Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • ISBN-13: 9783518413326
  • ISBN-10: 3518413325
  • Artikelnr.: 10264970
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2002

Taghelle Aussichten eines Bunkermenschen
Stilleben mit Einzelanimal: Felix Hartlaubs Aufzeichnungen und Briefe aus dem Krieg

Er drängt, bettelt. Man möchte ihm bitte die gewünschten Bücher schicken. Im besetzten Paris zieht der Soldat und promovierte Historiker Felix Hartlaub dann selber los. Broschierte Bücher sind billig zu haben. Am 8. März 1945, die europäische Welt liegt in Schutt und Asche, bittet Hartlaub seinen Vater, den er mit seinen 31 Jahren "Pappi" nennt, um Reclambändchen - Gotthelf, Kleist, Schiller, Shakespeare. Der Kanon ist intakt.

Zerbrochen ist der Lebenszusammenhang. Der Weltkrieg hat Hartlaub aus seinen geliebten Studien für das Staatsexamen gerissen. Am 13. September 1943 sinniert er in einem Brief an seinen Vater über die nahen beruflichen Aussichten: "Zu großen wissenschaftlichen oder litterarischen Arbeiten wird einfach die materielle Grundlage fehlen . . . Es käme wohl auf zündende kleine litterarische Schöpfungen aus dem Erleben dieser Jahre heraus an." Noch ist die Lebenszeit nicht ganz verloren. Hartlaub macht aus seinen besonderen Erfahrungen während der Kriegsjahre eine ganz individuelle Quelle. Am 30. Mai 1944 wendet er sich mit einem Arbeitsprojekt an den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der 1933 gezwungen worden war, die Heidelberger Universität zu verlassen: "Die Frage nach der Genese, nach dem wie war es möglich" sei wahrscheinlich die einzige, die noch an seine, Hartlaubs, Generation gestellt werde. "In diesem Zusammenhang wird mir auch deutlich, dass es eigentlich nur ein Studiengebiet geben kann, für das man die Möglichkeit eigener Einsichten mitbringt: das deutsche 19. Jahrhundert." Das eigene Erleben für die Poesie, die eigenen Einsichten für die Wissenschaft.

Was bleibt, sind Fragmente und Vorschläge. Denn Anfang Mai 1945 wird Hartlaub zur Infanterie abkommandiert. Er besucht noch einmal Freunde in Berlin. Er soll sich in Berlin-Spandau melden. Dort trifft er nicht ein. Seitdem gilt er als vermißt - ein früh Unvollendeter. In den fünfziger Jahren werden Schriftsteller und Kritiker aufmerksam. Hans Egon Holthusen lobt 1951: "Man hat Grund zu vermuten, daß uns in Hartlaub eine Begabung ersten Ranges verlorengegangen ist, vielleicht das stärkste Prosa-Talent der jüngeren deutschen Generation." Heinz Piontek lobt 1956: Hartlaubs Sprache sei "gegenwärtig doch die fortschrittlichste und modernste Prosa, über die wir seit Benns ,Ptolemäer' in Deutschland verfügen". Ein kurzer Sommer des Ruhms. Dann wird es um ihn still.

Felix Hartlaub wird am 17. Juni 1913 in Bremen geboren. Die Familie zieht nach Mannheim, der Vater, Kunsthistoriker, übernimmt die Leitung der Städtischen Kunsthalle. Die Mutter stirbt 1930. Der Vater muß 1933 als Direktor zurücktreten, weil er "entartete Kunst" ausgestellt hat. Hartlaub studiert Romanistik, Geschichte, Kunstgeschichte in Heidelberg und Berlin. Mit Beginn des Kriegs beginnt sein Kampf um einen Platz im Archiv. Im September 1939 wird er zur Wehrmacht eingezogen. Im Jahr darauf arbeitet er bei der Historischen Archivkommission des Auswärtigen Amtes in Paris, geht als Soldat nach Rumänien. Ende 1941 arbeitet er in Berlin bei der Wehrmachtskriegsgeschichte, darauf im Führerhauptquartier.

