Haben wir die Zeiten des Imperialismus nicht längst hinter uns gelassen?Wenn man erwägt, in welchem Maße sich der Globale Norden nach wie vor an den ökologischen und sozialen Ressourcen des Globalen Südens bedient, rücken die Begriffe »Globaler Kapitalismus« und »Imperialismus« wieder näher zusammen. Unsere Muster von Produktion und Konsum erfordern einen überproportionalen Zugriff auf Ressourcen, Arbeitskraft und biologische Senken der restlichen Welt. Mit anderen Worten: Die Ausbeutung von Mensch und Natur hält nach wie vor an - und nimmt weiter an Fahrt auf.Ulrich Brand und Markus Wissen legen in ihrem Buch eine umfassende Krisenbeschreibung vor, die zeigt, wie inadäquat die aktuellen, oft marktförmigen und technischen Strategien der Problemlösung im Kapitalismus sind. Das Buch erinnert eindringlich daran, wie notwendig eine umfassende »sozial-ökologische Transformation« hin zu einer solidarischen Lebensweise ist und wie man sie auf den Weg bringen kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2017Geländewagen sind Unheilsboten
Wie wir versuchen, unsere exklusive Lebensweise zu retten: Ulrich Brand und Markus Wissen zeigen, dass das westliche Wirtschaften seine eigenen Bedingungen untergräbt.
Wer brettert so spät durch Nacht und Wind? Es ist der SUV-Fahrer mit seinem Kind. Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind und der SUV der Wonneproppen unter seinen Zöglingen. Wer hierzulande etwas auf sich hält, fährt auf dem Heimweg von einem langen Bürotag mit seinem 2,5-Tonner noch kurz beim Getränkemarkt vor und nimmt einen Kasten Feierabendbier mit. Selbstverständlich das mit dem Regenwald-Projekt zum Schutz der Biodiversität in Zentralafrika. Ehrensache.
Angeblich kann sich der Regenwald ja auch darüber freuen, dass der durchschnittliche Spritverbrauch der auf deutschen Straßen verkehrenden Pkw seit Jahren sinkt und ihre Abgaswerte zuletzt immer besser geworden sind. Da man den entsprechenden Herstellerangaben allerdings wohl nicht mehr bedenkenlos trauen kann, mag ein anderes, eher fälschungssicheres Datum aussagekräftiger sein: Die Motorleistung der in Deutschland verkauften Neuwagen ist zwischen 1995 und 2014 von bereits stolzen 95 auf satte 140 PS gestiegen. Ein Anstieg um die Hälfte innerhalb von zwanzig Jahren - während das Umweltbewusstsein der deutschen Autokäufer derweil konstant geblieben sein dürfte. Ich bin froh, dass ich ein Dicker bin: Mehr Gewicht und mehr PS geben halt auch mehr Sicherheit. Das gute Gefühl, noch mal zulegen zu können, wenns beim Überholen eng wird. Und im Falle eines Unfalls selbst unversehrt zu bleiben, womöglich sogar ohne einen Kratzer am Blech. Pardon, an der Karbonfaser.
Für Ulrich Brand und Markus Wissen sind die sogenannten Sport Utility Vehicles und deren geradezu wahnwitziger Verkaufserfolg in den reichen Industrienationen ein Symbol dessen, was sie die "imperiale Lebensweise" nennen. Und auf eine Weise ist der SUV auch deren Menetekel: das Vorzeichen eines drohenden Unheils, das man nicht nur hat kommen sehen, sondern nach Kräften mit befördert hat. Als imperial bezeichnen die Autoren jene Lebensweise, die sich spätestens mit dem enormen Wohlstandszuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg in unseren Breiten eingebürgert hat: reich nicht nur an Konsumchancen und Optionsvielfalt, sondern auch an Kohlenstoffausstoß und Ressourcenverbrauch, an Flächennutzung und der Inanspruchnahme biologischer Senken zur Bindung der CO2-Emissionen. Imperial, sprich: ihre Herrschaftsansprüche anmeldend und durchsetzend, ist diese Lebensweise in einem doppelten Sinne.
