Mitten unter uns riskieren Eltern die Gesundheit und das Leben ihrer Kinder - in dem Glauben, sie zu schützen. Doch warum ruft das Impfen solche Angst hervor? Eula Biss geht dem Phänomen der Impfparanoia auf den Grund. Indem sich die junge Mutter in die Position der Impfgegner einfühlt, lässt sie uns verstehen, wie deren Irrglaube an eine umfassende natürliche Immunität des Körpers so stark werden konnte. Dabei tastet sich Eula Biss vorsichtig voran. Sie verwebt Exkurse in die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie autobiographische Bekenntnisse auf elegante Weise zu einem Buch, das die hitzige Impfdebatte in Deutschland abkühlen und auf ein neues Niveau heben wird.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Martina Lenzen-Schulte spürt die Hysterie und die Sorge der Autorin um ihr Baby, wenn diese, ausgehend von eigenen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen, Aspekte des Impfens behandelt. Ob Eula Biss damit skeptischen Eltern die Angst vor dem Impfen nehmen wird, möchte die Rezensentin bezweifeln, auch wenn die Autorin sich klar für das Impfen ausspricht. Gedankensprünge und Informationen aus zweiter Hand prägen laut Rezensentin ein Buch, das sich an den amerikanischen Verhältnissen orientiert, nicht an den deutschen, wie Lenzen-Schulte ausdrücklich betont. Um Eltern den Sinn von Impfungen zu erläutern, scheint ihr das Buch nicht besonders geeignet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2016Wo die Experten streiten, weiß der Papa doch Bescheid
Warum Kenntnisse in Non-Fiction-Writing vielleicht doch nicht für gute medizinische Aufklärung reichen: Eula Biss stiftet Verwirrung über den Sinn von Impfungen
Eine sehr besorgte Mutter lässt uns mit einem Buch an ihrer Auseinandersetzung mit dem Impfen teilhaben: Eula Biss richtet sich nicht an Leser, die sich über das Für und Wider einzelner Impfungen informieren wollen, sondern sie behandelt Aspekte des Impfens, ausgehend von eigenen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen. Die Autorin, Dozentin für "Non-Fiction-Writing" an der Northwestern-University of Illinois, schildert freimütig ihre Hysterie und Sorge um ihr Baby, etwa wenn es um panikgesteuerte Keimvermeidung geht oder um die Horrorvorstellung, ihrem stark allergiegefährdeten Kind im Notfall eine Spritze geben zu müssen, die die allergische Reaktion stoppt.
Das kann eine gute Strategie sein, an einzelnen Problemen Grundsätzliches zu erörtern. Ob es diesem Buch jedoch gelingt, skeptischen Eltern die Angst vor dem Impfen zu nehmen, wie der "New Yorker" urteilte, ist fraglich. Jedenfalls erweist sich Biss als klare Befürworterin von Impfungen, auch wenn sie dies offenbar nicht an jeder Stelle an die große Glocke hängen will. Zunächst stellt sie ihre eigene Verwirrung ungeniert aus. Einmal will sie etwa mehr über Triclosan wissen - ein Desinfektionsmittel, das die Umwelt vergiftet -, um dann über den Begriff "Immunität" zu stolpern, der Bedeutung des Wortes "Bedrohung" nachzugehen und über die These zu räsonieren, alle Geimpften seien Cyborgs. Angesichts solcher Gedankensprünge verwundert es nicht, dass die Autorin schon in der Einleitung Achilles mit Siegfried verwechselt, wenn sie anhand der Sage erläutern will, dass nicht einmal die Götter diejenigen, die sie lieben, gegen alles immun machen können.
Zu etlichen wichtigen Impfungen äußert sich Biss erst gar nicht. Aber die Impfung gegen Rota-Viren scheint ihr bedeutsam. Das sind in unseren Breiten harmlose Erreger, die vor allem bei Kindern Magen-Darm-Infekte mit Erbrechen und Durchfall hervorrufen können. In Ländern mit guter Gesundheitsversorgung stellt das in der Regel kein Problem dar. Zwar kommen auch hierzulande Kinder deswegen mitunter in die Klinik, das ist aber meist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Dass Kinder an Erbrechen oder Durchfall sterben könnten, droht vor allem in Entwicklungsländern, vor allem bei mangelhafter Flüssigkeitszufuhr. Biss nimmt nun das Beispiel eines einzigen, nicht näher beschriebenen Todesfalles als Argument für die flächendeckende Impfung von Säuglingen gegen Rotaviren.