Traut man den Briefen, dann war Hartlaub weniger ein Beobachter aus Kalkül als aus Beziehungsschwäche. Daß er im Bunker des Führerhauptquartiers landet, entspricht seinem Wunsch, der Front zu entkommen, und seinem menschenscheuen Naturell. Im Brief vom 8. März 1939 findet man eine für sein Daseinsempfinden typische Notiz: "Die Unwirklichkeit als Einzelner ist schwer, - ein stabilisierter Schwindel, eine eng begrenzte Leere." Als er kurz darauf keine historischen Studien mehr treiben darf, sondern sich selbst als Soldat in die Geschichte gerückt sieht, findet er andere Worte für dieselbe Verlorenheit: "Niemand weiss und begreift weniger von der eigenen Zeit als die Zeitgenossen. Mir selbst geht es wenigstens so, man bleibt in einer so beschämenden Weise in den eigenen Umriss gebannt . . ." Bald darauf sitzt er im Zentrum der Macht. Im Mai 1942 wechselt er zur Abteilung Kriegstagebuch im Führerhauptquartier Werwolf in der Ukraine, schließlich in die Wolfsschanze in Ostpreußen. Im September 1944 beginnt er mit den "Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier". Hartlaub, der Historiker, kommt an diesem Ort der Geschichte "mächtig auf seine Kosten". Der Schriftsteller Hartlaub meint, daß er unter den Bunkermenschen verkümmern werde, weil er "alles nur durch das Medium der Akten" sieht, während er Berührungen mit wirklichen Menschen brauche. Aus diesem Dilemma entsteht sein Stil. Darin mischt sich die Unerbittlichkeit der Menschenbeobachtung mit der Poesie der Wahrnehmungslust.

Die Nähe zur Macht hat seinem Ruhm nicht geschadet, im Gegenteil. Er lastet vor allem auf den Kriegsaufzeichnungen, die in dieser Zeitung vorabgedruckt wurden. Hier verschmelzen Schriftsteller und Historiker Hartlaub zu einem wachen Beobachter - ein Beobachter des menschlich Zufälligen und Hinfälligen im Herz der Weltvernichtung. Der Gang der großen Geschichte zerfällt Hartlaub sofort in atmosphärisch stechende Stilleben mit Menschen. Eine Epoche schnurrt in die Sekunden der Blickkontakte zusammen. Die "Aufzeichnung" ist Hartlaubs genuines literarisches Genre.

Einige literarische Texte, Auszüge aus den Tagebüchern und aus den Briefen werden in den fünfziger Jahren in Zeitschriften veröffentlicht. Eine Sammlung von Texten liegt 1950 vor: "Von unten gesehen. Impressionen und Aufzeichnungen des Obergefreiten Felix Hartlaub", und 1955 "Im Sperrbezirk. Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg". Diese Auswahl wird in einer erweiterten Auflage noch einmal 1984 veröffentlicht. Drei Jahre darauf folgt eine erste Briefausgabe. In der neuen Edition, herausgegeben und kommentiert von Gabriele Lieselotte Ewenz, findet man neben den literarischen Texten erstmals den vollständigen Text der Kriegsaufzeichnungen und Briefe aus jener Zeit ebenso wie neue Briefe, von denen einige als verschollen galten.

Ob der junge Felix Hartlaub dadurch wieder im literarischen Bewußtsein lebendig wird? Die fragmentarischen literarischen Texte werden diese Hoffnung insgesamt wohl nicht erfüllen.Die Briefe sind eine Beigabe zum Verständnis eines nicht ganz einfachen Menschen. Es bleiben die "Aufzeichnungen" aus Paris, aus Rumänien, vor allem aus dem Führerhauptquartier. Diesen beklemmend taghellen Aussichten eines noch lebendigen Bunkermenschen - ein "scheues und unverständliches Einzelanimal" - wünscht man viele Leser. Und die Literaturgeschichtsschreiber haben nun noch mal die Chance bekommen, die "Aufzeichnungen" in den Bestand der deutschen Literatur aufzunehmen.

