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Die Wut ist Yehyas Sucht. Die Kriminalität seine Droge. Was er braucht, ist Entzug. Aber in den Gangs von Neukölln sind alle auf dieser Droge. Mit dreiundzwanzig hat Yehya E. eine eindrucksvolle Karriere hinter sich: Sohn palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon, die erste Straftat mit sieben, Einser-Schüler und Tyrann an der Rütli-Schule, mit 15 Boss von der Sonnenallee. Drei Jahre Gefängnis, dann Vorzeige-Aussteiger aus der kriminellen Szene, Streitschlichter in Neukölln, Liebling der Politiker. Er scheint es geschafft zu haben. Plötzlich der Rückschlag. Wer hat versagt? Schonungslos…mehr

Produktbeschreibung
Die Wut ist Yehyas Sucht. Die Kriminalität seine Droge. Was er braucht, ist Entzug. Aber in den Gangs von Neukölln sind alle auf dieser Droge.
Mit dreiundzwanzig hat Yehya E. eine eindrucksvolle Karriere hinter sich: Sohn palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon, die erste Straftat mit sieben, Einser-Schüler und Tyrann an der Rütli-Schule, mit 15 Boss von der Sonnenallee. Drei Jahre Gefängnis, dann Vorzeige-Aussteiger aus der kriminellen Szene, Streitschlichter in Neukölln, Liebling der Politiker. Er scheint es geschafft zu haben. Plötzlich der Rückschlag. Wer hat versagt?
Schonungslos und kritisch erzählt Christian Stahl von einer steilen kriminellen Karriere und dem schwierigen Weg des Ausstiegs, der jederzeit scheitern kann. Ein ebenso einzigartiger wie intimer Bericht über das kriminelle Leben in der parallelen Welt von Neukölln jenseits der Klischees des deutschen Boulevards.
Autorenporträt
Stahl, Christian
Christian Stahl, geboren 1970 in Köln, ist gelernter Journalist, hat in Bonn und Oxford Literaturwissenschaft und Geschichte studiert und viele Jahre beim Radio und Fernsehen gearbeitet. 2005 gründete er eine Agentur für Kommunikation. Christian Stahl dreht Filme, coacht, lehrt andere, ihre Geschichten zu erzählen, und erzählt selbst.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014

Über Yehya lacht man nicht

Er war der jüngste Intensivtäter Deutschlands und stolz darauf: Über das Leben von Yehya E. und ein Land, das verhindert, dass Flüchtlinge hier heimisch werden

Der junge Mann, um den es hier geht, ist sehr intelligent und hübsch außerdem. Schon immer wollte er einen Clown sehen, und eines Tages beschließt er also im Alter von 22 Jahren, einen Zirkus zu besuchen. Er überredet einen seiner Freunde mitzugehen, heimlich. Die beiden sitzen in der ersten Reihe.

"Und dann kam endlich der Clown und ich spürte solch eine innere Freude, dass ich mein Gesicht etwas von meinem Freund wegdrehte, damit er nicht sieht, dass ich lächle bei den Witzen des Clowns. Und schließlich kam er zu mir und ich war so aufgeregt wie ein kleines Kind, das in den Kindergarten kommt, und wurde nervös, was mir selten passiert. Ich konnte nicht glauben, dass ein echter Clown vor mir steht." Der Clown sagt dem jungen Mann, dass er die Augen schließen und den Mund öffnen solle. Der junge Mann tut, was der Clown sagt, und wird mit Popcorn überschüttet. "Mir blieb es im Hals stecken und meine ganzen Klamotten und Haare waren voll damit! Alle Kinder lachten mich aus und in mir entfaltete sich eine enorme Wut gegen diesen Clown, der dann wegrannte."

