Die indischen Buddenbrooks - Neel Mukherjee erzählt meisterhaft vom dramatischen Verfall einer Familie und seziert dabei die Seele einer Nation. Opulent, wild und gnadenlos ehrlich. »Ma, ich gehe fort. Ich bin erschöpft vom Konsumieren, vom Nehmen und Raffen. Ich bin so vollgestopft, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich gehe fort, um mich zu reinigen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich habe das Gefühl, in einem geborgten Haus zu leben. Es ist Zeit, mein eigenes zu suchen. Verzeih mir.«Kalkutta, 1967 - die Stadt befindet sich im Aufruhr, Studenten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, Betriebe werden bestreikt. Angetrieben von dem Wunsch, sein eigenes Leben und die Welt zu verändern, hat sich Supratik, der älteste Enkel im Haus der Ghoshes, einer maoistischen Gruppierung angeschlossen.Während er versucht, die landlosen Tagelöhner für den bewaffneten Kampf zu gewinnen, und sich dabei in die Widersprüche zwischen politischem Idealismus und terroristischer Aktion verstrickt, bleiben die Zeichen der Zeit hinter den Mauern des Familiensitzes unerkannt. Noch herrschen der alternde Patriarch und seine Frau über die weitverzweigte Familie und ein Unternehmen, das diese in Wohlstand leben lässt. Aber so wenig sie die Brüchigkeit der alten Ordnung erkennen, so blind sind sie für die dunklen Geheimnisse der Kinder, die Intrigen der Schwiegertöchter und den schleichenden Kollaps des Familienunternehmens, der die Familie schließlich vor eine Zerreißprobe stellt.Meisterhaft erzählt Neel Mukherjee die Geschichte vom Verfall einer Familie und seziert dabei die Seele einer Nation.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der neue Roman von Neel Mukherjee erinnert den Rezensenten Hans-Peter Kunisch an die Buddenbrooks - aber dann auch wieder nicht: Schließlich gehe es in dem indischen Familien- und Politroman um den Abstieg von Neureichen. In jedem Fall war es für den Rezensenten eine eindringliche Leseerfahrung. Diese entstehe einerseits durch die Verquickung von zwei Erzählsträngen und miteinander verschränkten Geschichten, andererseits durch die bildhafte, präzise Sprache Mukherjees, der bei der Schilderung von Folterszenen auch seine "Begabung für Schwieriges" offenbare. Nicht ganz gelungen ist der Versuch, einem der Protagonisten einen maoistischen Jargon zu unterlegen, so Kunisch. Doch insgesamt empfiehlt er diesen Roman als wirklichkeitsnah, gut lesbar und psychologisch stimmig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2016Wie ein Bild von Hieronymus Bosch
Der bengalische Schriftsteller Neel Mukherjee erzählt in seinem labyrinthisch verschachtelten Roman vom Schicksal einer indischen Großfamilie. "In anderen Herzen" gibt fesselnde Einblicke ins politische Spannungsfeld der späten sechziger Jahre.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, sollte starke Nerven mitbringen. Auf sechshundert Seiten wird eine industrielle Großfamilie der Mittelklasse Kalkuttas porträtiert: als Hölle aus Zank, Bespitzelung, übler Nachrede, giftigen Phantasien, Gehässigkeit, körperlicher und seelischer Ausbeutung, Gier, Standesdünkel, Neid, Rachsucht, innerer Erstarrung - und das im Kleid bürgerlicher Wohlanständigkeit. Die Hölle sind wir, sagte Sartre. Genau so ist es. Eine fremde, tropisch-schwüle, hässliche und lieblose Welt.
