Richard Hughes' Roman ist eine Hymne an die Ausdauer und eine Parabel auf das Leben. Eigentlich sollte der Frachtdampfer nur durch die Karibik und den Panamakanal nach China. Doch dann stellt sich das Wetter dagegen. Das Schiff gerät in einen Hurrikan, der es vier Tage lang nicht aus den Fängen lässt und seiner Crew alles abverlangt. Am Ende ist das Schiff ein Wrack, aber die Männer haben überlebt: »Was als Siegeszug der Moderne beginnt, endet im Desaster.« (Oskar Piegsa, Spiegel online)
»... so fantastisch spannend geschrieben, dass man gar nicht mehr aufhören kann ... Tolles Buch!« Elke Heidenreich, Literaturclub SF 1
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"... so fantastisch spannend geschrieben, dass man gar nicht mehr aufhören kann. Tolles Buch!" Elke Heidenreich, Literaturclub SF 1
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2012Es geht ums nackte Leben
Hoffnung in der Krise, und das nicht nur für den Buchhandel: Die Literatur steuert auf einen starken Herbst zu. Ein halbes Dutzend großartiger Romane kommt schon in den nächsten Wochen.
Ein Sturm zieht auf. Ein kleiner nur im Kontext der ökonomischen Großwetterlage, aber ein gefährlicher für den deutschen Buchhandel. Das erste Halbjahr brachte ihm ein Umsatzminus von 2,6 Prozent, und im Sortimentsbuchhandel, also in den klassischen Buchgeschäften, war angesichts der Verlagerung vieler Käufe in den Online-Handel der Rückgang sogar mehr als doppelt so groß: 5,4 Prozent. Vor allem die großen Buchhausketten, die im vergangenen Jahrzehnt die kleinen Fachgeschäfte verdrängt hatten, schließen jetzt selbst Filialen. Die Ratlosigkeit in der Branche ist groß, man hofft aufs zweite Halbjahr. Eines immerhin kann man darüber schon sagen: Es bietet einige sehr gute Bücher.
Ein Sturm zieht auf, doch niemand hat ihn kommen sehen. Die modernen Prognoseinstrumente haben versagt, im Chaos bleibt nur noch ein improvisiertes Rettungsmanöver nach dem anderen. Das ist nicht das aktuelle EU-Krisenszenario, sondern die sehr geraffte Handlung eines erstaunlichen englischen Romans, den Richard Hughes 1938 veröffentlichte: "In Hazard". Noch im selben Jahr wurde er als "Von Dienstag bis Dienstag" erstmals ins Deutsche übertragen, später hieß er hierzulande "Hurrikan im Karibischen Meer". In der großartigen Übersetzung von Michael Walter heißt er nun originalgetreu "In Bedrängnis". Und wenn Sie ein einziges Buch lesen wollen, das genau in die Gegenwart passt, dann sollte es dieser ein Dreivierteljahrhundert alte Seefahrtsroman sein.
Ein Sturm zieht auf, und vier Tage lang kämpft darin die "Archimedes". Der Dampfer ist Teil der Flotte einer Reederei namens "Sage" (was im Englischen den Weisen bezeichnet), die alle ihre Schiffe nach Philosophen benannt hat. Archimedes hatte behauptet, dass er die Welt aus den Angeln heben könnte, wenn er nur einen festen Punkt für einen langen Hebel hätte. Der einzige feste Punkt ist nun die "Archimedes" selbst, doch im Toben der Elemente ist sie haltlos, alle Sicherheiten zerbrechen. "Captain Edwardes begriff jetzt, dass nicht einmal in siebzehn Stunden mit einem Entkommen zu rechnen war. Überhaupt konnte man auf kein Entkommen spekulieren, solange der gewaltige Sog des Sturms andauerte. Man konnte auf gar nichts mehr bauen." Dieser Roman ist das ultimative Krisenbuch.
Beschwingt in der Katastrophe
Auch weil darin eine Psychologie des Umgangs mit der Krise entwickelt wird, die mehr über das, was wir derzeit an ungebrochenem Optimismus beobachten, erzählt als die umfangreichsten aktuellen Fallstudien. Mitten im Sturm kommt dem Kapitän die Erkenntnis, dass das bisherige Überleben auch den bereits eingetretenen Katastrophen zu verdanken ist, weil sie zu den Bedingungen beigetragen haben, in denen man überlebt hat. "Ja, Captain Edwardes war bester Laune! Hätte er schon im Voraus gewusst, was passieren würde, wäre er dann die ganze Zeit so fröhlich und zuversichtlich gewesen? Vielleicht nicht. Vielleicht hätte niemand dies Vorherwissen verkraftet. Da er jedoch immer nur von einer bekannten Situation zum nächsten unbekannten Augenblick vorausschaute, hatte ihn seine Unbeschwertheit beschwingt."
Das Buch ist ein Sprach- und Beschreibungskunstwerk, es ist rasend spannend, und es erzählt weitaus mehr, als es zunächst den Anschein hat. Schon der Handlungszeitpunkt im November 1929, kurz nach dem Börsencrash an der Wall Street, ist ein Signal, und wenn der Erste Offizier sich darüber Rechenschaft ablegt, warum er Seemann geworden ist, dann klingt das so: "Der Grund lautete, dass er die Tugend liebte und kein Homo oeconomicus war." Richard Hughes hat am Ende der Weltwirtschaftskrise und im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs eine Parabel auf das Krisenbewusstsein geschrieben, die seitdem nicht überholt ist.
Ansonsten ist die Krise in den herausragenden Büchern der kommenden Saison bestenfalls Folie. Wie in Stephan Thomes "Fliehkräfte", dem Nachfolgeroman des 2009 gefeierten Debüts "Grenzgang". Hatte Thome bei dessen Thema noch von der eigenen Herkunft profitiert, wählt er nun als Protagonisten einen Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sein 1972 geborener Autor und als Philosophieprofessor am Scheideweg steht: Seine portugiesische Frau, die ehemalige Muse eines Theaterregisseurs, in dem leicht Frank Castorf zu erkennen ist, hat als dessen Referentin eine Stelle in Berlin angenommen, um endlich wieder auf eigenen Füßen zu stehen, die Tochter studiert in Spanien. Das gemeinsame Leben, wie Hartmut Hainmann es kannte, ist dahin, und er sucht Rettung in einer langen Fahrt von Bonn bis Porto, um etwas davon wiederzufinden. Doch er wird alles verlieren.
Europa mit seinen verschiedenen Nationen, Sprachen und Kulturen wird in "Fliehkräfte" zum Antidot der schleichenden Identitätsvergiftung. Aber die Reise zu sich selbst kann nicht im Rhythmus der wechselnden Begleiter stattfinden, die Hainmann auf seiner Fahrt begegnen. Immer jedoch scheint in ihnen, ihrer Fremd- oder Vertrautheit (nicht selten trifft beides zusammen), die Vision einer Aussöhnung auf. Kein reinigender Sturm zieht auf, aber dass Thome diesen großen Roman auch in einer Erfahrung des Meeres kulminieren lässt, einer ganz sanften, aber umso ambivalenteren, macht ihn zum zweiten Teil einer Trias der besten kommenden Bücher, die ihre Protagonisten den Elementen ausliefert.
Den dritten Teil steuert Vladimir Sorokin mit "Der Schneesturm" bei. Der lapidare Titel verweist auf Tschechow, und gemeinsam mit Gogol ist das auch der Bezugspunkt, von dem aus der 1955 geborene russische Autor ein Vexierspiel mit der literarischen Tradition seiner Heimat entfaltet, dass nicht nur dem Landarzt Platon Iljitsch Garin, der hier mit der Kutsche in den titelgebenden Sturm geschickt wird, Hören und Sehen vergehen, sondern auch den Lesern.
Sorokin, der Meister postmodernen Schreibens in Russland, erzählt hier in ganz klassischem Ton. Aber er mischt russische Vergangenheitstopoi wie die Kutschfahrt, einen devoten Fuhrmann oder die archaischen Zustände in den Dörfern mit Elementen der phantastischen Literatur, die eines Lovecraft würdig sind. Zudem wird bald klar, dass hier von einem künftigen postapokalyptischen Russland erzählt wird: als Dystopie, in der Mutationen und Infektionen das Verständnis von Menschlichkeit ebenso in Frage stellen, wie es die gnadenlose Isolation in einem Land, in dem jeder soziale Zusammenhalt zerfallen scheint, mit der Moral getan hat. 2010 auf Russisch erschienen, hat dieser Roman nach Putins Wiederwahl zum Präsidenten nur noch an Aktualität gewonnen. Die schwarze Pest, die die Erkrankten, die zu heilen Garin aufbricht, in zombiehafte Riesen verwandelt, ist Metapher der Macht.
Eine Krankheit ist auch der Ausgangspunkt von "Indigo", dem neuen Roman von Clemens J. Setz, dem Nachfolger von Daniel Kehlmann als Wunderkind der österreichischen Literatur. Mit noch nicht dreißig Jahren hat Setz sich längst den Ruf eines formal wie inhaltlich gleichermaßen wagemutigen Prosaisten erworben, der nun von "Indigo" nicht nur bestätigt, sondern ausgebaut wird. Was Thomes "Fliehkräfte" psychologisch herausragend macht, wird bei Setz noch durch Lust am erzählerischen Experiment ergänzt. Der Rückgriff auf in der Romantik entwickelte Techniken wie Montage, Dokumentationsfiktionen oder Verschleierung (hier im Buch auch typographisch unterstützt) und die Integrierung einzelner Fotos in den Text nach Sebaldschem Vorbild setzt eine Erzählung in Gang, die in ihrem überbordenden Reichtum an Anspielungen aus Literatur, Film, Musik und Comic einem gigantischen Bilderrätsel gleicht. Seine Auflösung führt auf den Friedhof.
Zentraler Protagonist, mutmaßlicher Mörder und einziger Ich-Erzähler unter vielen Stimmen ist ein gewisser Clemens Setz, der in einem Internat, in dem vom rätselhaften Indigo-Syndrom befallene Kinder untergebracht sind, sein Schulpraktikum als Mathematiklehrer absolviert hat. "Dingos" nennt man spöttisch die Erkrankten, die weniger selbst leiden, vielmehr jedem Gesunden Kopfschmerzen bereiten. Solch ein Dingo ist auch das Buch: Man kommt nicht heil davon weg. Es herrscht Suchtgefahr. Alsbald sind beim Lehrer alle Sicherheiten verloren, beim Leser auch. Ein ständiger Wechsel von Vergangenheit (2006/07) und Zukunft (2021) ist da noch das Wenigste.
Sprünge in die Zukunft hat man auch in Jenny Erpenbecks "Aller Tage Abend" zu überstehen. Es sind jeweils Sprünge ins Imaginäre, denn jeder der fünf Teile des Romans endet mit dem Tod. Gleich zu Anfang stirbt ein Säugling und mit dem kleinen Mädchen ein ganzes Leben voller Möglichkeiten. Doch in einem Intermezzo zwischen erstem und zweitem Teil wird dieser Tod korrigiert, und so kann die Geschichte doch noch in Gang kommen und von 1901 in die Jahre 1919, 1938, 1962 und 1992 springen. Immer wieder stirbt das Mädchen, die junge Frau, die Mutter, die Großmutter aufs Neue, um in weiteren Intermezzi wieder ins Leben zurückgeholt zu werden.
Stellt alles dem Zufall anheim
Das ist fabelhaft konstruiert und einmal mehr in der vertraut entschlackten Stimme der heute fünfundvierzigjährigen Jenny Erpenbeck erzählt. Ihr vielfach ausgezeichneter Roman "Heimsuchung" verwendete 2008 ein ähnlich zeitübergreifendes Motiv, doch wo dort ein Grundstück das verbindende Element bildete, ist es hier nicht einmal die Frau selbst, deren vielfach wiedergeschenktes Leben wir begleiten, sondern der Zufall in Gestalt jener winzigen Aspekte, die über Tod und Leben entscheiden. "Schön wäre es, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott", heißt es einmal im Buch. Dann wäre niemals aller Tage Abend.
