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Die emotionale Seite der Literatur rückt wieder ins Blickfeld der Forschung. Ein Aspekt, der dabei kaum Berücksichtigung findet, ist der Einsatz rhetorischer und poetischer Mittel zur Abwehr von Emotionen. Eine zeitgemäße Sicht auf die Affektivität der Literatur muß jedoch auch jene Traditionslinie der Moderne einbeziehen können, die sich kalt, klinisch, unpathetisch oder antisentimental gibt. Viele kanonische Werke der letzten 150 Jahre tragen Effekte affektiver Befremdung zur Schau. Manchmal entsteht der Eindruck einer regelrechten Abspaltung, einer Apathie mit psychotischen Zügen; meist…mehr

Produktbeschreibung
Die emotionale Seite der Literatur rückt wieder ins Blickfeld der Forschung. Ein Aspekt, der dabei kaum Berücksichtigung findet, ist der Einsatz rhetorischer und poetischer Mittel zur Abwehr von Emotionen. Eine zeitgemäße Sicht auf die Affektivität der Literatur muß jedoch auch jene Traditionslinie der Moderne einbeziehen können, die sich kalt, klinisch, unpathetisch oder antisentimental gibt. Viele kanonische Werke der letzten 150 Jahre tragen Effekte affektiver Befremdung zur Schau. Manchmal entsteht der Eindruck einer regelrechten Abspaltung, einer Apathie mit psychotischen Zügen; meist jedoch läßt sich eine Verschiebung beschreiben, die die Affekte gegenüber den (durch Konventionen geregelten) Erwartungen der Leser in Verzug bringt, um sie anderswo in unvertrauter Gestalt wieder zur Erscheinung zu bringen. Martin von Koppenfels fragt nach den Mechanismen solcher Verschiebungen im Bereich des modernen Romans - namentlich bei Flaubert.
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Autorenporträt
Martin von Koppenfels, geboren 1967, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2009

Wehe dir, Gefühl, wenn der Arzt kommt

Der Romanist Martin von Koppenfels erhält heute den Buchpreis des Berliner Wissenschaftskollegs für seine Studie zur Geschichte der Affekte im modernen Roman - ein epochales Werk der Erzähltheorie.

Singe mir, Muse, den Zorn des Hautarzts Dr. Achilles. So hätte die "Ilias" selbst dann nicht anfangen können, wenn es damals schon Hautärzte gegeben hätte. Denn es sind nicht Hautärzte, die wir mythologisch mit dem Affekt des Zorns verbinden, zornig sind Helden, Krieger, jugendliche Bandenchefs, Mafiosi, wie es ja auch Achilles einer war. Ganz von einem Affekt bestimmt sein, sich ganz von ihm bestimmen lassen, das setzt Schlichtheit - jeder Affekt ist blind, heißt es bei Kant - und zugleich Kompaktheit des Gemüts voraus.

In einer Formulierung, die Martin von Koppenfels in seinem Buch über die Gefühlswelten der Literatur seit dem neunzehnten Jahrhundert verwendet, beruht das alte Epos, auf der Fähigkeit des Helden, einen einzigen Affekt als seinen Affekt festzuhalten ("Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans", München 2007). Die menis, der Zorn des Achill, so Koppenfels, "ist die ,Ilias'".

Der moderne Roman hingegen, den der Bielefelder Literaturwissenschaftler mit Flauberts "Erziehung des Herzens" 1869 in seinen Zenit treten lässt, behandelt das Leben aus einem Affekt heraus allenfalls als Pathologie. Dieser Roman kennt keine Figuren, die durchgängig von einem einzigen Gefühl bewegt sind. Genauer: dort, wo er sie kennt, behandelt er sie als exaltierte Erscheinungen. Sie scheitern daran, große Gefühle haben zu wollen, von denen sie gelesen haben, es sei bedeutend sie zu besitzen. Sie verfehlen ihre Affekte, weil ihnen der Alltag, die eigenen Trivialität, der Opportunismus und das Klischee dazwischenkommt, das dafür sorgt, dass ihre Gefühle nur geliehen sind. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Roman. Flauberts "Éducation sentimentale" ist für Koppenfels darum einer der ersten Romane, bei dem man sich für den Helden geniert.

Die These, um die herum Koppenfels sein Buch organisiert, für das der Zweiundvierzigjährige heute den Anna-Krüger-Preis des Berliner Wissenschaftskollegs bekommt, lautet darum, dass der moderne Roman vom Gefühl des Gefühlsentzugs bestimmt ist. Seine Protagonisten haben stets den Eindruck, nicht genug und nicht echt genug zu fühlen, das rechte Pathos zu verpassen, durch Reflexion und dem Verhaftetsein an Alltägliches dem Leben aus einem Affekt heraus entfremdet zu sein. Meistens sind sie niedergeschlagen, denn die wahre Lust ist immer die der anderen und die in den Büchern geschilderte. "Die Jagd nach Wunscherfüllung", das Kennzeichen des Epos wie der Oper, "wird ersetzt", so Koppenfels, "durch die narzisstische Suche nach dem ,eigenen' Gefühl".