Felix Hartlaub: "In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945. Herausgegeben von Gabriele Lieselotte Ewenz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 2 Bände, zus. 1124 S., geb., 64,- [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2003

Im Sperrkreis des Dilettantismus
Die Bildungskatastrophe hat die kulturellen Leitinstitutionen erreicht: Der Skandal der neuen Hartlaub-Ausgabe
Was ist der Unterschied zwischen verschossenem und geschorenem Samt? Wenn man es nicht weiß, kann man sich bei Kennern von Textilien kundig machen. „Verschossen” ist ein Samt, dessen Farbe sich verändert hat, sie ist sozusagen unterm Licht verblüht; „geschoren” ist Samt, dessen Flor so abgeschnitten wurde, wie man es zuweilen auch bei männlichem Haupthaar tut: Geschorener Samt ist weniger weich und pelzig als ungeschorener, seine taktile Anmutung ist deutlich kräftiger. Wird Samt bei Sitzmöbeln verwendet, ist er fast immer geschoren – was nicht ausschließt, dass er im Lauf der Zeit zusätzlich noch etwas Verschossenes bekommt.
In seinen Kriegsaufzeichnungen aus Paris, die vor einem halben Jahr im Suhrkamp Verlag neu ediert wurden, beschreibt der Schriftsteller Felix Hartlaub (1913 bis 1945) ein direkt neben der Gare d’Orsay gelegenes großes Hotel, in dem die Mitglieder der deutschen Archivkommission logierten, die nach der Eroberung die Akten des französischen Außenministeriums sichteten – darunter auch der vom Wehrdienst dafür eigens freigestellte Hartlaub. Seine atemlos gedrängte Schilderung sammelt Unmengen von Sinneseindrücken, darunter Details über das Mobiliar: „Die Zimmer in Gelb – Gold und Blau. Die Bergèren mit blauem verschossenem Samt bezogen, der Tisch dünnbeinig und schmal, an Kommoden großer Mangel.” Sucht man sich im Marbacher Literaturarchiv, wo die Handschrift von Hartlaubs Aufzeichnungen mittlerweile lagert, die entsprechende Passage heraus, liest sich der Satz etwas anders: „Die Zimmer in Gelb – Gold und Blau. Die Bergèren mit blauem geschorenem Samt bezogen (?), der Tisch dünnbeinig und schmal, an Kommoden bahuts etc. grosser Mangel.”
Fusselig, aber lesbar
Das sind drei Abweichungen in einem Satz von drei Zeilen. Aus „geschorenem” wird „verschossener” Samt, das Fragezeichen, das Hartlaub selbst hier setzte – vielleicht nicht ganz sicher in seiner Wahrnehmung – fällt weg, ebenso der Verweis auf die fehlenden „bahuts”, Truhen also, die der Romanist Hartlaub wie die für Schäferstündchen geeigneten Polstermöbel, die „Bergèren”, mit einem französischen Wort benennt. Wer die Seite 111 der Suhrkamp-Edition (siehe SZ vom 8.6. 2002) an Hand des Original-Manuskripts überprüft, stößt auf 13 solcher Abweichungen. Auch wenn die Seiten eng bedruckt sind: 13 Fehler auf einer einzigen, das ist etwas viel für eine Ausgabe, die laut Nachwort „eine textkritische Dokumentation” der Kriegsaufzeichnungen Hartlaubs bieten will und die verkündet: „Die Textkonstitution erfolgt auf der Grundlage des Originals. Es wurde weder korrigiert noch vereinheitlicht.” Das kann doch nur heißen: Anspruch dieser Ausgabe ist eine auch orthographisch minutiöse Transkription, die kein Wort weglassen und keines falsch wiedergeben darf, ja die nicht einmal ein vom Autor in Klammern gesetztes Fragezeichen opfern dürfte.
Felix Hartlaubs Handschrift ist klein, ein wenig fusselig. Schwer lesbar ist sie nicht; jedenfalls kennt die Geschichte des Editionswesens weit mühsamere Fälle. Im Übrigen macht jeder Editor die Erfahrung, dass er sich im Lauf seiner Arbeit in die mühseligsten Schriften einliest. Gabriele Lieselotte Ewenz, die Herausgeberin der neuen Ausgabe, hat dies offenbar nicht geleistet, denn die Beispiele der fatalen Seite 111 sind statistisch zwar nicht ganz repräsentativ, aber da, wo Ewenz allein arbeiten musste, bringt sie es immer noch auf durchschnittlich zwei bis drei oft gravierende Lesefehler oder Auslassungen pro Druckseite.
Wo Frau Ewenz allein arbeiten musste: Hinter diesem Halbsatz verbirgt sich die Geschichte eines fünfzigjährigen Editionsunglücks, das selbst in der Geschichte der Germanistik fast einzigartig dasteht. Ein paar Stationen muss man kennen lernen, will man begreifen, wie skandalös und offensichtlich unzulänglich das ist, was im Jahre 2002 beim renommiertesten deutschen Literaturverlag erscheinen konnte, was von der Freien Universität Berlin im Jahre 2000 als promotionswürdige Leistung anerkannt wurde und was Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur unterstützt hat (war gerade da nicht mit den Ausgaben von Arno Schmidt und Wieland ein ganz anderer philologischer Geist gepflegt worden?).
Felix Hartlaub konnte nichts von dem, was er geschrieben hatte, zum Druck bringen. Der hochbegabte Sohn einer musisch gebildeten Familie blieb seit den letzten Kriegstagen im April 1945 in Berlin verschollen. Hartlaub hatte seit Kindertagen geschrieben und gezeichnet, und diese erstaunlich frühreifen Leistungen waren von den Eltern, vor allem vom Vater Gustav Hartlaub, einem 1933 von den Nazis entlassenen Museumsdirektor, nicht nur gefördert, sondern teilweise überarbeitet und „fertiggestellt” worden. Felix hatte zudem eine literarisch ebenfalls überaus talentierte Schwester, Genoveva, genannt Geno, und dieses zunächst so förderliche Umfeld wuchs sich je länger desto mehr zu einer Belastung für Felix aus: Leistungsdruck, Konkurrenz, Einschnürung der eigenen Besonderheit – das waren die Gefahren, die ihn auf einem Weg bedrohten, den er gerade erst begonnen hatte, als er vom Krieg verschlungen wurde.
Hartlaubs schriftstellerische Hinterlassenschaft verblieb in seiner Familie, und diese, ästhetisch urteilsfähig, literarisch hochgebildet, nahm seine Auswertung in eigene Regie. Es war die Schwester Geno, nicht ein neutraler Literaturwissenschaftler, die zunächst unter den Augen des Vaters die Schriften von Felix nach und nach der Öffentlichkeit zugänglich machte. Philologie von Verwandten oder Freunden aber ist fast immer verhängnisvoll. Die menschliche Nähe verführt zu Eigenmächtigkeiten – war man dem Genius nicht innigst verbunden?
Im Falle Hartlaubs kam der skizzenhafte, systematisch unklar zwischen Tagebuch, Notiz, Romanentwurf, Erzählung schwankende Status seiner Aufzeichnungen hinzu. Sie beziehen sich vielfach auf reale Vorgänge in Hartlaubs militärischer Karriere, die ihn bis ins Führerhauptquartier brachte, wo er an der Abfassung des offiziellen Wehrmachtstagebuchs mitwirkte. Also wären Forschung, Kommentierung, minutiöse Dokumentation nötig gewesen, damit überhaupt verständlich werden kann, welche Art von Texten man vor Augen hat; strenge, historisch-kritische Philologie allein hätte die hier sich stellenden Aufgaben lösen können.
All das konnte die Familie nicht leisten. 1955 kam nach etlichen Teilausgaben, die bereits für beträchtliches Aufsehen gesorgt und Hartlaubs Fama begründet hatten, ein wuchtiger Band mit dem Titel „Das Gesamtwerk” bei S. Fischer heraus, betreut von Geno Hartlaub. Über dieses Monument der Pietät wäre kein Wort zu verlieren, wenn es in den folgenden Jahrzehnten nicht dabei geblieben wäre. Geno hat die Texte ihres Bruders, die sie gewiss gut lesen konnte, bearbeitet, redigiert, teilweise gekürzt, mit Titeln versehen, nach Genres sortiert und dabei ihren Charakter stark verschoben. Aus halbfiktiven Aufzeichnungen wurden „Tagebücher”, hochliterarisierte Gebilde gerieten zu authentischen Mitteilungen aus der direkten Umgebung des Führers. Die Jugenderzählungen, meist abgebrochene Versuche, wurden komplette Novellen, eine Auswahl aus den Briefen unterschlug die Konflikte zwischen Felix und seiner Familie. Irreführend war schon der Titel „Das Gesamtwerk”, denn nicht nur bei den Briefen hatte Geno ausgewählt, sondern auch bei den übrigen Aufzeichnungen und Fragmenten. Hier fehlen ganze Absätze, sogar einzelne vollständige Stücke.