Der Roman des bengalischen Schriftstellers Neel Mukherjee - der neue Stern am Himmel der indischen Literatur in englischer Sprache -, in Kalkutta geboren, inzwischen in London ansässig, saugt die Leser in ein labyrinthisches Welttheater-im-Kleinen hinein und lässt sie bis zur letzten Seite nicht mehr los. Nur die Spanne von 1967 bis 1970 wird dargestellt, eine Zeit, als Kalkutta politisch und sozial brodelte. Die Marxisten drängten an die Macht, um die Regierung der bürgerlichen Congress-Partei abzulösen. Unzufrieden mit beiden Parteien, zettelten idealistische Stadtjungen die maoistische Revolution in den Dörfern Westbengalens an, um die ländliche Unterdrückung durch Großgrundbesitzer, Geldverleiher und die Bürokratie mit Gewalt zu brechen. Benannt nach dem nordbengalischen Dorf Naxalbari, wo die Bauern zuerst für ihre Rechte kämpften, sollten die Guerrilleros als "Naxaliten" in die Geschichte eingehen.
In diesem politischen Spannungsfeld wird die Großfamilie Ghosh dargestellt. Drei Generationen leben in einem Haus zusammen. Eine fortlaufende Geschichte entsteht nicht, vielmehr zieht Mukherjee die Leser durch minutiöse Ausmalung der Handlungen einer Vielzahl von Personen in seinen Bann. Der Roman wirkt wie ein wimmelndes Tableau, wie ein Hieronymus-Bosch-Bild, auch ebenso grausam und bizarr. Durch ständige Sprünge zurück in die erinnerte Vergangenheit wird der langsame, kaum wahrnehmbare Niedergang der Familie nachvollziehbar. Der Firmengründer Prafullanath Ghosh hatte Energie und Innovationsgeist in seine Geschäfte investiert, hatte expandiert und konsolidiert. Dessen Sohn Adinath, das älteste von fünf Kindern, übernimmt sie unwillig und ohne unternehmerischen Verstand. Marxistisch inspirierte Gewerkschaften schließen die Fabrik. Die Familie befürchtet, ihren sozialen Status zu verlieren.
Die Ghoshs sind von ihren bürgerlichen Gewohnheiten, dem Ehrgefühl, dem feudalistischen Gehabe, dem Prestige der Mittelklasse wie in ein Gefängnis gesperrt, aus dem nur Supratik, der älteste Sohn von Adinath, entkommen kann - mit entsetzlichen Folgen. Als Maoist will er die Bauern befreien und kehrt zurück, als seine Genossen durch Polizeikugeln umkommen. Doch in Kalkutta wird er als Terrorist entlarvt, geschnappt, gefoltert und erschossen.
Die übrigen Mitglieder des Haushalts erstarren in Angst, doch ihre Mentalität ändert sich nicht. Chhaya kann nicht verheiratet werden, weil ihre Hautfarbe zu dunkel ist. Purba, eine Witwe, muss für ihr Schicksal mit Verachtung büßen. Priyonath, der zweitälteste Sohn, lenkt sich mit sexuellen Abenteuern ab. Madan, der altgediente Koch, wird, nachdem man Schmuck in seinem Zimmer gefunden hat, verstoßen und den grausamen Methoden der Polizei überlassen. Er ist es nicht wert, dass sich die Familie für ihn einsetzt. Aus dem Gefängnis entlassen, wirft er sich vor einen Zug. Ein weiterer Sohn flieht in die Scheinwelt der Drogen.
Keine brutale Einzelheit bleibt uns erspart. Das Folterverhör von Supratik wird bildreich über zwanzig Seiten beschrieben, wir erfahren auch genau, wie Bomben gebastelt werden. Die Verruchtheit der Polizisten wird bis in die geheimen Hirnwindungen des Bösen analysiert. Das durchtriebene Lachen eines Polizisten liest sich zum Beispiel so: "Dieses Lachen zu hören gibt einem ein Gefühl, als bekäme man einen Eimer kalten Nasenrotz über den Kopf geschüttet; man möchte sich anschließend stundenlang abschrubben." Die Wirkung dieser Sprache wird erhöht durch die hervorragende Übersetzung des bewährten Übersetzerteams Giovanni und Ditte Bandini, das sich durch zahlreiche kompetente Arbeiten um die indische Literatur verdient gemacht hat.