Nach innen, also in den früh industrialisierten Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre selbst, beherrscht die auf beständigem wirtschaftlichen Wachstum und der billigen Verfügbarkeit fossiler Energieträger beruhende Lebensweise die Interessenlagen und Problemdefinitionen nicht nur von Unternehmen und politisch Verantwortlichen, sondern auch die der Bürger als Lohnabhängige und Konsumenten. Permanentes Wachstum bildete in den industriellen Nachkriegsgesellschaften die materielle Basis des historischen Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital, das in immer größerer Menge geförderte und vielfältiger eingesetzte Erdöl fungierte als Schmiermittel ihres vielgerühmten "sozialen Friedens".
Die mit der Zeit selbstverständlich gewordene, ja sich geradezu verselbständigende Vorstellung eines im Prinzip unbegrenzten Zugriffs auf die stofflichen Voraussetzungen des Wachstums stellt die Verbindung her zur zweiten Dimension imperialer Lebensweise. Denn Herrschaftscharakter hatte diese und hat sie bis heute, insbesondere nach außen, gegenüber den weniger "entwickelten" Weltregionen. Natürliche und menschliche Ressourcen außerhalb der kapitalistischen Zentren, die Bodenschätze und Arbeitskräfte in den Ländern des globalen Südens, gelten Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft im globalen Norden als ewig sprudelnde und folgenlos anzuzapfende Energiespender des westlichen Lebensstils.
Was das Imperiale an den hiesigen Produktions- und Konsum-, Aneignungs- und Ausbeutungsweisen komplett macht, ist der schier übermächtige Sog, den diese auf die Gesellschaften an den Peripherien des globalen Kapitalismus ausüben. Die postsozialistische Globalisierung nach dem Epochenbruch 1989/90 beziehungsweise die damit einhergehende Verallgemeinerung kapitalistischer Konkurrenz und konsumistischer Kulturideale hat auch die großen "Schwellenländer" dieser Welt auf die Fährte der imperialen Lebensweise gesetzt.
Genau dafür müssen die Emporkömmlinge aus Fernost jetzt allerdings in der öffentlichen Meinung der reichen Demokratien büßen. Allen voran "die Chinesen" gelten uns als böser Mann der Globalisierung, obwohl sie doch, von der Weltmarktflutung mit billiger Massenproduktion à la Vereinigte Staaten über die Übernahme europäischer Unternehmen bis hin zum land grabbing in Afrika, nur das nachvollziehen, was seit jeher gängige außenwirtschaftliche Praxis der westlichen Industrienationen gewesen ist. Die in der Tat gewaltigen ökologischen und sozialen Probleme, die die entfesselten industriekapitalistischen Entwicklungsstrategien Chinas, Indiens, Vietnams und anderer aufstrebender Länder mit sich bringen, sprechen in Wahrheit vor allem für eines: für die Tatsache, dass die imperiale Lebensweise nicht verallgemeinerbar ist. Diese lebt nämlich gerade von ihrer Exklusivität, also davon, dass nicht alle an ihr teilhaben können.
Das äußerst lesenswerte Buch von Brand und Wissen deckt diesen folgenreichen inneren Widerspruch auf: Die imperiale Lebensweise untergräbt ihre eigenen Funktionsbedingungen. Die dominante Reaktion darauf besteht derzeit in händeringenden Versuchen, deren Exklusivität auch unter veränderten Bedingungen zu sichern. Der amerikanische Neoprotektionismus kündet davon ebenso wie das europäische Grenzregime. Oder, um zur "imperialen Automobilität" zurückzukommen, die vielstimmige Feier des Elektroautos sowie all der anderen "ökologischen Modernisierungsprojekte", die auf ein Weiter-so im freundlichen Gewand der green economy setzen.
"Wir Grünen bekennen uns zum Automobilstandort Deutschland", so jüngst Cem Özdemir, der wahlkämpfende Spitzenkandidat der einstigen Eine-Welt- und heutigen Allerweltspartei, "wir wollen, dass das saubere Auto der Zukunft bei uns in Deutschland gebaut wird." Sauber weiterbrettern, mit wundersam weltenrettender Technologie made in Germany - so hätten sie es gern, die deutschen Grünen und grünen Deutschen.