Der schönste und zugleich doppelbödigste deutschsprachige Roman des Herbstes jedoch bleibt streng einem unerbittlichen Geschick verhaftet: der Politik. Es ist ein Familienroman: Ein Jahrzehnt nach seiner Flucht aus Deutschland kehrt der ehemalige Berliner Patentrichter Richard Kornitzer 1948 in sein Heimatland zurück. Er ist Jude, und seine protestantische Frau Claire blieb, als er 1939 nach Kuba emigrieren konnte, in Deutschland zurück; die beiden Kinder waren schon vorher nach England geschickt worden. Was hat Claire in der Zeit der Trennung erlebt? Was Richard?
Für die 1947 geborene Ursula Krechel ist "Landgericht" erst der zweite Roman nach ihrem späten Debüt "Shanghai fern von wo" (2008). Wieder verbindet sie eine akribische zeitgeschichtliche Faktenrecherche mit fiktiver Erzählung: innerem Monolog, Reflexion, Hadern. Doch während im "Shanghai"-Roman die Rückkehr deutscher Exilanten in die Bundesrepublik und ihr juristisches Ringen um ausgleichende Gerechtigkeit nur ein Element des Geschehens waren, wird "Landgericht" jetzt zum großen Prozess Richard Kornitzers gegen ein Land, das so schnell wie möglich wieder zur Normalität übergehen will. Nur hat es dabei mit Kornitzer zu tun - einem Mann, der um sein Recht (und bisweilen auch persönliches Unrecht) nicht nur weiß, sondern es auch einzutreiben versteht. Ein Sturm zieht auf - privat und gesellschaftlich.
Drei Bücher, in denen es ums Weiterleben geht (Hughes, Thome, Krechel), drei Bücher, in denen es ans Sterben geht (Sorokin, Setz, Erpenbeck). Sechs Bücher, in denen es um alles geht. Mit ihnen kommen wir durch den Sturm, auch der Buchhandel.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hoffnung in der Krise, und das nicht nur für den Buchhandel: Die Literatur steuert auf einen starken Herbst zu. Ein halbes Dutzend großartiger Romane kommt schon in den nächsten Wochen.
Ein Sturm zieht auf. Ein kleiner nur im Kontext der ökonomischen Großwetterlage, aber ein gefährlicher für den deutschen Buchhandel. Das erste Halbjahr brachte ihm ein Umsatzminus von 2,6 Prozent, und im Sortimentsbuchhandel, also in den klassischen Buchgeschäften, war angesichts der Verlagerung vieler Käufe in den Online-Handel der Rückgang sogar mehr als doppelt so groß: 5,4 Prozent. Vor allem die großen Buchhausketten, die im vergangenen Jahrzehnt die kleinen Fachgeschäfte verdrängt hatten, schließen jetzt selbst Filialen. Die Ratlosigkeit in der Branche ist groß, man hofft aufs zweite Halbjahr. Eines immerhin kann man darüber schon sagen: Es bietet einige sehr gute Bücher.
Ein Sturm zieht auf, doch niemand hat ihn kommen sehen. Die modernen Prognoseinstrumente haben versagt, im Chaos bleibt nur noch ein improvisiertes Rettungsmanöver nach dem anderen. Das ist nicht das aktuelle EU-Krisenszenario, sondern die sehr geraffte Handlung eines erstaunlichen englischen Romans, den Richard Hughes 1938 veröffentlichte: "In Hazard". Noch im selben Jahr wurde er als "Von Dienstag bis Dienstag" erstmals ins Deutsche übertragen, später hieß er hierzulande "Hurrikan im Karibischen Meer". In der großartigen Übersetzung von Michael Walter heißt er nun originalgetreu "In Bedrängnis". Und wenn Sie ein einziges Buch lesen wollen, das genau in die Gegenwart passt, dann sollte es dieser ein Dreivierteljahrhundert alte Seefahrtsroman sein.
Ein Sturm zieht auf, und vier Tage lang kämpft darin die "Archimedes". Der Dampfer ist Teil der Flotte einer Reederei namens "Sage" (was im Englischen den Weisen bezeichnet), die alle ihre Schiffe nach Philosophen benannt hat. Archimedes hatte behauptet, dass er die Welt aus den Angeln heben könnte, wenn er nur einen festen Punkt für einen langen Hebel hätte. Der einzige feste Punkt ist nun die "Archimedes" selbst, doch im Toben der Elemente ist sie haltlos, alle Sicherheiten zerbrechen. "Captain Edwardes begriff jetzt, dass nicht einmal in siebzehn Stunden mit einem Entkommen zu rechnen war. Überhaupt konnte man auf kein Entkommen spekulieren, solange der gewaltige Sog des Sturms andauerte. Man konnte auf gar nichts mehr bauen." Dieser Roman ist das ultimative Krisenbuch.
Beschwingt in der Katastrophe
Auch weil darin eine Psychologie des Umgangs mit der Krise entwickelt wird, die mehr über das, was wir derzeit an ungebrochenem Optimismus beobachten, erzählt als die umfangreichsten aktuellen Fallstudien. Mitten im Sturm kommt dem Kapitän die Erkenntnis, dass das bisherige Überleben auch den bereits eingetretenen Katastrophen zu verdanken ist, weil sie zu den Bedingungen beigetragen haben, in denen man überlebt hat. "Ja, Captain Edwardes war bester Laune! Hätte er schon im Voraus gewusst, was passieren würde, wäre er dann die ganze Zeit so fröhlich und zuversichtlich gewesen? Vielleicht nicht. Vielleicht hätte niemand dies Vorherwissen verkraftet. Da er jedoch immer nur von einer bekannten Situation zum nächsten unbekannten Augenblick vorausschaute, hatte ihn seine Unbeschwertheit beschwingt."
