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Kaum eine Epoche ist in der europäischen Erinnerungskultur so präsent wie die Zeit zwischen 1914 und 1945. Millionen Europäer kamen in dieser Zeit ums Leben, in den Schlachten der Weltkriege, im Holocaust, im Bombenhagel an den Heimatfronten, bei Hungersnöten und Epidemien sowie bei ethnischen Säuberungen und in Bürgerkriegen. Eingegraben haben sich auch die Erinnerungen an wirtschaftliche Turbulenzen, materielle Not und scharfe gesellschaftliche Konflikte. Gleichzeitig brachte das Zeitalter der Weltkriege ungeahnte wissenschaftliche Durchbrüche, aufregende kulturelle Experimente und eine…mehr

Produktbeschreibung
Kaum eine Epoche ist in der europäischen Erinnerungskultur so präsent wie die Zeit zwischen 1914 und 1945. Millionen Europäer kamen in dieser Zeit ums Leben, in den Schlachten der Weltkriege, im Holocaust, im Bombenhagel an den Heimatfronten, bei Hungersnöten und Epidemien sowie bei ethnischen Säuberungen und in Bürgerkriegen. Eingegraben haben sich auch die Erinnerungen an wirtschaftliche Turbulenzen, materielle Not und scharfe gesellschaftliche Konflikte. Gleichzeitig brachte das Zeitalter der Weltkriege ungeahnte wissenschaftliche Durchbrüche, aufregende kulturelle Experimente und eine seitdem unerreichte intellektuelle Intensität. Lutz Raphael zeigt in seiner souveränen Synthese, wie Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Labor der Moderne wurde. Erst das Zeitalter der Weltkriege schuf jenes Europa homogener Nationalstaaten, das trotz der Globalisierung des 21. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart hinein prägend wirkt.
Autorenporträt
Lutz Raphael, geb. 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier und Mitglied im Wissenschaftsrat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2012

Ideologiegeleitete Brutalisierung
Eine überzeugende Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Geschichten Europas haben Konjunktur. Die fortschreitende Integration Europas trägt dazu ebenso bei wie die Fortschritte komparativer Geschichtsschreibung, die der Erkenntnis folgt, dass auch nationale Entwicklungen nur in vergleichender und transnationaler Perspektive angemessen zu erfassen sind. Eine der Konsequenzen lautet: Dem seit drei Jahrzehnten grassierenden Stereotyp eines "deutschen Sonderwegs" ist der Boden entzogen. Doch bedarf eine auf kurzem Raum dargebotene europäische Geschichte größerer Zeiträume, die sich nicht auf die Addition von Nationalgeschichten beschränkt, problemorientierter konzeptioneller Reflexion und selektiver Konzentration. Lutz Raphael steht in der Tradition mehrerer Vorgänger und einer überbordenden Detailforschung, die allerdings dem populären Reihencharakter gemäß nur vereinzelt dokumentiert wird. Zweifellos ist ihm eine höchst intelligente, komplexe Grundprobleme geschickt bündelnde ausgewogene Synthese gelungen, die durch kluge Interpretationen langfristiger Entwicklungen besticht.

Worin unterscheidet sich sein Zugang von dem der meisten Vorgängern? Weniger durch andere Themenkomplexe als auch durch eine eigenständige zeitliche Disposition und Gewichtung: Anders als der Titel suggeriert - und durchaus überzeugend -, beginnt er nicht 1914, sondern um 1900. Dieser Beginn wird plausibel damit begründet, dass eine Reihe langfristiger Trends der Modernisierung wie fortschreitende Industrialisierung, Urbanisierung und Verkehrsrevolution vor dem Ersten Weltkrieg begannen. Ebenso wie die Mobilisierung der Nationen und ihr Streben nach imperialer Machtentfaltung radikalisierten sich diese Tendenzen extrem bis zum Zweiten Weltkrieg.

Es entspricht dieser Perspektive, dass der Autor in einem Epilog einen problemorientierten Querschnitt durch das Jahr 1947 legt: Welche langfristigen Trends wirkten fort, was hatte sich verändert? War Europa um 1900 noch das politische und ökonomische Gravitationszentrum der Welt, so hatte es diese Bedeutung nach dem Zweiten Weltkrieg an die Vereinigten Staaten verloren, die mit der Sowjetunion wesentlich den Krieg entschieden hatten. Die folgende Dekolonialisierung machte auch aus den ehemals global agierenden europäischen Staaten politisch und militärisch Regionalmächte. Ob die zweite Nachkriegszeit eine Festigung "nationalgesellschaftlicher und nationalkultureller Homogenität" brachte und Charles de Gaulle als "überzeugter Nationalist" dafür symbolisch war, erscheint dem Rezensenten dennoch zweifelhaft.