STEPHAN LESSENICH
Ulrich Brand und Markus Wissen: "Imperiale Lebensweise". Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus.
Oekom Verlag, München 2017. 224 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie wir versuchen, unsere exklusive Lebensweise zu retten: Ulrich Brand und Markus Wissen zeigen, dass das westliche Wirtschaften seine eigenen Bedingungen untergräbt.
Wer brettert so spät durch Nacht und Wind? Es ist der SUV-Fahrer mit seinem Kind. Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind und der SUV der Wonneproppen unter seinen Zöglingen. Wer hierzulande etwas auf sich hält, fährt auf dem Heimweg von einem langen Bürotag mit seinem 2,5-Tonner noch kurz beim Getränkemarkt vor und nimmt einen Kasten Feierabendbier mit. Selbstverständlich das mit dem Regenwald-Projekt zum Schutz der Biodiversität in Zentralafrika. Ehrensache.
Angeblich kann sich der Regenwald ja auch darüber freuen, dass der durchschnittliche Spritverbrauch der auf deutschen Straßen verkehrenden Pkw seit Jahren sinkt und ihre Abgaswerte zuletzt immer besser geworden sind. Da man den entsprechenden Herstellerangaben allerdings wohl nicht mehr bedenkenlos trauen kann, mag ein anderes, eher fälschungssicheres Datum aussagekräftiger sein: Die Motorleistung der in Deutschland verkauften Neuwagen ist zwischen 1995 und 2014 von bereits stolzen 95 auf satte 140 PS gestiegen. Ein Anstieg um die Hälfte innerhalb von zwanzig Jahren - während das Umweltbewusstsein der deutschen Autokäufer derweil konstant geblieben sein dürfte. Ich bin froh, dass ich ein Dicker bin: Mehr Gewicht und mehr PS geben halt auch mehr Sicherheit. Das gute Gefühl, noch mal zulegen zu können, wenns beim Überholen eng wird. Und im Falle eines Unfalls selbst unversehrt zu bleiben, womöglich sogar ohne einen Kratzer am Blech. Pardon, an der Karbonfaser.
Für Ulrich Brand und Markus Wissen sind die sogenannten Sport Utility Vehicles und deren geradezu wahnwitziger Verkaufserfolg in den reichen Industrienationen ein Symbol dessen, was sie die "imperiale Lebensweise" nennen. Und auf eine Weise ist der SUV auch deren Menetekel: das Vorzeichen eines drohenden Unheils, das man nicht nur hat kommen sehen, sondern nach Kräften mit befördert hat. Als imperial bezeichnen die Autoren jene Lebensweise, die sich spätestens mit dem enormen Wohlstandszuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg in unseren Breiten eingebürgert hat: reich nicht nur an Konsumchancen und Optionsvielfalt, sondern auch an Kohlenstoffausstoß und Ressourcenverbrauch, an Flächennutzung und der Inanspruchnahme biologischer Senken zur Bindung der CO2-Emissionen. Imperial, sprich: ihre Herrschaftsansprüche anmeldend und durchsetzend, ist diese Lebensweise in einem doppelten Sinne.
Nach innen, also in den früh industrialisierten Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre selbst, beherrscht die auf beständigem wirtschaftlichen Wachstum und der billigen Verfügbarkeit fossiler Energieträger beruhende Lebensweise die Interessenlagen und Problemdefinitionen nicht nur von Unternehmen und politisch Verantwortlichen, sondern auch die der Bürger als Lohnabhängige und Konsumenten. Permanentes Wachstum bildete in den industriellen Nachkriegsgesellschaften die materielle Basis des historischen Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital, das in immer größerer Menge geförderte und vielfältiger eingesetzte Erdöl fungierte als Schmiermittel ihres vielgerühmten "sozialen Friedens".