Das Buch ist ein Sprach- und Beschreibungskunstwerk, es ist rasend spannend, und es erzählt weitaus mehr, als es zunächst den Anschein hat. Schon der Handlungszeitpunkt im November 1929, kurz nach dem Börsencrash an der Wall Street, ist ein Signal, und wenn der Erste Offizier sich darüber Rechenschaft ablegt, warum er Seemann geworden ist, dann klingt das so: "Der Grund lautete, dass er die Tugend liebte und kein Homo oeconomicus war." Richard Hughes hat am Ende der Weltwirtschaftskrise und im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs eine Parabel auf das Krisenbewusstsein geschrieben, die seitdem nicht überholt ist.
Ansonsten ist die Krise in den herausragenden Büchern der kommenden Saison bestenfalls Folie. Wie in Stephan Thomes "Fliehkräfte", dem Nachfolgeroman des 2009 gefeierten Debüts "Grenzgang". Hatte Thome bei dessen Thema noch von der eigenen Herkunft profitiert, wählt er nun als Protagonisten einen Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sein 1972 geborener Autor und als Philosophieprofessor am Scheideweg steht: Seine portugiesische Frau, die ehemalige Muse eines Theaterregisseurs, in dem leicht Frank Castorf zu erkennen ist, hat als dessen Referentin eine Stelle in Berlin angenommen, um endlich wieder auf eigenen Füßen zu stehen, die Tochter studiert in Spanien. Das gemeinsame Leben, wie Hartmut Hainmann es kannte, ist dahin, und er sucht Rettung in einer langen Fahrt von Bonn bis Porto, um etwas davon wiederzufinden. Doch er wird alles verlieren.
Europa mit seinen verschiedenen Nationen, Sprachen und Kulturen wird in "Fliehkräfte" zum Antidot der schleichenden Identitätsvergiftung. Aber die Reise zu sich selbst kann nicht im Rhythmus der wechselnden Begleiter stattfinden, die Hainmann auf seiner Fahrt begegnen. Immer jedoch scheint in ihnen, ihrer Fremd- oder Vertrautheit (nicht selten trifft beides zusammen), die Vision einer Aussöhnung auf. Kein reinigender Sturm zieht auf, aber dass Thome diesen großen Roman auch in einer Erfahrung des Meeres kulminieren lässt, einer ganz sanften, aber umso ambivalenteren, macht ihn zum zweiten Teil einer Trias der besten kommenden Bücher, die ihre Protagonisten den Elementen ausliefert.
Den dritten Teil steuert Vladimir Sorokin mit "Der Schneesturm" bei. Der lapidare Titel verweist auf Tschechow, und gemeinsam mit Gogol ist das auch der Bezugspunkt, von dem aus der 1955 geborene russische Autor ein Vexierspiel mit der literarischen Tradition seiner Heimat entfaltet, dass nicht nur dem Landarzt Platon Iljitsch Garin, der hier mit der Kutsche in den titelgebenden Sturm geschickt wird, Hören und Sehen vergehen, sondern auch den Lesern.
Sorokin, der Meister postmodernen Schreibens in Russland, erzählt hier in ganz klassischem Ton. Aber er mischt russische Vergangenheitstopoi wie die Kutschfahrt, einen devoten Fuhrmann oder die archaischen Zustände in den Dörfern mit Elementen der phantastischen Literatur, die eines Lovecraft würdig sind. Zudem wird bald klar, dass hier von einem künftigen postapokalyptischen Russland erzählt wird: als Dystopie, in der Mutationen und Infektionen das Verständnis von Menschlichkeit ebenso in Frage stellen, wie es die gnadenlose Isolation in einem Land, in dem jeder soziale Zusammenhalt zerfallen scheint, mit der Moral getan hat. 2010 auf Russisch erschienen, hat dieser Roman nach Putins Wiederwahl zum Präsidenten nur noch an Aktualität gewonnen. Die schwarze Pest, die die Erkrankten, die zu heilen Garin aufbricht, in zombiehafte Riesen verwandelt, ist Metapher der Macht.
Eine Krankheit ist auch der Ausgangspunkt von "Indigo", dem neuen Roman von Clemens J. Setz, dem Nachfolger von Daniel Kehlmann als Wunderkind der österreichischen Literatur. Mit noch nicht dreißig Jahren hat Setz sich längst den Ruf eines formal wie inhaltlich gleichermaßen wagemutigen Prosaisten erworben, der nun von "Indigo" nicht nur bestätigt, sondern ausgebaut wird. Was Thomes "Fliehkräfte" psychologisch herausragend macht, wird bei Setz noch durch Lust am erzählerischen Experiment ergänzt. Der Rückgriff auf in der Romantik entwickelte Techniken wie Montage, Dokumentationsfiktionen oder Verschleierung (hier im Buch auch typographisch unterstützt) und die Integrierung einzelner Fotos in den Text nach Sebaldschem Vorbild setzt eine Erzählung in Gang, die in ihrem überbordenden Reichtum an Anspielungen aus Literatur, Film, Musik und Comic einem gigantischen Bilderrätsel gleicht. Seine Auflösung führt auf den Friedhof.
Zentraler Protagonist, mutmaßlicher Mörder und einziger Ich-Erzähler unter vielen Stimmen ist ein gewisser Clemens Setz, der in einem Internat, in dem vom rätselhaften Indigo-Syndrom befallene Kinder untergebracht sind, sein Schulpraktikum als Mathematiklehrer absolviert hat. "Dingos" nennt man spöttisch die Erkrankten, die weniger selbst leiden, vielmehr jedem Gesunden Kopfschmerzen bereiten. Solch ein Dingo ist auch das Buch: Man kommt nicht heil davon weg. Es herrscht Suchtgefahr. Alsbald sind beim Lehrer alle Sicherheiten verloren, beim Leser auch. Ein ständiger Wechsel von Vergangenheit (2006/07) und Zukunft (2021) ist da noch das Wenigste.
