleichsam wissende Verse: "Bevor wir die Gesichter aufeinander legen / Sind wund wir von der Heilung und den Wunden / Hernach geht jeder in sein Leben". Leben und Liebe gehen nur im Gedicht zusammen. Mit seiner Hilfe hebt der Poet sich aus dem Moos der Neunzigerhöhlen und zu einem arielhaften Finale: "Dazwischen vor / Jeglichem Entzwei / Singen wir / Unser Dennoch". Jedes Dennoch hat etwas von Vorsatz. Manchmal ist es Erfüllung.
HARALD HARTUNG
Robert Schindel: "Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 99 S., br., 15,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neues vom Immernie: Gedichte von Robert Schindel
Einer weiteren Öffentlichkeit wurde Robert Schindel 1992 durch einen Roman bekannt. Er habe ihn nur geschrieben, behauptete der Dichter, um ein für allemal zu beweisen, daß er ein Lyriker sei. Die salvatorische Ausflucht mißlang. Denn "Gebürtig", eine deutsch-jüdische Geschichte von "Mitschuld und Mitunschuld", wurde ein ganz ausgezeichneter Roman, scharf in seiner Analyse und schwarz in seinem Humor.
Und doch ist der Kern der These richtig. "Immernie", der fünfte Gedichtband, bestätigt das. Robert Schindel ist so sehr Lyriker, wie Erich Fried oder Eduard Mörike es waren. Beide sind nicht ganz zufällig die Namenspatrone der Preise, die Schindel erhielt. Man darf streiten, wem dieser ebenso engagierte wie formbewußte Poet nähersteht. Die neuen Gedichte reden im Untertitel vom "Moos der Neunzigerhöhlen". Doch auf jeder Seite wird klar, daß ihr Autor es sich in keiner Höhle und auf keinem Moos bequem machen möchte. Deutlicher als in früheren Bänden kommt Tagesgeschehen ins Spiel, der Bosnien-Krieg vor allem. Das Gedicht ist der aktuellen Daten eingedenk, und der Dichter spart nicht mit Kommentaren. Aber manchmal genügt ihm der Augenschein, der Schnappschuß: "Um einen Tisch / Deutsche Soldaten im Tarnanzug / Mittags Mitte Mai neunzehn / Siebenundneunzig. Sie / trinken Cola".
Der Autor, Jahrgang 1944, Sohn jüdischer Widerstandskämpfer, muß dieses Bild nicht kommentieren. Die beiläufige Notiz wird ihm zur Chiffre eines säkularen Weltalltags. Das bedeutet nicht, daß die geschichtliche Perspektive ihn nicht interessierte. Brecht und Benjamin sind ihm immer noch für Anspielungen gut. Nur daß Ironie den geschichtsphilosophischen Ernst imprägniert. "Ich bin so zugeneigt den Ebenen", heißt es einmal, mit einer Verbeugung gegen Brecht. Auf die Mühen dieser Ebenen zielt die Einsicht: "Heute müssen die Deserteure / In den Ebenen sich verbergen".
In wessen Namen kann man heute noch desertieren? Für die Postmoderne ist das eine anachronistische Frage. Für Schindel nicht. Er hält an der Hoffnung fest, in den "Maserungen der Ebene" der allgemeinen Planierung zu entgehen. Mehr noch: Er formuliert die apokalyptische Vision von einem Sturm, der neue Verwerfungen - und damit Zukunft - erzeugt: "Über die Ebenen geht er / Faltet sie, faltet sie wieder". Ich wüßte im Moment sonst keinen Dichter, dem Benjamins Engel der Geschichte mehr ist als eine überholte Metapher.
Andererseits wäre nichts falscher, als sich den Dichter in schwerer philosophischer Rüstung vorzustellen. Robert Schindel mag noch so sehr an der Historie tragen - als Poet gibt er den Ariel, gern auch den notorischen Troubadour. Seit seinem ersten Gedichtband listet er seine Seligkeiten und Desperationen auf, seine "Sehn-" und "Lieblieder", die er fortlaufend numeriert. Nun gibt es eine neue Serie mit dem Titel "Immernie".
Mir scheint, daß Schindels Gedichte hier eine Synthese suchen, das Zugleich von Erfüllung und Desillusionierung, das "Immernie" aller Liebe. Es sind gleichsam wissende Verse: "Bevor wir die Gesichter aufeinander legen / Sind wund wir von der Heilung und den Wunden / Hernach geht jeder in sein Leben". Leben und Liebe gehen nur im Gedicht zusammen. Mit seiner Hilfe hebt der Poet sich aus dem Moos der Neunzigerhöhlen und zu einem arielhaften Finale: "Dazwischen vor / Jeglichem Entzwei / Singen wir / Unser Dennoch". Jedes Dennoch hat etwas von Vorsatz. Manchmal ist es Erfüllung.
HARALD HARTUNG
Robert Schindel: "Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 99 S., br., 15,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr innig setzt sich Harald Hartung mit Schindels fünftem Gedichtband auseinander. Auf dessen Untertitel anspielend findet er, auf jeder Seite werde klar: hier macht es sich der Autor "in keiner Höhle und auf keiner Wiese bequem". Deutlicher als früher komme das politische Tagesgeschehen zu Wort. Hartung lässt die Motive und Metaphern von Schindels Lyrik für sich selber sprechen. Nur manchmal versieht er sie mit vorsichtig erläuternden Anmerkungen. Schindels Gedichte suchten eine "Synthese", das "Zugleich von Erfüllung und Desillusionierung", meint der Rezensent schon fast am Schluss. Uns scheint, auf Harald Hartung haben Schindels Gedichte einen außerordentlichen Eindruck gemacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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