Die mit der Zeit selbstverständlich gewordene, ja sich geradezu verselbständigende Vorstellung eines im Prinzip unbegrenzten Zugriffs auf die stofflichen Voraussetzungen des Wachstums stellt die Verbindung her zur zweiten Dimension imperialer Lebensweise. Denn Herrschaftscharakter hatte diese und hat sie bis heute, insbesondere nach außen, gegenüber den weniger "entwickelten" Weltregionen. Natürliche und menschliche Ressourcen außerhalb der kapitalistischen Zentren, die Bodenschätze und Arbeitskräfte in den Ländern des globalen Südens, gelten Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft im globalen Norden als ewig sprudelnde und folgenlos anzuzapfende Energiespender des westlichen Lebensstils.
Was das Imperiale an den hiesigen Produktions- und Konsum-, Aneignungs- und Ausbeutungsweisen komplett macht, ist der schier übermächtige Sog, den diese auf die Gesellschaften an den Peripherien des globalen Kapitalismus ausüben. Die postsozialistische Globalisierung nach dem Epochenbruch 1989/90 beziehungsweise die damit einhergehende Verallgemeinerung kapitalistischer Konkurrenz und konsumistischer Kulturideale hat auch die großen "Schwellenländer" dieser Welt auf die Fährte der imperialen Lebensweise gesetzt.
Genau dafür müssen die Emporkömmlinge aus Fernost jetzt allerdings in der öffentlichen Meinung der reichen Demokratien büßen. Allen voran "die Chinesen" gelten uns als böser Mann der Globalisierung, obwohl sie doch, von der Weltmarktflutung mit billiger Massenproduktion à la Vereinigte Staaten über die Übernahme europäischer Unternehmen bis hin zum land grabbing in Afrika, nur das nachvollziehen, was seit jeher gängige außenwirtschaftliche Praxis der westlichen Industrienationen gewesen ist. Die in der Tat gewaltigen ökologischen und sozialen Probleme, die die entfesselten industriekapitalistischen Entwicklungsstrategien Chinas, Indiens, Vietnams und anderer aufstrebender Länder mit sich bringen, sprechen in Wahrheit vor allem für eines: für die Tatsache, dass die imperiale Lebensweise nicht verallgemeinerbar ist. Diese lebt nämlich gerade von ihrer Exklusivität, also davon, dass nicht alle an ihr teilhaben können.
Das äußerst lesenswerte Buch von Brand und Wissen deckt diesen folgenreichen inneren Widerspruch auf: Die imperiale Lebensweise untergräbt ihre eigenen Funktionsbedingungen. Die dominante Reaktion darauf besteht derzeit in händeringenden Versuchen, deren Exklusivität auch unter veränderten Bedingungen zu sichern. Der amerikanische Neoprotektionismus kündet davon ebenso wie das europäische Grenzregime. Oder, um zur "imperialen Automobilität" zurückzukommen, die vielstimmige Feier des Elektroautos sowie all der anderen "ökologischen Modernisierungsprojekte", die auf ein Weiter-so im freundlichen Gewand der green economy setzen.
"Wir Grünen bekennen uns zum Automobilstandort Deutschland", so jüngst Cem Özdemir, der wahlkämpfende Spitzenkandidat der einstigen Eine-Welt- und heutigen Allerweltspartei, "wir wollen, dass das saubere Auto der Zukunft bei uns in Deutschland gebaut wird." Sauber weiterbrettern, mit wundersam weltenrettender Technologie made in Germany - so hätten sie es gern, die deutschen Grünen und grünen Deutschen.
STEPHAN LESSENICH
Ulrich Brand und Markus Wissen: "Imperiale Lebensweise". Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus.
Oekom Verlag, München 2017. 224 S., geb., 14,95 [Euro].
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»(...) eine äußerst lesenswerte Analyse der aktuellen Umweltproblematik (...)« Österreichischer Rundfunk »(...) äußerst lesenswert« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Ein brisantes Buch, das nicht nur die multiplen Krisen unserer Zeit verstehen hilft, sondern auch Ansätze aufzeigt, sie zu überwinden.« taz