Ruhm und Verkennung
All das war im Jahre 1955, als mit der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion auch die Hoffnung, Felix könne aus dem Krieg doch noch zurückkommen, endgültig geschwunden war, nicht völlig illegitim. Seinen Rang, von manchen, allen voran Hans Egon Holthusen, frühzeitig erkannt, war erst mit dem Band von Geno etabliert; eine der größten Begabungen seiner Generation, tragisch abgebrochen, war sichtbar geworden. Nun hätte Hartlaub zum Gegenstand einer kritischen philologischen Befassung werden können. Dazu ist es ein einziges Mal gekommen, doch die Chance wurde vertan. Anfang der sechziger Jahre projektierte der junge Germanist Christian Hartwig Wilke eine Doktorarbeit über Hartlaubs Personalstil. Wilke gelang es, zu diesem Zweck Einblick in die Originaltexte zu nehmen, die ihm Gustav Hartlaub, der Vater von Felix, für einige Zeit überließ. Als Wilke die zahllosen Abweichungen von der „Gesamtwerk”-Ausgabe bemerkte, veränderte er sein Dissertationsthema. 1967 erschien seine Arbeit unter dem Titel „Die letzten Aufzeichnungen Felix Hartlaubs” – es war der Teildruck seiner 1964 abgegebenen Promotion, die das Gesamtwerk textkritisch untersucht hatte.
Wilkes überaus präzise, nicht immer leicht zu lesende Arbeit ist über weite Strecken eine interpretierende Kollation der Abweichungen, also die Vorstufe einer Neuedition. Jedenfalls hätte nun das philologische Problem hinreichend bekannt sein müssen, denn schon der publizierte Teil von Wilkes Arbeit bezeugte Hunderte von Eingriffen Geno Hartlaubs in die Texte ihres Bruders. Doch Wilkes Resultate blieben unbeachtet. Nur eine einzige Rezension wurde seiner Dissertation zuteil. Geno lobte sie 1984 herablassend im Nachwort eines Taschenbuchs mit den Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier („Im Sperrkreis”), das im Wesentlichen immer noch den Text von 1955 wiedergab, nicht ohne hinzuzufügen, dass die philologische Ausgabe der Aufzeichnungen immer noch ausstehe.
Über tausend Lesefehler
1993 übergab Geno Hartlaub den Nachlass ihres Bruders dem Marbacher Literaturarchiv. Mit der Neuausgabe des Werks wurde aber nicht Christian Wilke beauftragt, sondern eine junge Anfängerin, Gabriele Lieselotte Ewenz. Niemand scheint ihr bei der Arbeit – auch ihr diente die Hartlaub- Edition als Dissertationsgegenstand – über die Schulter geschaut zu haben. Wilkes Vorarbeiten benutzte sie, soweit diese gedruckt vorlagen. Auch sonst hielt sich Ewenz in wichtigen Fragen, wie Datierungen, Textkonstitution an die Vorarbeiten von Wilke, außerdem – für die Teile aus dem Führerhauptquartier – an ungedruckte Aufzeichnungen eines Kollegen Hartlaubs in der Tagebuchabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht. Dass ihr eigener Kommentar eher dürftig ausfiel und viel Raum für Mitteilungen wie „Flaubert, Gustave, frz. Schriftsteller” verschwendete, fiel manchem Rezensenten der neuen Ausgabe mit bloßem Auge auf.
Christian Hartwig Wilke war nicht ohne Grund fassungslos, als er die beiden Suhrkamp-Bände zu Gesicht bekam. Dort, wo Gabriele Ewenz die veröffentlichte Textkritik von Wilke ausbeuten konnte – ohne diese Vorarbeit gebührend kenntlich zu machen –, gibt es zwischen seiner und ihrer Lesung zwei Prozent Abweichungen, in den übrigen Teilen sind es dreißig bis vierzig Prozent. Und wenn man ins Archiv geht und nachschaut, dann sieht man: Wilke hat Recht. Eine etwa dreißig Seiten lange Fehlerliste Wilkes verzeichnet über 600 Lesefehler für etwa 250 Druckseiten. Dabei konnte er nur das vergleichen, was ihm selbst Anfang der sechziger Jahre vorlag. Nicht enthalten ist in Wilkes Aufstellung der Kern der neuen Ausgabe, die 430 Seiten großenteils bisher nicht edierter Briefe Hartlaubs aus dem Zweiten Weltkrieg. Legt man die von Wilke eruierte Fehlerquote (mindestens zwei Abweichungen pro Seite) zugrunde, kommt man auf nocheinmal schätzungsweise 900 Fehler.