Das Buch bietet keine kontinuierlich erzählte Geschichte, sondern anhand zentraler Themenblöcke chronologisch eine problemorientierte Analyse in zuweilen essayistischer Form. So werden der Erste Weltkrieg und seine Folgen als Beispiel "imperialer Konfrontation", das Spannungsfeld von Nationalisierung und Demokratisierung exemplarisch anhand des Parteienspektrums und der Verfassungsstrukturen, die Sinnkrise im Gefolge der Modernisierung und die Suche nach neuen Ordnungen, die Weltwirtschaftskrise und ihre ökonomischen, vor allem aber gesellschaftlichen Folgen als Wendepunkt und Scharnier zwischen scheiternden Demokratien und aufsteigenden antidemokratischen Bewegungen behandelt. Einen Schwerpunkt bildet die Typologie der autoritären Herrschaftsformen, vor allem diejenige der ideologiegeleiteten Diktaturen Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, wobei das italienische Exempel als Vorbild autoritärer und nationalsozialistischer Herrschaft in Europa besonders gelungen ist. Schließlich bildet die extreme imperiale Expansion als Ziel und zeitweilige Realität der italienischen, sowjetischen und deutschen Machteroberung mit ihren Gewaltexzessen, dem ideologisch-rassistischen Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschland und seine Besatzungspolitik in Osteuropa sowie der Massenmord an mindestens 5,7 Millionen europäischen Juden einen Schwerpunkt, wohingegen die sowjetische Besatzungspolitik etwas kursorisch dargestellt wird.

Während die politische Geschichte der Staaten sowie die internationalen Beziehungen nur knapp und exemplarisch dargestellt werden, liegt die Stärke einerseits in der Typologisierung, andererseits in der multithematischen Anlage: So werden die Kommunikationsrevolution, lebensweltliche Dimensionen, die urbane Lebensweise als Labor der Moderne, der generationelle, soziale und technische Wandel, Krisenbewusstsein und Orientierungssuche in die Interpretation einbezogen. Dabei geht es zuweilen ohne holzschnittartige Verallgemeinerungen nicht ab, doch verweist der Autor immer wieder auf regionale Differenzen stärker agrarisch beziehungsweise industriell geprägter Regionen und die Konsequenzen für gesellschaftliche Mentalitäten. Insgesamt erfolgt die Interpretation in einzelnen Abschnitten deduktiv aus einer europäischen Vogelperspektive. Demgegenüber ist die besonders überzeugende Analyse der sozialpsychologischen Ursachen und der Symbolpolitik der modernen Diktaturen in Italien, Deutschland und der Sowjetunion phänomenologisch angelegt. Dabei erinnert Raphael daran, dass die NS-Diktatur bis 1938 trotz ihres Terrors (im Unterschied zur stalinistischen Sowjetunion) eher im Rahmen der in Europa verbreiteten autoritären Herrschaftsformen zu verorten ist, bevor mit dem Weg in den Krieg die ideologiegeleitete extreme Brutalisierung begann.

Der große Vorzug der konsequent durchgehaltenen europäischen Perspektive ist es, ohne Berührungsängste und Vorurteile Vergleiche durchzuführen und damit beispielsweise sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Besonderheiten der kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen und ihrer chronologischen - partiell auch kausalen - Bedingungszusammenhänge herauszustellen. Dabei zeigt sich immer wieder, in welchem Maße auch Phänomene, die die "Sonderwegs"-Anhänger als spezifisch deutsch apostrophiert hatten, europäische Phänomene waren, wenngleich in oftmals spezifischer nationaler Ausprägung. Die Skala reicht von der nationalen Mobilisierung mit imperialistischer Zielsetzung als Leitthema des Buches über die europäische Modernisierungskrise bis zu einzelnen Sektoren. So war die Eugenik nicht spezifisch deutsch, Zwangssterilisierung gab es selbst in skandinavischen Staaten noch nach 1945. So wird auch der in der Forschung lange Zeit verkannte Rassismus im italienischen Faschismus erwähnt, anderseits aber der unterschiedlichen sozialen Basis der Diktaturen ebenso Rechnung getragen wie der in Kommunismus und Nationalsozialismus analogen Ideologie der Erschaffung eines neuen Menschen, wozu eigene "Sozialtechnologien" entwickelt wurden. Ein ebenfalls souveräner Überblick, der sich bisher in europäischen Geschichten nicht findet, gilt den nationalen Erinnerungskulturen an den dargestellten Zeitraum in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine überzeugende Deutung des "Zeitalters der Extreme".

HORST MÖLLER

Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945. C. H. Beck Verlag, München 2011. 319 S., 14,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als Erkenntnisgewinne aus vorliegendem Band referiert der Politologe und PR-Chef des Metro-Konzerns Thomas Speckmann, dass sich Europas Geschichte seit der Französischen Revolution "vor einem Horizont offener Zukunftsmöglichkeiten" bewegte und dass die Jahrzehnte seit 1880 "als unmittelbare Vorgeschichte der Weltkriegsepoche erscheinen". Hm, das klingt ja grundstürzend, denkt man, und Speckmann fährt fort: In allen Regionen Europas hat es in dieser Zeit die "gleichen Basisprozesse der Modernisierung" gegeben. Als grundlegende Tendenzen mache Raphael außerdem noch einen "Zusammenstoß zweier politischer Ordnungsmodelle", nämlich Nation und Imperium aus. Speckmann findet das alles sehr anregend, obwohl er gleich zu Beginn seiner Rezension konstatierte, dass über diese Epoche der europäischen Geschichte alles in allem schon recht viel geschrieben worden sei.

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