Sprünge in die Zukunft hat man auch in Jenny Erpenbecks "Aller Tage Abend" zu überstehen. Es sind jeweils Sprünge ins Imaginäre, denn jeder der fünf Teile des Romans endet mit dem Tod. Gleich zu Anfang stirbt ein Säugling und mit dem kleinen Mädchen ein ganzes Leben voller Möglichkeiten. Doch in einem Intermezzo zwischen erstem und zweitem Teil wird dieser Tod korrigiert, und so kann die Geschichte doch noch in Gang kommen und von 1901 in die Jahre 1919, 1938, 1962 und 1992 springen. Immer wieder stirbt das Mädchen, die junge Frau, die Mutter, die Großmutter aufs Neue, um in weiteren Intermezzi wieder ins Leben zurückgeholt zu werden.
Stellt alles dem Zufall anheim
Das ist fabelhaft konstruiert und einmal mehr in der vertraut entschlackten Stimme der heute fünfundvierzigjährigen Jenny Erpenbeck erzählt. Ihr vielfach ausgezeichneter Roman "Heimsuchung" verwendete 2008 ein ähnlich zeitübergreifendes Motiv, doch wo dort ein Grundstück das verbindende Element bildete, ist es hier nicht einmal die Frau selbst, deren vielfach wiedergeschenktes Leben wir begleiten, sondern der Zufall in Gestalt jener winzigen Aspekte, die über Tod und Leben entscheiden. "Schön wäre es, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott", heißt es einmal im Buch. Dann wäre niemals aller Tage Abend.
Der schönste und zugleich doppelbödigste deutschsprachige Roman des Herbstes jedoch bleibt streng einem unerbittlichen Geschick verhaftet: der Politik. Es ist ein Familienroman: Ein Jahrzehnt nach seiner Flucht aus Deutschland kehrt der ehemalige Berliner Patentrichter Richard Kornitzer 1948 in sein Heimatland zurück. Er ist Jude, und seine protestantische Frau Claire blieb, als er 1939 nach Kuba emigrieren konnte, in Deutschland zurück; die beiden Kinder waren schon vorher nach England geschickt worden. Was hat Claire in der Zeit der Trennung erlebt? Was Richard?
Für die 1947 geborene Ursula Krechel ist "Landgericht" erst der zweite Roman nach ihrem späten Debüt "Shanghai fern von wo" (2008). Wieder verbindet sie eine akribische zeitgeschichtliche Faktenrecherche mit fiktiver Erzählung: innerem Monolog, Reflexion, Hadern. Doch während im "Shanghai"-Roman die Rückkehr deutscher Exilanten in die Bundesrepublik und ihr juristisches Ringen um ausgleichende Gerechtigkeit nur ein Element des Geschehens waren, wird "Landgericht" jetzt zum großen Prozess Richard Kornitzers gegen ein Land, das so schnell wie möglich wieder zur Normalität übergehen will. Nur hat es dabei mit Kornitzer zu tun - einem Mann, der um sein Recht (und bisweilen auch persönliches Unrecht) nicht nur weiß, sondern es auch einzutreiben versteht. Ein Sturm zieht auf - privat und gesellschaftlich.
Drei Bücher, in denen es ums Weiterleben geht (Hughes, Thome, Krechel), drei Bücher, in denen es ans Sterben geht (Sorokin, Setz, Erpenbeck). Sechs Bücher, in denen es um alles geht. Mit ihnen kommen wir durch den Sturm, auch der Buchhandel.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2012Kalte Karibik
SOS-Signale einer untergehenden Weltordnung: Richard Hughes’ Seefahrerroman „In Bedrängnis“ ist eine Parabel auf den
Sturm der Geschichte – dank einer glänzenden Neuübersetzung kann man einen großen Autor nun wiederentdecken
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Thomas, so heißt das Schiffsmaskottchen an Bord der Archimedes, „einem einschraubigen Turbinendampfer von etwas über 9000 Tonnen“, der mit einer Ladung Tabak und Altpapier im November 1929 in Norfolk, Virginia ablegt und Kurs nimmt auf China. Dieser Thomas ist ein kleiner Lemur, ein Katta aus Madagaskar, der gemäß dem Kodex auf einem englischen Schiff ebenso hoch geachtet wird wie sein Besitzer, der Erste Offizier. Einen Nachteil hat das Äffchen jedoch – es mag keine geschlossenen Augen, und deshalb springt es nachts von Koje zu Koje und klappt mit seinen langen Fingern behutsam die Lider der Schlafenden auf.
Was Thomas mit der Besatzung tut, macht der Schriftsteller Richard Hughesauf seine Weise mit dem Leser: Er öffnet ihm die Augen, doch weil er ein äußerst hintergründiger Autor ist, gelingt ihm das so, dass man sich von diesem Meister der literarischen Mimikry leicht täuschen lassen kann. Denn an der Oberfläche ist „In Bedrängnis“ eine handfeste Abenteuer- und Seefahrergeschichte, die davon erzählt, wie ein Frachter in der karibischen See in einen Hurrikan gerät. Die enorme Wirkung aber dieses höchst erstaunlichen Buches – sie liegt nicht in seiner Dramatik, sondern in seiner Fachlichkeit.
Er wolle, erkärt Hughes, dass man die Archimedes nicht so sehe, „wie ein Verliebter eine Frau sieht, sondern so, wie ein Medizinstudent es tut“. Und deshalb breitet er zunächst eine Fülle technischer Details über das Schiff aus, wie ein Chirurg, der das Besteck prüft, bevor er sein Skalpell ansetzt. Denn, so Hughes, „am Ausmaß des Fortschritts, den ein großer moderner Dampfer gegenüber dem kleinen Schoner darstellt, bemisst sich, womit die Besatzung eines Dampfers konfrontiert ist, wenn einmal dessen Kraftquellen ausfallen“. Anders gesagt, die Technik zeigt ihre teuflische Kehrseite in dem Augenblick, da sie versagt. Die vielen nautischen Begriffen stellen den Übersetzer vor keine leichte Aufgabe, und Michael Walter hat diese Herausforderung vorzüglich gemeistert. Er folgt dem Autor in dessen gut sortierte Werkstatt, ohne das ironische Understatement aus dem Auge zu verlieren.