Hier sind selbst Experten keineswegs einig. Die französische Impfkommission hat unlängst die Empfehlung für diese Impfung zurückgezogen - wegen gravierender Nebenwirkungen. Die Information zu dem Rota-Virus-Todesfall ist wie vieles in diesem Buch aus zweiter Hand; der Arzt, der ihr das schilderte, ist Paul Offit, in den Vereinigten Staaten wegen seiner Impfpatente und finanzieller Interessenkonflikte auch "Dr. Proffit" genannt. Ähnlich funktioniert das Plädoyer der Autorin für eine jährliche Grippeimpfung von Säuglingen, bei dem auch das Schreckensbild von toten Babys herhalten muss.
Deutsche Leser sollten wissen, dass die Situation in den Vereinigten Staaten und Deutschland grundverschieden ist. Dort wird Eltern empfohlen, selbst Kleinkinder jedes Jahr gegen Influenza impfen zu lassen. Die hiesige Impfkommission STIKO am Robert Koch-Institut macht dies wohlweislich nicht und empfiehlt die jährliche Grippe-Impfung nur gefährdeten Personengruppen, vor allem älteren Menschen. Überhaupt werden deutsche Leser oft verwirrt, weisen unsere Impfpläne für Säuglinge und Kleinkinder doch häufig andere Empfehlungen auf, leider fehlen dazu korrigierende Hinweise. Ärgerlich ist zudem, dass sich die vorgetragenen medizinischen Fakten nicht konkret überprüfen lassen.
Das Wissen der Autorin speist sich aus zwei Quellen: Eine ist ihr übermächtiger Medizinervater, der immer dann, wenn sie nicht mehr weiterweiß, einen Satz parat hat wie den, dass Eltern, die sich entscheiden, ihre Kinder die Windpocken durchmachen zu lassen, einfach "Idioten" sind. Dabei hat die Windpockenimpfung ganz klar Schwächen, etwa wo sie junge Frauen, die als Kinder geimpft wurden, ungenügend vor einer Infektion in der Schwangerschaft schützt. Hier ist das Ungeborene weniger gefährdet, wenn die Schwangere dank einer echten Windpockeninfektion eine stärkere Immunität aufweist.
Zum anderen hat Eula Biss ihren Angaben zufolge Dutzende von Büchern, "zahllose" wissenschaftliche Aufsätze, "Hunderte" von Zeitungsartikeln sowie viele Blog-Posts in ihr Buch einfließen lassen, aber aufgelistet sind sie nicht. Dass sie die behauptete Lektüre mitnichten beherrscht, beweist der Absatz, in dem Biss zunächst von dem Impfstoff schreibt, der die Pocken ausrottete, aber dann unvermittelt von den "Polio-Pioneers" in Nordamerika spricht, jenen 650 000 Kindern, an denen dort die Schluckimpfung getestet wurde. Polio ist die Kinderlähmung, die Pocken sind etwa anderes, so wie eben Achilles auch nicht Siegfried ist. Es gibt viele vernünftige Bücher, die Eltern den Sinn von Impfungen erklären, das von Eula Biss zählt nicht dazu.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Eula Biss: "Immun". Über das Impfen - von Zweifel, Angst und Verantwortung.
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Carl Hanser Verlag, München 2016. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum Kenntnisse in Non-Fiction-Writing vielleicht doch nicht für gute medizinische Aufklärung reichen: Eula Biss stiftet Verwirrung über den Sinn von Impfungen
Eine sehr besorgte Mutter lässt uns mit einem Buch an ihrer Auseinandersetzung mit dem Impfen teilhaben: Eula Biss richtet sich nicht an Leser, die sich über das Für und Wider einzelner Impfungen informieren wollen, sondern sie behandelt Aspekte des Impfens, ausgehend von eigenen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen. Die Autorin, Dozentin für "Non-Fiction-Writing" an der Northwestern-University of Illinois, schildert freimütig ihre Hysterie und Sorge um ihr Baby, etwa wenn es um panikgesteuerte Keimvermeidung geht oder um die Horrorvorstellung, ihrem stark allergiegefährdeten Kind im Notfall eine Spritze geben zu müssen, die die allergische Reaktion stoppt.
