Produktdetails
  • Verlag: Harvard University Press
  • Seitenzahl: 505
  • Englisch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 678g
  • ISBN-13: 9780674000568
  • Artikelnr.: 09619286
Autorenporträt
Hans Ulrich Gumbrecht wurde 1948 in Würzburg geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca (Spanien) und Pavia (Italien). Nach seiner Habilitation 1974 war er von 1975 - 1982 Professor in Bochum und von 1983 - 1989 an der Universität in Siegen. Er nahm Gastprofessuren an zahlreichen ausländischen Universitäten wahr; u. a. am College de France. Seit 1989 ist er Professor für Komparatistik an der Universität Stanford. Gumbrecht ist Mitherausgeber der Grundrisse der romanischen Literaturen des Mittelalters, Figurae - Readings in Medieval Culture, Writing Scene, und Espaces Metisses und schreibt regelmäßig für die F rankfurter Allgemeine Zeitung und für Merkur - Zeitschrift für europäisches Denken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.1998

Zeitgenossen

1926, zwei Tage nach Weihnachten, besucht Walter Benjamin seine Freundin Asja Lacis, die sich in einem Moskauer Sanatorium erholt. "In den letzten Tagen", notiert er in seinem Tagebuch, "haben Liegestunden im Freien ihr gut getan. Sie freut sich, wenn sie im Sack liegt und in der Luft die Raben schreien hört. Auch glaubt sie, daß die Vögel sich genau organisiert haben und von dem Führer über das, was sie zu tun haben, verständigt werden; bestimmte Schreie, denen eine lange Pause vorhergeht, sind, meint sie, Befehle, die von allen befolgt werden."

Bisher hatte kein Leser in dieser poetisch-soziologischen Arabeske der "bolschewistischen Lettin", wie sie Benjamin nannte, etwas Interpretationswürdiges gefunden. Erst dem in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht glückt es durch eine Blickverschiebung, die Tagebuchstelle zum Sprechen zu bringen, indem er sich völlig der Zufallsanordnung auszuliefern scheint, wie sie in den Ereignissen innerhalb einer Jahreszahl vorliegt. Für diese Jahreszahl hat er ein Maximum an Symptomen und Phänomenen zusammengetragen ("In 1926. Living at the edge of time". Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1997). 1926 ist das Jahr, in dem die Zahl der europäischen Gesellschaften, deren politisches System von Führern beherrscht ist, rapide ansteigt. Gumbrecht zählt sie auf: Pilsudski wird durch eine Militärrevolte zum polnischen Präsidenten, ähnlich der General Gomes da Costa in Portugal. Stalin beginnt mit der Ausschaltung Trotzkis, der belgische König erhält vom Parlament diktatorische Gewalten zur Lösung einer Finanzkrise zugesprochen. In Litauen läßt Antanas Smetona die Regierung verhaften und proklamiert sich zum Präsidenten. Und in Deutschland? 1926 erscheint Hitlers "Mein Kampf".

Assoziationen wie diese - und Gumbrechts Buch ist voll davon - gelingen nur aus großem Abstand. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die beiden wichtigsten Bücher der letzten Jahre zur Weimarer Moderne im Ausland konzipiert wurden. Helmut Lethen, dessen Studie "Verhaltenslehren der Kälte" die unheimlichen Nachbarschaften von Brecht und Ernst Jünger, Carl Schmitt und Benjamin aufdeckte, lehrte damals noch in Utrecht. Es mag sein, daß aus der immer aufs Neue verkeilten, festgebissenen deutschen Debatte ein Ausweg sich leichter auftut, wenn man auch nur ein wenig geographische Distanz gewinnt.

Hierzulande sieht man die Geschichte gern unter moralischen Prämissen. Sie soll im öffentlichen Gebrauch sittigend wirken - ähnlich einer Therapie, die durch Bewußtmachung ein Symptom zu beseitigen vermag. "Erinnern" und "Verdrängen" sind die Stichworte, an denen die Grenzverwischung von Politik und Psychoanalyse deutlich wird. Die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens: Historia magistra vitae. So aber lautet - Gumbrecht macht es im Anschluß an Kosellecks berühmten Essay deutlich - der vormoderne Grundsatz von den Aufgaben der Historiographie. "After Learning from History" heißt die abschließende methodologische Studie seines Buches.

Sie plädiert für eine Suspendierung didaktisch-moralischer Ansprüche bei der Forschung. Aber sie grenzt sich auch gegen die unverbindlichen "Erfindungen" von Geschichte ab, wie sie im Gefolge von Hayden White aufgekommen sind. Von der Realität, so Gumbrecht, sollten wir zwar nicht dogmatisch reden, aber ohne Realitätshunger ist ein Historiker nicht denkbar. Rehabilitiert wird das "Begehren nach geschichtlicher Wirklichkeit".

Das Buch gibt Realien in Fülle. Anders als Lethen, dessen Studien sich auf die deutsche Literatur begrenzten, sieht Gumbrecht neben Europa auch die Vereinigten Staaten und Südamerika. Wenn sich unter der anarchischen Oberfläche ein Strukturmuster durchsetzt, dann ist es die Stilisierung und Inszenierung der Körper, die Gumbrecht in allen Formen beobachtet. 1926 ist das Jahr der Stierkämpfe, die die Literaten ebenso zu interessieren beginnen wie das Boxen und Extremsportarten wie Sechstagerennen und Bergsteigen - andererseits das Jahr der ostentativen Weiblichkeit Josephine Bakers.

Vierunddreißig Sachartikel sind es, von "Airplanes" bis "Wireless Communication" nach dem Alphabet geordnet, in denen die Dinge und Praktiken der zwanziger Jahre auftauchen. Wie in einem Lexikon sind sie durch Querverweise verbunden, so daß man das Buch überall beginnen kann. Zehn "Codes" schließen sich an, in denen Gegensatzpaare der Zeit durchgespielt werden: Tat und Ohnmacht, Echtheit und Künstlichkeit, Stille und Lärm. Es folgen sieben Begriffskrisen ("Codes Collapsed"). Sie geben die metaphysische Antithese zur "physikalischen" Eröffnung, die aus dem Zusammenprall der Körper ihre Themen gewinnt. Überall wird ja in den lustvoll übernommenen Risiken der Tod provoziert. Heidegger schließt das Manuskript von "Sein und Zeit" 1926 ab.

Die deutsche Germanistik wird lange an diesem Buch zu arbeiten haben. Denn es ist auch eine Studie über Hitler, durchgeführt mit dem besten gegenwärtig verfügbaren Instrumentarium der Literaturwissenschaft. Fast jeder Artikel läßt ihn zu Wort kommen, der zur Weimarer Moderne das letzte Wort hatte. Aus der Perspektive von 1926 erkennt man Hitler als Zeitgenossen, der mit unheimlicher Präzision alles aufzugreifen verstand, was in der Luft lag, der zu allem eine Meinung hatte, ob es sich nun um Streiks handelte oder um die Hosenlänge, um die Berliner Kinos, um die Fehmemorde oder um die Geopolitik. Das Jahr 1998, das mit Ian Kershaws Hitlerbiographie ein Werk der klassischen Historiographie brachte, hat ihm mit Gumbrechts Buch über das Jahr 1926 die Antwort der aktuellsten Kulturwissenschaft zur Seite gestellt. LORENZ JÄGER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr