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Nathan Hollander macht sich auf den Weg, die Erbschaft seines Onkels Herman anzutreten. Doch er weiß nicht genau, woraus das Erbe besteht, und er muß es erst erwerben, um es zu besitzen. Testamentarisch ist ihm bestimmt, zuvor das rastlose Leben seines Verwandten aufzuschreiben. Mit epischer Wucht und leichter Hand zugleich holt er in die Familiengeschichte aus. Vor über drei Jahrhunderten war sein Vorfahr, der Uhrmacher Levie, achtzehn Jahre lang zu Fuß durch Europa geirrt, nachdem seine Familie in Litauen unter Pogromen leiden mußte. In den Niederlanden fühlte er sich schließlich daheim und…mehr

Produktbeschreibung
Nathan Hollander macht sich auf den Weg, die Erbschaft seines Onkels Herman anzutreten. Doch er weiß nicht genau, woraus das Erbe besteht, und er muß es erst erwerben, um es zu besitzen. Testamentarisch ist ihm bestimmt, zuvor das rastlose Leben seines Verwandten aufzuschreiben. Mit epischer Wucht und leichter Hand zugleich holt er in die Familiengeschichte aus.
Vor über drei Jahrhunderten war sein Vorfahr, der Uhrmacher Levie, achtzehn Jahre lang zu Fuß durch Europa geirrt, nachdem seine Familie in Litauen unter Pogromen leiden mußte. In den Niederlanden fühlte er sich schließlich daheim und nahm aus Dankbarkeit den Namen Hollander an. Aber die Rastlosigkeit blieb in der Familie, und spätere Generationen der Hollanders wanderten ruhelos durch die Welt. So war auch Onkel Herman mit seinem Bruder Emmanuel, Nathans Vater, in den frühen dreißiger Jahren nach Amerika emigriert und nach dem Krieg zwischen den Kontinenten gependelt. An Hermans Zuneigung zu seinen Neffen und Nichten, besonders den leicht meschuggenen, erinnert sich Nathan sehr gut, und das unrühmliche Ende des Onkels bringt er gleich zu Anfang hinter sich.
In Begleitung von Nina, der Tochter seines lange verschollenen Bruders Zeno, geht er den Nachlaß im Haus des Onkels an. Auf dem Weg nach Nordostholland legt sich ein Schneesturm über ihr Auto, als wollte die Welt untergehen. Doch sie kommen ans Ziel. Prallvoll mit Vorräten scheint das Haus für eine Belagerung gewappnet zu sein. Alle Möbel sind zu einer Barrikade aufgetürmt, Tonbänder verlautbaren unverständliche Botschaften. Und der Rückweg ist aussichtslos verschneit.
So vielfarbig wie auf Bruegels Gemälde schildert Marcel Möring die Saga einer außerordentlichen Familie.
Autorenporträt
Marcel ring Marcel Möring wurde am 5. September 1957 in Enschede geboren und lebt mit seiner Familie in Rotterdam. Für seinen Roman "Mendels erfenis" erhielt er 1990 den Geertjan Lubberhuizenprijs, den Preis für das beste Debüt. 1992 bekam er für sein zweites Buch "Das große Verlangen" den AKO-Preis zugesprochen, die höchstdotierte literarische Auszeichnung Hollands.

Mit dem 1998 bei Luchterhand erschienenen Roman "In Babylon" setzte Marcel Möring seinen Triumphzug fort: Die niederländischen Leser verliehen ihm die Goldene Eule, den repräsentativsten Publikumspreis. Das Buch stand auf der Longlist des Libris-Literaturpreises, mit dem in den Niederlanden der Roman des Jahres gekrönt wird. Seit seinem Debüt gilt Marcel Möring als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren seines Landes.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Lagerfeuer im Tiefschnee
Auf Chaos gegründet: "In Babylon", Marcel Mörings Epos einer niederländischen Judenfamilie / Von Dirk Schümer

Die Geschichte des Turms von Babel ist eine der schönsten der vielen schönen Geschichten im Alten Testament. Sie erzählt von einer Katastrophe, aber sie ist nicht unbedingt katastrophal. Die hochmütigen Menschen, die den Turm bis in den Himmel bauen wollen, scheitern zwar mit ihrem Projekt und werden damit bestraft, daß sie einander nicht mehr verstehen können. Doch bescheren sie uns mit der Vielfalt der Sprachen auch die Literatur der Welt, die immer noch dafür sorgt, daß uns die Geschichten nicht ausgehen. Die alte Fabel vom Himmelsturm und der Sprachverwirrung zum Ausgangspunkt eines Romans zu nehmen, wie Marcel Möring das macht, ist daher gar keine unkluge Idee.

"In Babylon" folgt mit seiner Statik dem Urbild: ein Gerüst von Geschichten, das bis zur dünnen Luft der letzten Dinge strebt, dem die unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen Material zutragen und das dem Plan eines kühnen Baumeisters gehorcht. Möring will nichts weniger als das Epos einer niederländischen Judenfamilie schreiben und hat ihr auch gleich den archetypischen Namen Hollander mitgegeben. Im siebzehnten Jahrhundert ist der Ahn Magnus aus Polen vor den Pogromen in Richtung Westen geflüchtet und nach langen Wanderjahren in Rotterdam hängengeblieben. Dort scheint sich das Familienschicksal wieder zu beruhigen, bis nach sieben Generationen die Nationalsozialisten die Hollanders weiter westlich treiben, nach Amerika.

Aber wir fangen mit einer Systematik an, die dem Roman nicht gerecht würde. Denn Ordnung ist ein ästhetisches Kriterium, nach dem sich Möring zuallerletzt richtet. Also noch mal von vorn: ein Winter der Jetztzeit. Nathan Hollander fährt mit seiner Nichte Nina ins verschneite Landhaus des verstorbenen Onkels Herman, irgendwo im dünner besiedelten Osten der Niederlande. Auf ihrem Weg geraten sie in eine Schneekatastrophe, kämpfen sich bis zum Herrenhaus durch und befinden sich plötzlich, abgeschnitten von Strom und Heizung und hinter meterhohen Schneewehen, im Überlebenskampf. Um nicht zu erfrieren, müssen sie das Mobiliar verheizen und lassen damit die jüngere Familiengeschichte in Rauch aufgehen. Ein guter Anlaß, davon zu erzählen.

Schon diese Ausgangssituation wirkt ein wenig konstruiert. Es wird in ganz Holland kein Landhaus geben, das so weit vom nächsten bewohnten Gehöft entfernt liegt, daß man es sogar im Tiefschnee nicht zu Fuß erreichen könnte. Auch hat es wohl seit der Sintflut nicht mehr die Niederschläge gegeben, derer es bedürfte, ausgerechnet in den Niederlanden zwei Menschen von der Außenwelt abzuschneiden. Aber befinden wir uns in einem Roman oder nicht? Andere Meister des Fachs benötigen eine Pest oder einen Schiffsuntergang, um ihre Szenerie zusammenzubekommen. Möring scheint das Unwahrscheinliche seiner Konstellation zu mögen. Er braucht das Ambiente des eisigen Schauerromans, um sich warmzuschreiben.

Irgend jemand hat die teuren Antiquitäten - Wäscheschränke, Kommoden, Sekretäre - im Treppenaufgang zu einer Barrikade - wenn man so will, zu einem umgekehrten Turm von Babel - aufbaut. Da hacken sich unsere beiden Gestrandeten auf der Suche nach Feuerholz durch. Derselbe Unbekannte jedoch hat den Keller mit haltbarer Nahrung und exquisiten Weinen gefüllt. Onkel und Nichte richten sich fröstelnd und schaudernd ein. Die merkwürdige Robinsonade im holländischen Schnee kann sich fortan auf das Wesentliche konzentrieren: die Abschweifungen.

Wir erfahren, daß die Familie Hollander eine besondere, um nicht zu sagen auserwählte Familie ist, die das Schicksal des jüdischen Volkes nicht nur beispielhaft, sondern auch höchst unterhaltsam vorführen kann. Nathan, der eingeschneite Erzähler, kann eine sozialistische Malerin als seine Mutter vorweisen; sein Vater, ein weltfremder Tüftler, arbeitete an der Konstruktion der ersten Atombombe in Los Alamos mit; der allgegenwärtige Onkel Herman - wir erinnern uns: der das Landhaus besaß - war ein weltberühmter Soziologe. Die vier Kinder hießen Zoe, Zelda, Zeno und eben Nathan. Die Mädchen bleiben merkwürdig konturlos, Zeno hingegen wird zu einem gespenstischen Guru der Hippiegeneration, und Nathan wendet sich einer Profession zu, mit der er für den Romanerzähler bestens gerüstet ist, nämlich Märchenerzähler. Solche Familien soll es geben.

Doch der Zusammenhang der allzu windungsreichen Sippenchronik macht nicht den Reiz des Buches aus, eher schon die Wirrungen. Möring erweist sich als großer Märchenonkel und Schwadroneur, kommt bei den Details der niederländischen Jugend und der amerikanischen Emigration vom Hölzchen aufs Stöckchen und weiß seine Leserschaft allzeit mit Anekdoten, Witzen, beiseite gesprochener Lebensweisheit zu unterhalten. Bald schon wundert man sich nicht mehr darüber, daß unser Erzähler abends von den beiden polnischen Stammvätern der Sippe, Onkelchen Chaim und Magnus, besucht wird und mit ihnen nach dem Muster chassidischer Lehrdialoge Zwiesprache hält. Die Zeiten und die Länder der Familienchronik fließen so unterhaltsam ineinander, als hätte Möring auf Jiddisch geschrieben.

Die Geschichte der Hollanders, meinen sie, lasse sich nicht als Graphik des schicksalhaften Auf und Ab darstellen, sondern nur als Kursbuch: "Einer bricht auf, und während er unterwegs ist, kommt ein anderer zurück, und während dieser noch dabei ist anzukommen, machen andere sich schon wieder bereit für eine neue Reise." So sieht das nach der abermaligen Vertreibung durch die Nazis bei vielen holländischen Familien jüdischer Herkunft aus, die zwischen den Niederlanden, Amerika, Israel und sonstwo die Sippschaft beieinanderzuhalten versuchen.

Dieses Kursbuch, ein kursorischer Reiseplan ganzer Generationen, macht den eigentlichen Stoff dieses eher hellenistischen als babylonischen Romans aus. Der Stoff ist selbst von Möring nicht zu bewältigen, und schon lange nicht nachzuerzählen, zahlreiche Nebengleise werden hinterher nicht wieder befahren. Mit der Zeit beginnt man sich zu fragen, ob Möring wohl bei seinen oft hochvirtuos erzählten Geschichten vom Bau der Atombombe, von skurrilen Alltagsgeschichten aus dem polnischen Shtetl, von der durchgeplanten niederländischen Gesellschaft hinter den gigantischen Seedeichen, von den Leichenbergen von Bergen-Belsen (übrigens der Todesort von Anne Frank, der genialsten niederländischen Erzählerin) - ob Möring tatsächlich mit alldem einem Plan oder auch nur einem groben Wegweiser gehorchte oder ob er sich von dem Überfluß seiner Geschichten nicht einfach dahintreiben ließ.

Wäre Möring Südamerikaner, die ja ein Patent auf überschäumende Phantasie haben, verdiente sein Werk die Charakterisierung "magischer Realismus". Weil er aber ein sachlicher Niederländer ist, der immer wieder zur nüchternen Beschreibung zurückkehrt, liegen seine ästhetischen Vorbilder eher bei Harry Mulisch, den seine wahnwitzige Herkunft aus faschistisch-jüdischer Ehe zu ausgefeilten und zugleich transzendenten Erzählkonstruktionen inspirierte. Möring, Jahrgang 1957, gehört zur zweiten Generation jüdischer Abkunft nach der Shoah in den Niederlanden. Hier gibt es derzeit eine höchst heterogene Gruppe von Erzählern, die nur ihre Herkunft und das vitale Interesse, nicht beim moralischen Wehklagen über das Familienschicksal stehenzubleiben, miteinander verbindet.

Möring teilt mit Leon de Winters penibel konstruierten Romanen die Vorliebe fürs amerikanische Emigrantenmilieu, für die wunderliche Akkulturation der Menschen, die mit dem europäischen Gepäck aus Blut und Wissen durch Wüstenhighways und Wolkenkratzerschluchten ziehen. Und mit Arnon Grunberg hat Möring den Sinn für das Absurde, für den Slapstick jeden Lebens gemein - ein Grundgefühl, das auch die merkwürdige Familie Hollander in unserem Roman von einer Verlegenheit in die andere treibt.

Um nun aber auf das verschneite Landhaus zurückzukommen, den Plot, der das ganze Spiegelkabinett von Historie und Histörchen zusammenhalten und ihm vielleicht gar Sinn zumessen soll: Die beiden Eingeschlossenen wissen sich nicht nur durch alle Möbelfallen, Kälteschocks und Familienintrigen hindurchzukämpfen, sie geraten trotz der Generationendifferenz und genetischer Identität im angewärmten Himmelbett auch höchst physisch aneinander. So gern man die Episoden aus den unterschiedlichsten Epochen las, so bewundernswert an vielen Stellen Mörings sarkastische Formulierungsgabe ist - auf die Länge wird das Ganze dann doch etwas langatmig und stellenweise arg gesucht. Möring - und vielleicht macht ihm das sogar Spaß - verarbeitet die eigenen erzählerischen Fundamente zu Kleinholz und feuert damit den Kamin seines Romans. Reichlich Rauch steigt dabei am Ende hoch, ohne daß allzu große Wärme entstünde. Nach Sex, Mordversuch, Narkose kann der traurige Nathan, der sein Leben in Erwartung von nichts verstreichen ließ, wieder keine Wurzeln beim Gegenüber schlagen und steigt ins Flugzeug irgendwohin - nächster Eintrag im Kursbuch der Familie. Dieser kurze Abschied nach langem Anlauf kommt etwas plötzlich, als wäre der Autor gewahr geworden, daß er seine Redezeit überschritten hat und er sich nun mit dem Fertigwerden sputen müßte. Nicht zuletzt die fabelhafte Übersetzung rettet die Handlung ins Ziel. Helga van Beuningen hat inzwischen für das niederländische Sprachgebiet zahlreiche Hauptwerke mit einer Souveränität und Leichtigkeit übertragen, daß manche Romane sich in der deutschen Ausgabe besser lesen als im Original.

Möring ist aber ein ambitiöser, belesener Schriftsteller, er läßt das an vielen Stellen durchblicken und hat mit seinen Lesern etwas vor. Er läßt seine Idealfamilie nicht einfach so an den Knotenpunkten der jüngeren Geschichte - Holocaust, Atombombe - unmittelbar anwesend sein; auch verstrickt er den Urahn Magnus nicht ohne Grund in den unseligen Messianismus des Sabbatai Zwi und verankert seine Rotterdamer Juden nicht ohne Grund im babylonischen Abwehrkampf der Niederländer gegen das Wasser und für den Welthandel. Nein, diese Zeitreise, die nichts auslassen kann, gründet auf einem philosophischen Unterbau: der Chaostheorie.

Möring legt die symbolischen Köder überall aus, etwa indem er seine Hollanders als eine Dynastie von Uhrmachern und Tüftlern beschreibt. Oder indem er seinen Nathan als Märchenerähler den nicht bewältigten Rest der Welt, das semantische Durcheinander sozusagen, beackern läßt. Die Hollanders, und das ist ihre Tragik und ihre Größe zugleich, wollen die Zeit kontrollieren und stoppen, doch die Zeit hat keinen Anfang und kein Ende, sie verstreicht, und sie ist unumkehrbar. Das einzige, das sie produziert, ist ein Höchstmaß von Unordnung; alles andere ist ungewiß. Ob Möring dieses Schöpfungsgesetz am Ende imitieren wollte und er darum zu einem hurtigen Tohuwabohu neigte? Oder ob sein dramaturgisches Gerüst die vielen Bauteile nicht ausgehalten hat und das Produkt am Ende zusammengefallen ist wie der Turm von Babel? Auch das wäre ja wieder irgendwie symbolisch.

Aber nur kein Spott. Die Qualitäten dieses Buches liegen weder im Bauplan noch in der zuweilen kunstgewerblichen Familienpsychologie. Mörings Stärke ist dieselbe wie die seines traurigen Helden Nathan: Er ist ein begnadeter Erzähler. Wie die Zeit kennt er keinen Anfang und kein Ende, und wie der Familie Hollander ist ihm kein Abweg zu weit. Die Fabeln türmen sich so himmelhoch, bis einem angenehm schwindelt und längst egal ist, worauf das alles zielen soll.

Auch das Lesen dieses Buches ist schließlich eine Form von Entropie, man hat seine unumkehrbare Lebenszeit schon langweiliger herumgebracht. "Ich wußte das alles", sagt der kluge Nathan irgendwo und irgendwann, "trotzdem bewegte ich mich unablässig in Spiralen abwärts, einem Ende entgegen, das ich nicht kannte und nicht wollte." Möring hat es einstweilen besser. Er kann - und er sollte - einfach so uferlos weitererzählen.

Marcel Möring: "In Babylon". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Luchterhand Verlag, München 1998. 479 S., geb., 48,- DM.

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Mit dieser 'recherche du vie perdu' hat sich Möring endgültig unter die bedeutendsten europäischen Erzähler seiner Generation eingereiht: Ein so aberwitziger wie poetisch-trauriger Streifzug durch drei Jahrhunderte jüdisch-niederländischer Geschichte." (Die Welt)