Und Richard Hughes (1900-1976) wusste sehr genau, wovon er sprach. Er war nicht nur ein überaus vielseitiger Autor, der schon als Student in Oxford zum Star der universitären Literaturszene avancierte, er war zugleich selbst ein Abenteurer und Weltreisender, der noch mit über sechzig das Ägäische Meer allein in einem Segelboot überquerte. Sein bekanntester Roman „Ein Sturmwind auf Jamaika“ erschien 1929 und war damals ein Bestseller, der später aufwendig verfilmt worden ist. Bei uns ist das Buch unverzeihlicherweise seit langem vergriffen. In diesem ebenso grandios erzählten wie gewagten Roman geht es um eine Gruppe von Kindern, die in die Hände von Piraten fallen, wobei sich die Piraten als weitaus humaner erweisen, als es die Kinder sind. Ein unkorrektes Buch wie dieses würde in unseren ausmoderierten Zeiten keinen Verleger finden.
Richard Hughes war als Romancier ein scharfer Analytiker. Auch in seinem überragenden, mit subtiler Symbolik aufgeladenem Roman „In Bedrängnis“ geht er gerade dann wie ein Ingenieur vor, wenn er nicht Maschinen, sondern Menschen beschreibt. So etwa schildert er, wie der nach den Strapazen völlig entkräftete Leitende Ingenieur vom Schlaf übermannt wird. Gerade als er sich ausmalt, wie es wäre, früher in Pension zu gehen und sich ganz der Familie zu widmen, stürzt er über die Reling ins Meer. Keiner an Bord bemerkt sein Verschwinden, und am Schluss heißt es, als die Wache sechs Glasen läutete, war dies „das einzige Geläut, das je erscholl über dem Grab von Mr. Ramsey MacDonald, ehemals Leitender Ingenieur“.
Dieser letzte Satz im Buch ist eine gallige Parodie auf das Genre, dessen Vorgaben Hughes formal erfüllt und inhaltlich konterkariert. „In Bedrängnis“ ist oft mit Joseph Conrads „Taifun“ verglichen worden. Doch Hughes distanziert sich von dem vermeintlichen Vorbild, indem er schreibt, dass Hurrikane im Jahr 1929 zuverlässiger vorausgesagt werden konnten als noch zu Conrads Zeiten. Aber das gilt natürlich nur für meteorologische Turbulenzen, und man kann diese Bemerkung durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass ein Unwetter zwar das Sujet des Romans ist, aber nicht sein Thema. Die Handlung setzt unmittelbar nach dem Börsencrash von 1929 ein, und als Hughes 1938 den Roman veröffentlichte, war die Weltwirtschaftskrise kaum überwunden und der Zweite Weltkrieg warf bereits seinen Schatten voraus – zentrifugale Kräfte waren entfesselt, welche die alte Weltordnung zerreißen sollten wie ein Sturm die Takelage eines Seglers.
Vor diesem Hintergrund muss man den Roman als zeitlose Parabel lesen, die genau nachzeichnet, wie eine Krise funktioniert. So wird den Offizieren irgendwann mit Erschrecken klar, dass sie ihr Überleben weniger ihren hektischen Aktivitäten zu verdanken haben als vielmehr dem Sturm selbst, der sie vor Fehlentscheidungen bewahrt hat – eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis. Geschichten über Naturkatastrophen sind immer Geschichten, die von menschlicher Bewährung handeln. Anders aber als bei Conrad, der den Taifun als Probe auf den wahren Wert der Männlichkeit erscheinen lässt, integrieren bei Hughes die Protagonisten den Sturm fugenlos in ihr eingeschränktes Weltbild.
Captain Edwardes etwa erlebt alles wie im Rausch, ein willkommener Adrenalin-Stoß auf seine alten Tage, während der Zyklon für den jüngsten Offizier Watchett einem emotionalen Stimmbruch gleichkommt. In der Gefahr hatte ihn allein der delirante Gedanke an ein Mädchen am Leben erhalten. Nun, da sie vorüber ist, scheint auch die Liebe verflogen zu sein, als hätten die neuen männlichen Töne in seinem Wesen die zarteren verdrängt. Der Erste Offizier Mr. Buxton wiederum klammert sich in der Not an die viktorianischen Werte wie an eine rettende Planke. Und der chinesische Heizer Ao Ling schließlich, der wegen kommunistischer Agitation in Ketten gelegt wurde, sieht in den britischen Imperialisten übermenschliche Wesen, die den Sturm, für ihn ein chinesischer Drache, zu Tode reiten und ihm dabei sämtliche Schuppen ausreißen. Die anderen Chinesen betrachten den Hurrikan einfach als Vertragsbruch und verweigern jede Mithilfe bei den Rettungsaktionen.
Hughes, dieser Anatom der Krise, zoomt immer wieder in die Innenwelt der Mannschaft. Wie der Maschinist die Kessel anheizt, um zu überprüfen, ob sie dem Druck standhalten, so setzt der Autor seine Figuren einem Belastungstest aus. Man hat den Roman als Abgesang auf das britische Empire gedeutet. Das mag überzogen sein, aber Hughes zeigt allemal ein Wertesystem, das zu starr ist, um den neuen Stürmen widerstehen zu können. Die Krise schweißt die Männer nicht zusammen, in ihr offenbart das strikte Klassensystem an Bord vielmehr seine grotesken Züge, und wenn Edwardes den Kommandanten des Bergungsschiffes dazu bringt, ihm auf Knien zu schwören, dass er beim Bergelohn Abstriche machen wird, wirkt diese Szene in ihrem Widerspruch zwischen schnöden Geschäftsinteressen und zeremoniellem Ehrenhandel geradezu gespenstisch.