Man muss also immerhin mit der Möglichkeit rechnen, dass die neue Ausgabe zwischen tausend und zweitausend falsche Lesarten enthält. Da sie nur einen minimalen kritischen Apparat, einen wertlosen Kommentar und eine knappe biographische Einleitung aufweist, die lediglich Bekanntes zusammenfasst, muss man feststellen: Von einer wissenschaftlich brauchbaren Ausgabe kann nicht die Rede sein.
Auf der Strecke bleiben die Sprachmacht und die Poesie der Hartlaubschen Prosa. Aus einer „eisigen Sekunde” wird eine „einzige Sekunde”. Die Karikatur der sprachlichen Unbeholfenheit eines Deutschen im Französischen wird verkannt: „Bien – je ferme moi-même” steht bei Ewenz, während Hartlaub schreibt: „Bien – je – fermé – moi même.” Literarische Anspielungen erkennt Ewenz fast regelmäßig nicht, so heißt es bei ihr: „Ölsardinen – Kunsthonig – aus der Quelle”, wo Hartlaub schreibt: „Ölsardinen – Kunsthonig – an der Quelle saß der Knabe”. Französische Passagen, die sie nicht entziffern kann, lässt sie einfach weg. Viele von Ewenz’ Fehllesungen folgen der Ausgabe von 1955 – nur darf man unterstellen, dass Geno absichtlich änderte, was Ewenz hilflos übernahm.
Geschoren oder verschossen: In der Summe sind das keineswegs Kleinigkeiten. Hunderte von Abweichungen machen einen neuen Text. Wo Geno Hartlaub eigenmächtig glättet, da kapituliert Ewenz ratlos. Genos Text ist straff geschoren, der Text von Ewenz ist zusätzlich unansehnlich verschossen. Festzuhalten bleibt, dass hier die akademischen und verlegerischen Prüfmechanismen spektakulär versagt haben. Die Bildungskatastrophe hat die Leitinstitutionen unseres geistigen Lebens erreicht – man ahnte es längst, aber selten hatte man es so plastisch vor Augen. Gabriele Lieselotte Ewenz wurde vor einem Jahr zur Leiterin des Frankfurter Adorno-Archivs berufen. Was sie verdient hätte, wären sorgsame Betreuer und kritische Gegenleser gewesen, die sie behutsam angeleitet hätten, bei einer Aufgabe, von der sie handwerklich offensichtlich überfordert war.
GUSTAV SEIBT
Französischer Kellner, deutschen Besatzern zu Diensten: Zeichnung Felix Hartlaubs in der Handschrift seiner Pariser Aufzeichnungen von 1941. Seit 1993 wird das Manuskript im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrt.
Foto: DLA
„... mit blauem geschorenem Samt bezogen (?), der Tisch dünnbeinig und schmal, an Kommoden, bahuts etc. großer Mangel.” Eine kleinteilige, aber nicht schwer lesbare Handschrift: Aus Felix Hartlaubs Pariser Aufzeichnungen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Ende des Krieges umgekommene Autor und promovierte Historiker Hartlaub gilt, den Informationen von Rezensent Eberhard Rathgeb zufolge, als "früh Unvollendeter". Schon 1951 habe die Literaturkritik den Verlust dieser Prosa-Begabung "ersten Ranges" beklagt. Seit dieser Zeit seien auch immer wieder literarische Texte Hartlaubs veröffentlicht worden. Nun lägen erstmals die vollständigen Texte seiner Kriegsaufzeichnungen und Briefe vor, darunter auch solche, die bislang als verschollen galten. Doch nach Ansicht des Rezensenten sind diese fragmentarischen Texte insgesamt kaum in der Lage, den jungen Felix Hartlaub im literarischen Bewusstsein wieder lebendig werden zu lassen. Eher seien sie "eine Beigabe zum Verständnis eines nicht ganz einfachen Menschen". Dennoch wünscht der Rezensent, wenigstens den "beklemmend lebendigen" "Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier" von 1944 viele Leser und hofft auf ihre Aufnahme in den "Bestand der deutschen Literatur".

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