So hängt Frédéric Moreau in der "Erziehung des Herzens" nicht an der Frau, an der Revolution oder auch nur am Beischlaf, sondern am eigenen Bedarf an starken Gefühlen. Er will gar nicht mit ihr schlafen, mit ihr leben, sie haben und ihr dienen, sondern er will von ihr in großartige Stimmung gebracht werden. Nachdem der Roman lange auf Empfindsamkeit abonniert war, versucht er hier - singe mir, Muse, den Hass des Gustave Flaubert auf falsche Gefühle - zu demonstrieren, wie schwer es überhaupt ist, Gefühle zu haben. Erzähltechnisch gelingt das vor allem dadurch, dass kein Gefühl der Figuren vom Erzähler Unterstützung erfährt. Das, so Koppenfels, entspreche der Mythologie des Mediziners: Der Arzt infiziert sich nicht selbst.

Es ist also nicht nur der von den Zeitgenossen Flauberts wahrgenommene Realismus des kalten diagnostischen Blicks, der den Autor zum Arzt macht, - der Literaturkritiker Saint-Beuve hatte von einer "dissection cruelle", einer grausamen Sektion gesprochen, die Flaubert an Emma Bovary vornehme - sondern es sind, so Koppenfels, die Wirkungen dieses Blicks auf die Leser, die hier kühl kalkuliert werden. Nicht, was er sieht, sondern welche Einstellung er mitteilt, wird zum Gegenstand der poetischen Analyse. Ihre Fortsetzung finden sie und ihre Leitmetapher der medizinischen Betrachtung von Affekten in der Deutung zweier anderer großer Romane. Marcel Prousts "Recherche" ist für Koppenfels der Roman eines Patienten, der sich und seine Affekte selbst behandelt, Louis-Ferdinand Célines wütende "Reise ans Ende der Nacht" derjenige eines Arztes, der sich selbst mit Affekten infiziert und zwischen Erzähler und Autor nicht mehr unterscheiden will.

Das Buch von Koppenfels enthält zahllose solcher Thesen. Aus einer Literaturwissenschaft, die es sich ansonsten zur Gewohnheit gemacht hat, auf Theoriebildung zu verzichten und stattdessen lieber von Lieblingsautoren nachzuweisen, dass sie es zurecht sind, sticht sein Buch schon deshalb heraus Man muss darum nicht einmal die hohen Erwartungen teilen, die der Autor auf den Einsatz psychoanalytischer Kategorien in der Literaturwissenschaft setzt, um in dieser Affektenlehre des modernen Romans einen der ganz wenigen begrifflich durchdachten Beiträge zu einer Gattungspoetik neuen Zuschnitts zu erkennen. Hier sieht jemand Fragen, die Autoren in Romanform zu lösen versuchten. Soll heißen: Er sieht nicht nur Romane, an die sich endlose interpretatorische Beschreibungen im Hin und Her der dazu - zum Hin und Her - eigens etablierten "Paradigmen" knüpfen lassen.

Dadurch unterscheidet sich Martin von Koppenfels auch sehr wohltuend von dem, was seit einigen Jahren an Konjunkturen von Körper-, Gefühls- und Emotionsthemen in den Kunst- und Literaturwissenschaften zu beobachten ist. Sein Interesse an den Affekten entspringt nicht dem Affekt gegen Begriffe und der Angst vor Thesen, nur weil sie auch nicht zutreffen könnten. Es folgt also nicht selbst dem Gefühl, nach Zeiten der ästhetischen Theoriefreudigkeit müsse zur Abwechslung jetzt wieder einmal etwas anderes her, mehr Stimmung, mehr Erlebnis, mehr Genussfähigkeit der Lektüre und ungewaschene Subjektivität. Mit Flaubert könnte man nach der Lektüre dieser bedeutenden Studie ein solches Bedürfnis nach Abwechslung ja auch nur als peinlich erkennen.

JÜRGEN KAUBE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wenn Martin von Koppenfels in seiner Studie Flauberts Erzählstrategien auf das Paradigma des immunen Erzählers hin untersucht und in ausgewählten Texten von Celine bis Proust nach Spiegelungen dieses Stilideals forscht, stellt Thomas Messmer die Ohren auf. Um so mehr als er an der Ambitioniertheit und theoretischen Fundierung (Messmer entdeckt Freud, Lacan, Koschorke und Sarasin im Hintergrund) der Arbeit keinen Zweifel hat. Dass der Band nicht eben leichte Kost ist, nimmt der Rezensent dafür in Kauf, ebenso das "zum Teil sehr subjektive Begriffsinstrumentarium". Der Messmer teilweise provokant erscheinende Scharfsinn des Autors entschädigt ihn ausreichend und die Ahnung, dass Flauberts Paradigma ganz gut dazu taugt, das "katastrophische Jahrhundert" und sogar eine Gestalt wie Adolf Eichmann zu erfassen.

© Perlentaucher Medien GmbH