Erst als alles glücklich überstanden ist, kommen den Offizieren beim Essen in der Messe die Tränen, weil sie plötzlich davon überzeugt sind, das Schiff sänke. Mit Verzögerung brechen sich die Emotionen Bahn. Alle werden vom Captain mit einer Dosis Bromid zur Nervenberuhigung in die Kojen geschickt. Diese nüchterne Art entspricht auch Richard Hughes’ Temperament, der ein illusionsloser Diagnostiker war und das menschliche Drama, das sich während einer Havarie abspielt, bewusst versachlichte, weil es mit dem Genre ohnehinschon gesetzt ist. Er verordnete der Erzählkunst sozusagen Brom statt Pathos. Dieser anti-romantische Gestus macht „In Bedrängnis“ zu einem nachgeholten Höhepunkt der Literaturmoderne. Wiederzuentdecken ist ein Autor von Weltrang.
Richard Hughes: In Bedrängnis. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2012. 256 Seiten, 19,90 Euro.
Hier ist ein Autor,
der dem Zyklon der Krise
ins Auge geschaut hat
In der Stunde der Bewährung
helfen die überkommenen
Werte nicht mehr weiter
„Einem solchen Wind ausgesetzt zu sein, war ungefähr so, als müsse man sich an die blanken Tragflächen eines dahinrasenden Flugzeugs klammern.“
FOTO: HARRY GRUYAERT/MAGNUM PHOTO
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SOS-Signale einer untergehenden Weltordnung: Richard Hughes’ Seefahrerroman „In Bedrängnis“ ist eine Parabel auf den
Sturm der Geschichte – dank einer glänzenden Neuübersetzung kann man einen großen Autor nun wiederentdecken
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Thomas, so heißt das Schiffsmaskottchen an Bord der Archimedes, „einem einschraubigen Turbinendampfer von etwas über 9000 Tonnen“, der mit einer Ladung Tabak und Altpapier im November 1929 in Norfolk, Virginia ablegt und Kurs nimmt auf China. Dieser Thomas ist ein kleiner Lemur, ein Katta aus Madagaskar, der gemäß dem Kodex auf einem englischen Schiff ebenso hoch geachtet wird wie sein Besitzer, der Erste Offizier. Einen Nachteil hat das Äffchen jedoch – es mag keine geschlossenen Augen, und deshalb springt es nachts von Koje zu Koje und klappt mit seinen langen Fingern behutsam die Lider der Schlafenden auf.
Was Thomas mit der Besatzung tut, macht der Schriftsteller Richard Hughesauf seine Weise mit dem Leser: Er öffnet ihm die Augen, doch weil er ein äußerst hintergründiger Autor ist, gelingt ihm das so, dass man sich von diesem Meister der literarischen Mimikry leicht täuschen lassen kann. Denn an der Oberfläche ist „In Bedrängnis“ eine handfeste Abenteuer- und Seefahrergeschichte, die davon erzählt, wie ein Frachter in der karibischen See in einen Hurrikan gerät. Die enorme Wirkung aber dieses höchst erstaunlichen Buches – sie liegt nicht in seiner Dramatik, sondern in seiner Fachlichkeit.
Er wolle, erkärt Hughes, dass man die Archimedes nicht so sehe, „wie ein Verliebter eine Frau sieht, sondern so, wie ein Medizinstudent es tut“. Und deshalb breitet er zunächst eine Fülle technischer Details über das Schiff aus, wie ein Chirurg, der das Besteck prüft, bevor er sein Skalpell ansetzt. Denn, so Hughes, „am Ausmaß des Fortschritts, den ein großer moderner Dampfer gegenüber dem kleinen Schoner darstellt, bemisst sich, womit die Besatzung eines Dampfers konfrontiert ist, wenn einmal dessen Kraftquellen ausfallen“. Anders gesagt, die Technik zeigt ihre teuflische Kehrseite in dem Augenblick, da sie versagt. Die vielen nautischen Begriffen stellen den Übersetzer vor keine leichte Aufgabe, und Michael Walter hat diese Herausforderung vorzüglich gemeistert. Er folgt dem Autor in dessen gut sortierte Werkstatt, ohne das ironische Understatement aus dem Auge zu verlieren.
Und Richard Hughes (1900-1976) wusste sehr genau, wovon er sprach. Er war nicht nur ein überaus vielseitiger Autor, der schon als Student in Oxford zum Star der universitären Literaturszene avancierte, er war zugleich selbst ein Abenteurer und Weltreisender, der noch mit über sechzig das Ägäische Meer allein in einem Segelboot überquerte. Sein bekanntester Roman „Ein Sturmwind auf Jamaika“ erschien 1929 und war damals ein Bestseller, der später aufwendig verfilmt worden ist. Bei uns ist das Buch unverzeihlicherweise seit langem vergriffen. In diesem ebenso grandios erzählten wie gewagten Roman geht es um eine Gruppe von Kindern, die in die Hände von Piraten fallen, wobei sich die Piraten als weitaus humaner erweisen, als es die Kinder sind. Ein unkorrektes Buch wie dieses würde in unseren ausmoderierten Zeiten keinen Verleger finden.
Richard Hughes war als Romancier ein scharfer Analytiker. Auch in seinem überragenden, mit subtiler Symbolik aufgeladenem Roman „In Bedrängnis“ geht er gerade dann wie ein Ingenieur vor, wenn er nicht Maschinen, sondern Menschen beschreibt. So etwa schildert er, wie der nach den Strapazen völlig entkräftete Leitende Ingenieur vom Schlaf übermannt wird. Gerade als er sich ausmalt, wie es wäre, früher in Pension zu gehen und sich ganz der Familie zu widmen, stürzt er über die Reling ins Meer. Keiner an Bord bemerkt sein Verschwinden, und am Schluss heißt es, als die Wache sechs Glasen läutete, war dies „das einzige Geläut, das je erscholl über dem Grab von Mr. Ramsey MacDonald, ehemals Leitender Ingenieur“.