Ein Lichtblick ist der Sohn Swarnendu, abgekürzt Sona, den sein Lehrer als "eine schier übernatürliche Begabung für Mathematik", als "Wunderkind", entdeckt. Typischerweise ist es dieser letzte Spross, der, in sich verschlossen, den giftigen Atem der Familie kaum wahrnimmt. Sein Verstand lebt in den Räumen der Abstraktion. Er darf mit seines Lehrers Hilfe fünfzehnjährig in die Vereinigten Staaten entfliehen und wird dort ein einsamer, aber vielgeachteter Mathematikprofessor.
Neel Mukherjees sprachliche Genauigkeit und unerschöpfliche Ausführlichkeit ist mit Sarkasmus und Ironie gewürzt. Anspielungsreich spricht etwa die französische Ordensschwester einer Schule den Namen "Ghosh" als "Gauche" aus - eben das ist die Familie: "linkisch", im Grunde lebensuntauglich. Mukherjee fehlen der hymnische Schwung und die Sprachverspieltheit eines Salman Rushdie. Darum wirkt Rushdie, obwohl ebenso ätzend in der Sozialanalyse, versöhnlicher. Mukherjee geht es nicht um Satzmagie und Vision. Doch tränkt er seine Milieuschilderung mit einem explosiven Wirklichkeitsgefühl, dem kein Leser entrinnen kann.
MARTIN KÄMPCHEN
Neel Mukherjee: "In anderen Herzen". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 640 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der bengalische Schriftsteller Neel Mukherjee erzählt in seinem labyrinthisch verschachtelten Roman vom Schicksal einer indischen Großfamilie. "In anderen Herzen" gibt fesselnde Einblicke ins politische Spannungsfeld der späten sechziger Jahre.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, sollte starke Nerven mitbringen. Auf sechshundert Seiten wird eine industrielle Großfamilie der Mittelklasse Kalkuttas porträtiert: als Hölle aus Zank, Bespitzelung, übler Nachrede, giftigen Phantasien, Gehässigkeit, körperlicher und seelischer Ausbeutung, Gier, Standesdünkel, Neid, Rachsucht, innerer Erstarrung - und das im Kleid bürgerlicher Wohlanständigkeit. Die Hölle sind wir, sagte Sartre. Genau so ist es. Eine fremde, tropisch-schwüle, hässliche und lieblose Welt.
Der Roman des bengalischen Schriftstellers Neel Mukherjee - der neue Stern am Himmel der indischen Literatur in englischer Sprache -, in Kalkutta geboren, inzwischen in London ansässig, saugt die Leser in ein labyrinthisches Welttheater-im-Kleinen hinein und lässt sie bis zur letzten Seite nicht mehr los. Nur die Spanne von 1967 bis 1970 wird dargestellt, eine Zeit, als Kalkutta politisch und sozial brodelte. Die Marxisten drängten an die Macht, um die Regierung der bürgerlichen Congress-Partei abzulösen. Unzufrieden mit beiden Parteien, zettelten idealistische Stadtjungen die maoistische Revolution in den Dörfern Westbengalens an, um die ländliche Unterdrückung durch Großgrundbesitzer, Geldverleiher und die Bürokratie mit Gewalt zu brechen. Benannt nach dem nordbengalischen Dorf Naxalbari, wo die Bauern zuerst für ihre Rechte kämpften, sollten die Guerrilleros als "Naxaliten" in die Geschichte eingehen.
In diesem politischen Spannungsfeld wird die Großfamilie Ghosh dargestellt. Drei Generationen leben in einem Haus zusammen. Eine fortlaufende Geschichte entsteht nicht, vielmehr zieht Mukherjee die Leser durch minutiöse Ausmalung der Handlungen einer Vielzahl von Personen in seinen Bann. Der Roman wirkt wie ein wimmelndes Tableau, wie ein Hieronymus-Bosch-Bild, auch ebenso grausam und bizarr. Durch ständige Sprünge zurück in die erinnerte Vergangenheit wird der langsame, kaum wahrnehmbare Niedergang der Familie nachvollziehbar. Der Firmengründer Prafullanath Ghosh hatte Energie und Innovationsgeist in seine Geschäfte investiert, hatte expandiert und konsolidiert. Dessen Sohn Adinath, das älteste von fünf Kindern, übernimmt sie unwillig und ohne unternehmerischen Verstand. Marxistisch inspirierte Gewerkschaften schließen die Fabrik. Die Familie befürchtet, ihren sozialen Status zu verlieren.