Das kann eine gute Strategie sein, an einzelnen Problemen Grundsätzliches zu erörtern. Ob es diesem Buch jedoch gelingt, skeptischen Eltern die Angst vor dem Impfen zu nehmen, wie der "New Yorker" urteilte, ist fraglich. Jedenfalls erweist sich Biss als klare Befürworterin von Impfungen, auch wenn sie dies offenbar nicht an jeder Stelle an die große Glocke hängen will. Zunächst stellt sie ihre eigene Verwirrung ungeniert aus. Einmal will sie etwa mehr über Triclosan wissen - ein Desinfektionsmittel, das die Umwelt vergiftet -, um dann über den Begriff "Immunität" zu stolpern, der Bedeutung des Wortes "Bedrohung" nachzugehen und über die These zu räsonieren, alle Geimpften seien Cyborgs. Angesichts solcher Gedankensprünge verwundert es nicht, dass die Autorin schon in der Einleitung Achilles mit Siegfried verwechselt, wenn sie anhand der Sage erläutern will, dass nicht einmal die Götter diejenigen, die sie lieben, gegen alles immun machen können.
Zu etlichen wichtigen Impfungen äußert sich Biss erst gar nicht. Aber die Impfung gegen Rota-Viren scheint ihr bedeutsam. Das sind in unseren Breiten harmlose Erreger, die vor allem bei Kindern Magen-Darm-Infekte mit Erbrechen und Durchfall hervorrufen können. In Ländern mit guter Gesundheitsversorgung stellt das in der Regel kein Problem dar. Zwar kommen auch hierzulande Kinder deswegen mitunter in die Klinik, das ist aber meist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Dass Kinder an Erbrechen oder Durchfall sterben könnten, droht vor allem in Entwicklungsländern, vor allem bei mangelhafter Flüssigkeitszufuhr. Biss nimmt nun das Beispiel eines einzigen, nicht näher beschriebenen Todesfalles als Argument für die flächendeckende Impfung von Säuglingen gegen Rotaviren.
Hier sind selbst Experten keineswegs einig. Die französische Impfkommission hat unlängst die Empfehlung für diese Impfung zurückgezogen - wegen gravierender Nebenwirkungen. Die Information zu dem Rota-Virus-Todesfall ist wie vieles in diesem Buch aus zweiter Hand; der Arzt, der ihr das schilderte, ist Paul Offit, in den Vereinigten Staaten wegen seiner Impfpatente und finanzieller Interessenkonflikte auch "Dr. Proffit" genannt. Ähnlich funktioniert das Plädoyer der Autorin für eine jährliche Grippeimpfung von Säuglingen, bei dem auch das Schreckensbild von toten Babys herhalten muss.
Deutsche Leser sollten wissen, dass die Situation in den Vereinigten Staaten und Deutschland grundverschieden ist. Dort wird Eltern empfohlen, selbst Kleinkinder jedes Jahr gegen Influenza impfen zu lassen. Die hiesige Impfkommission STIKO am Robert Koch-Institut macht dies wohlweislich nicht und empfiehlt die jährliche Grippe-Impfung nur gefährdeten Personengruppen, vor allem älteren Menschen. Überhaupt werden deutsche Leser oft verwirrt, weisen unsere Impfpläne für Säuglinge und Kleinkinder doch häufig andere Empfehlungen auf, leider fehlen dazu korrigierende Hinweise. Ärgerlich ist zudem, dass sich die vorgetragenen medizinischen Fakten nicht konkret überprüfen lassen.
Das Wissen der Autorin speist sich aus zwei Quellen: Eine ist ihr übermächtiger Medizinervater, der immer dann, wenn sie nicht mehr weiterweiß, einen Satz parat hat wie den, dass Eltern, die sich entscheiden, ihre Kinder die Windpocken durchmachen zu lassen, einfach "Idioten" sind. Dabei hat die Windpockenimpfung ganz klar Schwächen, etwa wo sie junge Frauen, die als Kinder geimpft wurden, ungenügend vor einer Infektion in der Schwangerschaft schützt. Hier ist das Ungeborene weniger gefährdet, wenn die Schwangere dank einer echten Windpockeninfektion eine stärkere Immunität aufweist.
Zum anderen hat Eula Biss ihren Angaben zufolge Dutzende von Büchern, "zahllose" wissenschaftliche Aufsätze, "Hunderte" von Zeitungsartikeln sowie viele Blog-Posts in ihr Buch einfließen lassen, aber aufgelistet sind sie nicht. Dass sie die behauptete Lektüre mitnichten beherrscht, beweist der Absatz, in dem Biss zunächst von dem Impfstoff schreibt, der die Pocken ausrottete, aber dann unvermittelt von den "Polio-Pioneers" in Nordamerika spricht, jenen 650 000 Kindern, an denen dort die Schluckimpfung getestet wurde. Polio ist die Kinderlähmung, die Pocken sind etwa anderes, so wie eben Achilles auch nicht Siegfried ist. Es gibt viele vernünftige Bücher, die Eltern den Sinn von Impfungen erklären, das von Eula Biss zählt nicht dazu.