Dieser letzte Satz im Buch ist eine gallige Parodie auf das Genre, dessen Vorgaben Hughes formal erfüllt und inhaltlich konterkariert. „In Bedrängnis“ ist oft mit Joseph Conrads „Taifun“ verglichen worden. Doch Hughes distanziert sich von dem vermeintlichen Vorbild, indem er schreibt, dass Hurrikane im Jahr 1929 zuverlässiger vorausgesagt werden konnten als noch zu Conrads Zeiten. Aber das gilt natürlich nur für meteorologische Turbulenzen, und man kann diese Bemerkung durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass ein Unwetter zwar das Sujet des Romans ist, aber nicht sein Thema. Die Handlung setzt unmittelbar nach dem Börsencrash von 1929 ein, und als Hughes 1938 den Roman veröffentlichte, war die Weltwirtschaftskrise kaum überwunden und der Zweite Weltkrieg warf bereits seinen Schatten voraus – zentrifugale Kräfte waren entfesselt, welche die alte Weltordnung zerreißen sollten wie ein Sturm die Takelage eines Seglers.
Vor diesem Hintergrund muss man den Roman als zeitlose Parabel lesen, die genau nachzeichnet, wie eine Krise funktioniert. So wird den Offizieren irgendwann mit Erschrecken klar, dass sie ihr Überleben weniger ihren hektischen Aktivitäten zu verdanken haben als vielmehr dem Sturm selbst, der sie vor Fehlentscheidungen bewahrt hat – eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis. Geschichten über Naturkatastrophen sind immer Geschichten, die von menschlicher Bewährung handeln. Anders aber als bei Conrad, der den Taifun als Probe auf den wahren Wert der Männlichkeit erscheinen lässt, integrieren bei Hughes die Protagonisten den Sturm fugenlos in ihr eingeschränktes Weltbild.
Captain Edwardes etwa erlebt alles wie im Rausch, ein willkommener Adrenalin-Stoß auf seine alten Tage, während der Zyklon für den jüngsten Offizier Watchett einem emotionalen Stimmbruch gleichkommt. In der Gefahr hatte ihn allein der delirante Gedanke an ein Mädchen am Leben erhalten. Nun, da sie vorüber ist, scheint auch die Liebe verflogen zu sein, als hätten die neuen männlichen Töne in seinem Wesen die zarteren verdrängt. Der Erste Offizier Mr. Buxton wiederum klammert sich in der Not an die viktorianischen Werte wie an eine rettende Planke. Und der chinesische Heizer Ao Ling schließlich, der wegen kommunistischer Agitation in Ketten gelegt wurde, sieht in den britischen Imperialisten übermenschliche Wesen, die den Sturm, für ihn ein chinesischer Drache, zu Tode reiten und ihm dabei sämtliche Schuppen ausreißen. Die anderen Chinesen betrachten den Hurrikan einfach als Vertragsbruch und verweigern jede Mithilfe bei den Rettungsaktionen.
Hughes, dieser Anatom der Krise, zoomt immer wieder in die Innenwelt der Mannschaft. Wie der Maschinist die Kessel anheizt, um zu überprüfen, ob sie dem Druck standhalten, so setzt der Autor seine Figuren einem Belastungstest aus. Man hat den Roman als Abgesang auf das britische Empire gedeutet. Das mag überzogen sein, aber Hughes zeigt allemal ein Wertesystem, das zu starr ist, um den neuen Stürmen widerstehen zu können. Die Krise schweißt die Männer nicht zusammen, in ihr offenbart das strikte Klassensystem an Bord vielmehr seine grotesken Züge, und wenn Edwardes den Kommandanten des Bergungsschiffes dazu bringt, ihm auf Knien zu schwören, dass er beim Bergelohn Abstriche machen wird, wirkt diese Szene in ihrem Widerspruch zwischen schnöden Geschäftsinteressen und zeremoniellem Ehrenhandel geradezu gespenstisch.
Erst als alles glücklich überstanden ist, kommen den Offizieren beim Essen in der Messe die Tränen, weil sie plötzlich davon überzeugt sind, das Schiff sänke. Mit Verzögerung brechen sich die Emotionen Bahn. Alle werden vom Captain mit einer Dosis Bromid zur Nervenberuhigung in die Kojen geschickt. Diese nüchterne Art entspricht auch Richard Hughes’ Temperament, der ein illusionsloser Diagnostiker war und das menschliche Drama, das sich während einer Havarie abspielt, bewusst versachlichte, weil es mit dem Genre ohnehinschon gesetzt ist. Er verordnete der Erzählkunst sozusagen Brom statt Pathos. Dieser anti-romantische Gestus macht „In Bedrängnis“ zu einem nachgeholten Höhepunkt der Literaturmoderne. Wiederzuentdecken ist ein Autor von Weltrang.
Richard Hughes: In Bedrängnis. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Dörlemann Verlag, Zürich 2012. 256 Seiten, 19,90 Euro.
Hier ist ein Autor,
der dem Zyklon der Krise
ins Auge geschaut hat
In der Stunde der Bewährung
helfen die überkommenen
Werte nicht mehr weiter
„Einem solchen Wind ausgesetzt zu sein, war ungefähr so, als müsse man sich an die blanken Tragflächen eines dahinrasenden Flugzeugs klammern.“
FOTO: HARRY GRUYAERT/MAGNUM PHOTO
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nicht nur der Autor ist in der nautischen Sprache bewandert, auch der Übersetzer, stellt Jürgen Brocan verblüfft fest. Die Neuübersetzung dieses klassischen Seefahrerromans von Richard Hughes besticht laut Borcan durch ihre nüchterne Präzision. Die genaue Schilderung der Abläufe, aber auch die raffinierte Darstellung des Innenlebens der den Elementen aufs Äußerste ausgesetzten Personen im Buch lassen den Rezensenten den alten Topos vom Kampf Mensch gegen Natur in selten gelesener spannender und wuchtiger Version erleben, spannender als etwa Conrads "Taifun", wie Brocan erklärt. Dass dem Text ein wahres Ereignis, die mehrtägige Seenot des Dampfers "Phemius" im Jahr 1932 zugrundeliegt, steigert den "Schockeffekt des Realen" in diesem Buch für Brocan noch weiter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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