Die Ghoshs sind von ihren bürgerlichen Gewohnheiten, dem Ehrgefühl, dem feudalistischen Gehabe, dem Prestige der Mittelklasse wie in ein Gefängnis gesperrt, aus dem nur Supratik, der älteste Sohn von Adinath, entkommen kann - mit entsetzlichen Folgen. Als Maoist will er die Bauern befreien und kehrt zurück, als seine Genossen durch Polizeikugeln umkommen. Doch in Kalkutta wird er als Terrorist entlarvt, geschnappt, gefoltert und erschossen.
Die übrigen Mitglieder des Haushalts erstarren in Angst, doch ihre Mentalität ändert sich nicht. Chhaya kann nicht verheiratet werden, weil ihre Hautfarbe zu dunkel ist. Purba, eine Witwe, muss für ihr Schicksal mit Verachtung büßen. Priyonath, der zweitälteste Sohn, lenkt sich mit sexuellen Abenteuern ab. Madan, der altgediente Koch, wird, nachdem man Schmuck in seinem Zimmer gefunden hat, verstoßen und den grausamen Methoden der Polizei überlassen. Er ist es nicht wert, dass sich die Familie für ihn einsetzt. Aus dem Gefängnis entlassen, wirft er sich vor einen Zug. Ein weiterer Sohn flieht in die Scheinwelt der Drogen.
Keine brutale Einzelheit bleibt uns erspart. Das Folterverhör von Supratik wird bildreich über zwanzig Seiten beschrieben, wir erfahren auch genau, wie Bomben gebastelt werden. Die Verruchtheit der Polizisten wird bis in die geheimen Hirnwindungen des Bösen analysiert. Das durchtriebene Lachen eines Polizisten liest sich zum Beispiel so: "Dieses Lachen zu hören gibt einem ein Gefühl, als bekäme man einen Eimer kalten Nasenrotz über den Kopf geschüttet; man möchte sich anschließend stundenlang abschrubben." Die Wirkung dieser Sprache wird erhöht durch die hervorragende Übersetzung des bewährten Übersetzerteams Giovanni und Ditte Bandini, das sich durch zahlreiche kompetente Arbeiten um die indische Literatur verdient gemacht hat.
Ein Lichtblick ist der Sohn Swarnendu, abgekürzt Sona, den sein Lehrer als "eine schier übernatürliche Begabung für Mathematik", als "Wunderkind", entdeckt. Typischerweise ist es dieser letzte Spross, der, in sich verschlossen, den giftigen Atem der Familie kaum wahrnimmt. Sein Verstand lebt in den Räumen der Abstraktion. Er darf mit seines Lehrers Hilfe fünfzehnjährig in die Vereinigten Staaten entfliehen und wird dort ein einsamer, aber vielgeachteter Mathematikprofessor.
Neel Mukherjees sprachliche Genauigkeit und unerschöpfliche Ausführlichkeit ist mit Sarkasmus und Ironie gewürzt. Anspielungsreich spricht etwa die französische Ordensschwester einer Schule den Namen "Ghosh" als "Gauche" aus - eben das ist die Familie: "linkisch", im Grunde lebensuntauglich. Mukherjee fehlen der hymnische Schwung und die Sprachverspieltheit eines Salman Rushdie. Darum wirkt Rushdie, obwohl ebenso ätzend in der Sozialanalyse, versöhnlicher. Mukherjee geht es nicht um Satzmagie und Vision. Doch tränkt er seine Milieuschilderung mit einem explosiven Wirklichkeitsgefühl, dem kein Leser entrinnen kann.
MARTIN KÄMPCHEN
Neel Mukherjee: "In anderen Herzen". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 640 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2016Der verlorene Sohn
Neel Mukherjee erzählt in seinem Roman „In anderen Herzen“ vom Einbruch der Politik in das Bürgertum Indiens
Der Auftakt zu Neel Mukherjees neuem, von der englischen Autorin A.S. Byatt und vielen anderen Kollegen hochgepriesenem Indien-Roman, ist ein Schauerstück aus der Wirklichkeit: Im Mai 1966 enthauptet der Bauer Nitai Da erst seine Frau, dann seinen ältesten Sohn mit der Sichel, worauf er die zwei kleineren Kinder erwürgt. Am Ende trinkt er Folidol, ein Schädlingsbekämpfungsöl, das aus der Saatzeit übrig geblieben ist. Auch Nitai stirbt – wie seine Familie war er zuvor beinahe verhungert.
So und ähnlich sahen die Schicksale aus, die Ende der Sechzigerjahre zur Bewegung der Naxaliten führten, benannt nach einem blutig niedergeschlagenen Bauernaufstand im westindischen Naxalbari. Unter der Führung von Charu Mazudmar, der den bewaffneten Kampf nach dem Vorbild Maos pries, entwickelte sich an den Universitäten eine Protestbewegung, deren militanter Flügel sich zu einer Mischung aus kubanischen Guerilleros und der RAF entwickelte. Was die indische Gesellschaft ähnlich erschütterte wie damals die BRD.
Das wichtigste Buch zu den indischen Geschehnissen der Zeit war lange Zeit „Mutter von 1048“, ein kurzer Roman der heute neunzigjährigen Mahasweta Devi, der sich empathisch in die Proteste einfühlte . Er erschien 1974, gleich nach dem Ende der größten Unruhen. Jetzt machen zwei Nachgeborene der modernen Klassikerin bengalischer Literatur Konkurrenz. Zuerst die 1967 in England geborene, in den USA aufgewachsene Jhumpa Lahiri mit „The Lowland“ (2013). Kurz danach veröffentlichte Neel Mukherjee „The Lifes of Others“, das unter dem Titel „In anderen Herzen“ jetzt auf Deutsch erschienen ist. Mukherjee, drei Jahre jünger als Lahiri, ist in Kalkutta, einem Zentrum der damaligen Proteste, aufgewachsen. Inzwischen lebt er, der in Oxford und East Anglia studiert hat, in London.
Beide Bücher sind Familien- und Politromane; in beiden wird, wie schon bei Devi, ein Sohn zum militanten Kämpfer. Bei Lahiri sind die aus der Kolonialzeit verbliebenen Strukturen Mitverursacher der Konflikte. Mukherjee ist mehr an innerindischen Ursachen interessiert. Bei ihm verabschiedet sich der Sohn einer bengalischen Familie der oberen Mittelschicht aus seinem Milieu. Seine Mutter findet einen Zettel: „Ma, ich gehe fort. Ich bin erschöpft vom Konsumieren, vom Nehmen und Raffen. Ich gehe fort, um mich zu reinigen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich habe das Gefühl, in einem geborgten Haus zu leben. Es ist Zeit, mein eigenes zu suchen. Verzeih mir.“
Das klingt beinahe so klassisch wie überzeugend. Supratik hat genug vom Standesdünkel und den Eifersüchteleien in der Familie, genug vom schlau erschlichenen Reichtum des Großvaters, der aus dem Beinahe-Nichts zum Papierfabrikanten aufgestiegen ist. Komplizierend wirkt, dass sich die Familie, aufgrund der ökonomischen Krise, Mitauslöser der Aufstände, wieder im Abstieg befindet. Man kann hier kaum von „Buddenbrooks“ sprechen. Die Goshs sind eher Neureiche, die überraschend wieder ärmer werden. Der Großvater und vier Söhne schieben sich gegenseitig die Schuld zu.