MARTINA LENZEN-SCHULTE
Eula Biss: "Immun". Über das Impfen - von Zweifel, Angst und Verantwortung.
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Carl Hanser Verlag, München 2016. 240 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Es mag zwar sechs Jahre alt sein, aber es ist in jeder Hinsicht das Buch der Stunde und lohnt gerade jetzt noch einmal das Wiederlesen - schon weil man sich die Zeit im Lockdown vertreiben muss, bis endlich, ja: allgemein geimpft werden kann. Immerhin hilft es zu verstehen,warum die Emotionen gerade bei diesem Stichwort hochkochen wie sonst nur in Familiendingen, und zwar nicht nur bei denjenigen, denen der Staat hier zu paternalistisch - also: mit väterlicher Strenge - auftritt ("Impfzwang!"). Sondern jetzt ja auch noch bei denen, die der Regierung vorwerfen, die pünktliche Versorgung ihrer Mündel verschlampt zu haben ("Impf-Versagen!")." Peter Richter, Südeutsche Zeitung, 12.01.21
"... ein lesenswerter und vielschichtiger Beitrag zu einer hitzigen Debatte." Edith Luschmann, natur, März 2016
"... ein kluges Plädoyer gegen die wachsende Unvernunft unserer Zeit. Wer [diesen] eleganten, in alle möglichen Richtungen denkenden Essay liest, erfährt nicht nur einiges über Infektionskrankheiten und deren Eindämmung, sondern viel über die Ängste der Gegenwart." "Die uralte Skepsis, an die [...] Eula Biss in ihrem fulminanten Buch erinnert, ist nicht ausgestorben." Peter Praschl, Die Welt, 27.02.16
"So angenehm, fast lyrisch ist ihre Sprache, dass man fast vergisst, ein Sachbuch zu lesen." Christina Sartori, WDR5 Leonardo, 26.02.16
"Eine junge US-amerikanische Schriftstellerin stellt viele wichtige Fragen - und liefert gute Argumente." Michael Lange, Deutschlandfunk, 01.03.16
"Ihre Geschichte des Impfens ist spannend und zeugt von sehr viel Mut." Karin Chladek, Falter, 18.03.16
"ein Plädoyer für das Impfen, das weit mehr Überzeugungskraft entfaltet als viele bisherige Bücher zum Thema." Robert Thielicke, Technology Review, April 2016
"'Immun' ist ein fulminantes Buch - lesenswert für Impfbefürworter und Impfgegner gleichermaßen!" Mirko Smiljanic, Deutschlandfunk, 23.05.16
"... ein lesenswerter und vielschichtiger Beitrag zu einer hitzigen Debatte." Edith Luschmann, natur, März 2016
"... ein kluges Plädoyer gegen die wachsende Unvernunft unserer Zeit. Wer [diesen] eleganten, in alle möglichen Richtungen denkenden Essay liest, erfährt nicht nur einiges über Infektionskrankheiten und deren Eindämmung, sondern viel über die Ängste der Gegenwart." "Die uralte Skepsis, an die [...] Eula Biss in ihrem fulminanten Buch erinnert, ist nicht ausgestorben." Peter Praschl, Die Welt, 27.02.16
"So angenehm, fast lyrisch ist ihre Sprache, dass man fast vergisst, ein Sachbuch zu lesen." Christina Sartori, WDR5 Leonardo, 26.02.16
"Eine junge US-amerikanische Schriftstellerin stellt viele wichtige Fragen - und liefert gute Argumente." Michael Lange, Deutschlandfunk, 01.03.16
"Ihre Geschichte des Impfens ist spannend und zeugt von sehr viel Mut." Karin Chladek, Falter, 18.03.16
"ein Plädoyer für das Impfen, das weit mehr Überzeugungskraft entfaltet als viele bisherige Bücher zum Thema." Robert Thielicke, Technology Review, April 2016
"'Immun' ist ein fulminantes Buch - lesenswert für Impfbefürworter und Impfgegner gleichermaßen!" Mirko Smiljanic, Deutschlandfunk, 23.05.16