Was den durch und durch realistischen Roman zur intensiven Leseerfahrung macht, sind auch die vielen, ineinander verschränkten Geschichten innerhalb der Familie und an ihren Rändern. Eine wichtige Figur ist der Koch Madan, der ins Haus kam, als Supratiks Vater ein Jahr alt war. Mehr als die anderen Familienmitglieder sorgt Madan für ein Gefühl des Zusammenhalts. Daher macht Mukherjee ihn zum Ausgangspunkt für Veränderungen.
Mit dem „Abschied“ des Enkels, seinem Weg in die politische Gewalt, spaltet Mukherjee das Buch früh in zwei Erzählstränge. Parallel zu den Familienquerelen lässt er Supratik in einem „Bericht“ die Verhältnisse in den verarmten bäuerlichen Kampfgebieten schildern. Die erzählerische Öffnung weitet den Blick sozial, politisch und geografisch. Zum Problem wird der Versuch, den maoistischen Jargon der Aufrührer dieser Zeit nachzubilden. Bleierne Gedanken münden in diesen Passagen in eine bleierne Sprache des Romans selbst.
Dass es in Indien noch heute eine kommunistische Partei maoistischer Prägung gibt, die sich als gewaltbereite Nachfolgerin der Naxaliten sieht, bezeugt die Aktualität dieser Passagen. Mukherjees Roman beeindruckt aber vor allem dort, wo er anschaulich wird. Beinahe übergangslos beschreibt er peinigend genau, wie Priyonath, der bräsig wohldifferenziert vor sich hin lamentierende, literarisch interessierte zweite Sohn des Großvaters, von einer Prostituierten unappetitliche Sonderdienste verlangt, was schließlich zu seiner öffentlichen Beschimpfung im Slum führt.
Doch die Slumbewohner spielen für das Selbstwertgefühl der oberen Kasten keine Rolle. Die Nachbarn hingegen sind wichtig. Die Wahrung des Gesichts ist auch für das indische Bürgertum zentral. Als Supratik eines Tages böse zerzaust wieder aufkreuzt, finden die politische und die familiäre Erzählung wieder zusammen. Der verlorene Sohn wird wieder aufgenommen. Doch niemand fragt ihn, was passiert ist. Alle haben Angst, Schreckliches zu erfahren. Erst als ein Terroranschlag Kalkutta erschüttert, zerbricht der Schutzraum Familie endgültig – und noch in derselben Nacht wird Supratik im Haus verhaftet. Es folgen noch einmal fünfundzwanzig Seiten, die Mukherjees Begabung für Schwieriges zeigen. Detailreiche Verhör- und Folterszenen brechen das ansonsten gediegen dahinfließende, emotional fein ausgeleuchtete, eindeutige Stellungnahmen vermeidende große Erzählpanorama auf und münden in einen großartigen Showdown bis hin zur „Erschießung auf der Flucht“. Dabei wird klar, dass Supratik Schmuck aus seiner Familie entwendet hat, um den Terroranschlag zu finanzieren. Und in einem Moment des Wahns hat er ausgerechnet die Schlüsselfigur für die Stabilität seiner Herkunftswelt, den Koch Madan für die „Befreiung des Proletariats“ geopfert. Doch eine zwiespältige Figur ist auch Madan. Er wird seinerseits zum Verräter.
Nach dem Tod Supratiks, des entlaufenen Bürgersohnes, wird der Koch Madan freigelassen. Er ist die heimliche, tragische Hauptfigur des Romans. Dass Mukherjee nur andeutet, was aus ihm werden könnte, passt zur Grundhaltung seines Romans: Zukunftsgewissheit kennt er nicht.
HANS-PETER KUNISCH
Die Unruhen der späten 1960er
Jahre fanden rasch Eingang in
die indische Literatur
Die Slumbewohner spielen für
das Selbstwertgefühl der
oberen Kasten keine Rolle
Neel Mukherjee, 1970 in Kalkutta geboren und aufgewachsen, lebt inzwischen in London.
Foto: oh
Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Antje Kunstmann Verlag, München 2016. 639 S., 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Neel Mukherjee erzählt in seinem Roman „In anderen Herzen“ vom Einbruch der Politik in das Bürgertum Indiens
Der Auftakt zu Neel Mukherjees neuem, von der englischen Autorin A.S. Byatt und vielen anderen Kollegen hochgepriesenem Indien-Roman, ist ein Schauerstück aus der Wirklichkeit: Im Mai 1966 enthauptet der Bauer Nitai Da erst seine Frau, dann seinen ältesten Sohn mit der Sichel, worauf er die zwei kleineren Kinder erwürgt. Am Ende trinkt er Folidol, ein Schädlingsbekämpfungsöl, das aus der Saatzeit übrig geblieben ist. Auch Nitai stirbt – wie seine Familie war er zuvor beinahe verhungert.
So und ähnlich sahen die Schicksale aus, die Ende der Sechzigerjahre zur Bewegung der Naxaliten führten, benannt nach einem blutig niedergeschlagenen Bauernaufstand im westindischen Naxalbari. Unter der Führung von Charu Mazudmar, der den bewaffneten Kampf nach dem Vorbild Maos pries, entwickelte sich an den Universitäten eine Protestbewegung, deren militanter Flügel sich zu einer Mischung aus kubanischen Guerilleros und der RAF entwickelte. Was die indische Gesellschaft ähnlich erschütterte wie damals die BRD.
Das wichtigste Buch zu den indischen Geschehnissen der Zeit war lange Zeit „Mutter von 1048“, ein kurzer Roman der heute neunzigjährigen Mahasweta Devi, der sich empathisch in die Proteste einfühlte . Er erschien 1974, gleich nach dem Ende der größten Unruhen. Jetzt machen zwei Nachgeborene der modernen Klassikerin bengalischer Literatur Konkurrenz. Zuerst die 1967 in England geborene, in den USA aufgewachsene Jhumpa Lahiri mit „The Lowland“ (2013). Kurz danach veröffentlichte Neel Mukherjee „The Lifes of Others“, das unter dem Titel „In anderen Herzen“ jetzt auf Deutsch erschienen ist. Mukherjee, drei Jahre jünger als Lahiri, ist in Kalkutta, einem Zentrum der damaligen Proteste, aufgewachsen. Inzwischen lebt er, der in Oxford und East Anglia studiert hat, in London.
Beide Bücher sind Familien- und Politromane; in beiden wird, wie schon bei Devi, ein Sohn zum militanten Kämpfer. Bei Lahiri sind die aus der Kolonialzeit verbliebenen Strukturen Mitverursacher der Konflikte. Mukherjee ist mehr an innerindischen Ursachen interessiert. Bei ihm verabschiedet sich der Sohn einer bengalischen Familie der oberen Mittelschicht aus seinem Milieu. Seine Mutter findet einen Zettel: „Ma, ich gehe fort. Ich bin erschöpft vom Konsumieren, vom Nehmen und Raffen. Ich gehe fort, um mich zu reinigen, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich habe das Gefühl, in einem geborgten Haus zu leben. Es ist Zeit, mein eigenes zu suchen. Verzeih mir.“
Das klingt beinahe so klassisch wie überzeugend. Supratik hat genug vom Standesdünkel und den Eifersüchteleien in der Familie, genug vom schlau erschlichenen Reichtum des Großvaters, der aus dem Beinahe-Nichts zum Papierfabrikanten aufgestiegen ist. Komplizierend wirkt, dass sich die Familie, aufgrund der ökonomischen Krise, Mitauslöser der Aufstände, wieder im Abstieg befindet. Man kann hier kaum von „Buddenbrooks“ sprechen. Die Goshs sind eher Neureiche, die überraschend wieder ärmer werden. Der Großvater und vier Söhne schieben sich gegenseitig die Schuld zu.
Was den durch und durch realistischen Roman zur intensiven Leseerfahrung macht, sind auch die vielen, ineinander verschränkten Geschichten innerhalb der Familie und an ihren Rändern. Eine wichtige Figur ist der Koch Madan, der ins Haus kam, als Supratiks Vater ein Jahr alt war. Mehr als die anderen Familienmitglieder sorgt Madan für ein Gefühl des Zusammenhalts. Daher macht Mukherjee ihn zum Ausgangspunkt für Veränderungen.
Mit dem „Abschied“ des Enkels, seinem Weg in die politische Gewalt, spaltet Mukherjee das Buch früh in zwei Erzählstränge. Parallel zu den Familienquerelen lässt er Supratik in einem „Bericht“ die Verhältnisse in den verarmten bäuerlichen Kampfgebieten schildern. Die erzählerische Öffnung weitet den Blick sozial, politisch und geografisch. Zum Problem wird der Versuch, den maoistischen Jargon der Aufrührer dieser Zeit nachzubilden. Bleierne Gedanken münden in diesen Passagen in eine bleierne Sprache des Romans selbst.
Dass es in Indien noch heute eine kommunistische Partei maoistischer Prägung gibt, die sich als gewaltbereite Nachfolgerin der Naxaliten sieht, bezeugt die Aktualität dieser Passagen. Mukherjees Roman beeindruckt aber vor allem dort, wo er anschaulich wird. Beinahe übergangslos beschreibt er peinigend genau, wie Priyonath, der bräsig wohldifferenziert vor sich hin lamentierende, literarisch interessierte zweite Sohn des Großvaters, von einer Prostituierten unappetitliche Sonderdienste verlangt, was schließlich zu seiner öffentlichen Beschimpfung im Slum führt.
Doch die Slumbewohner spielen für das Selbstwertgefühl der oberen Kasten keine Rolle. Die Nachbarn hingegen sind wichtig. Die Wahrung des Gesichts ist auch für das indische Bürgertum zentral. Als Supratik eines Tages böse zerzaust wieder aufkreuzt, finden die politische und die familiäre Erzählung wieder zusammen. Der verlorene Sohn wird wieder aufgenommen. Doch niemand fragt ihn, was passiert ist. Alle haben Angst, Schreckliches zu erfahren. Erst als ein Terroranschlag Kalkutta erschüttert, zerbricht der Schutzraum Familie endgültig – und noch in derselben Nacht wird Supratik im Haus verhaftet. Es folgen noch einmal fünfundzwanzig Seiten, die Mukherjees Begabung für Schwieriges zeigen. Detailreiche Verhör- und Folterszenen brechen das ansonsten gediegen dahinfließende, emotional fein ausgeleuchtete, eindeutige Stellungnahmen vermeidende große Erzählpanorama auf und münden in einen großartigen Showdown bis hin zur „Erschießung auf der Flucht“. Dabei wird klar, dass Supratik Schmuck aus seiner Familie entwendet hat, um den Terroranschlag zu finanzieren. Und in einem Moment des Wahns hat er ausgerechnet die Schlüsselfigur für die Stabilität seiner Herkunftswelt, den Koch Madan für die „Befreiung des Proletariats“ geopfert. Doch eine zwiespältige Figur ist auch Madan. Er wird seinerseits zum Verräter.
Nach dem Tod Supratiks, des entlaufenen Bürgersohnes, wird der Koch Madan freigelassen. Er ist die heimliche, tragische Hauptfigur des Romans. Dass Mukherjee nur andeutet, was aus ihm werden könnte, passt zur Grundhaltung seines Romans: Zukunftsgewissheit kennt er nicht.
HANS-PETER KUNISCH
Die Unruhen der späten 1960er
Jahre fanden rasch Eingang in
die indische Literatur
Die Slumbewohner spielen für
das Selbstwertgefühl der
oberen Kasten keine Rolle
Neel Mukherjee, 1970 in Kalkutta geboren und aufgewachsen, lebt inzwischen in London.
Foto: oh
Neel Mukherjee: In anderen Herzen. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Antje Kunstmann Verlag, München 2016. 639 S., 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
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