Der junge Mann ist Yehya aus Neukölln, der schon mit dreizehn Jahren in der Intensivtäterkartei registriert wurde. Der Boss der Sonnenallee, vor dem alle Angst hatten, weil er kein "Nour" habe, was Arabisch ist und so viel wie Seele oder Licht heißt. Mit sechzehn Jahren war er zusammen mit Bekannten an einem Raubüberfall auf einen Unternehmer in Hamburg beteiligt und saß dafür etwas mehr als zwei Jahre im Knast. Und nun, wieder ein paar Jahre später, also die Sache mit dem Clown, der Yehya mit Popcorn bewirft. Die beiden Freunde verlassen das Zirkuszelt, und Yehyas Freund ist aufgebracht. Er will die Sache sofort klären, aber Yehya bittet ihn, nichts zu tun, weil er den "korrekten Weg" gehen wolle. Er geht zu dem Zirkusleiter und trägt sein Problem vor, aber der Zirkusleiter versteht nicht so richtig, was er will. Yehya überlegt ein bisschen und ruft dann die Polizei. Denn das geht einfach nicht. Mit Popcorn beworfen und dann dafür ausgelacht werden. Niemand geht so mit Yehya um. Der Beamte am Telefon fängt an zu lachen, und Yehya spielt kurz mit dem Gedanken, die Angelegenheit doch "auf eine andere Art zu klären". Aber er ruft noch mal die Polizei und berichtet von seinem Problem mit dem Clown. Nach vierzig Minuten kommt ein Streifenwagen, darin ein türkischer und ein deutscher Polizist. "Zunächst begann ich, dem türkischen Polizisten die Sachlage zu erläutern, während der deutsche Polizist noch den Wagen parkte. Er zeigte kein Verständnis und sagte zu mir, ob ich jetzt rumheulen würde wegen ein bisschen Popcorn, und bevor ich antworten konnte, kam der ranghöhere Polizist, der Deutsche. Er gab mir voll recht und verstand mein Problem. Er sagte, dass, wenn ich mich in meiner Würde verletzt fühle, er eine Anzeige aufnehmen könnte."

Yehya sah an jenem Tag nicht nur das erste Mal in seinem Leben einen Clown, es war auch das erste Mal, dass er die Polizei rief. Denn die Polizei ist in seiner Welt eigentlich ein Verein, vor dem man wegrennt. Und es ist das erste Mal, dass ihm ein Polizist hilft und er ein Problem ohne Gewalt löst. Nachdem die Polizei dafür gesorgt hat, dass sich der Zirkusleiter bei Yehya entschuldigt, ist dieser komplett fassungslos. "Ich war wie unter Schock und stand da noch ein paar Sekunden und lief dann weiter."

Diesen Weltsicht-Erschütterungs-Bericht kann man in dem phantastischen Buch "In den Gangs von Neukölln" lesen, das tausend Mal differenzierter, feiner und mehr ist als sein Titel, bei dem man zunächst diesem blöden Aha-das-schon-wieder-Reflex (Buschkowsky, Rütli, "kriminelle Jugendliche mit Migrationshintergrund") erliegen könnte. Und doch weist das kleine Wort "in" auf das Besondere an diesem Buch hin, nämlich dass es kein distanzierter Bericht ist. Der Autor war und ist beteiligt, aber der Autor ist nicht Yehya. Er ist, kann man sagen, ein Freund Yehyas. Ein Freund, den Yehya, wenn alles gelaufen wäre, wie es normalerweise läuft, nicht kennen würde. Weil der Autor, Christian Stahl heißt er, eigentlich zu gebildet (Journalist, hat in Oxford studiert) und zu deutsch ist, um sich mit einem wie Yehya zu befassen. Dass er es doch getan hat, ist der, ja, Glücksfall dieses Buches, das auch ein Freundschaftsbuch ist und nur aus diesem Grund so erzählt werden konnte: nah, tief, beteiligt. Christian Stahl ist Yehyas Welt fremd, er versteht die Gewalt darin nicht. Aber aus irgendeinem Grund hat er so etwas wie Wohlwollen für ihn übrig, Faszination vielleicht auch, jedenfalls fängt er an, sich mit ihm zu beschäftigen. Erst dreht er einen Film über Yehyas Geschichte, die irgendwann auch zu seiner eigenen wird, dann schreibt er dieses Buch darüber.

1990 kommt Yehya in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon zur Welt und flieht mit seiner Familie als Säugling über Syrien nach Deutschland. Nach vier Jahren Flüchtlingslager in Neukölln zieht die Familie nach Prenzlauer Berg. Denn der Vater von Yehya möchte, dass seine Kinder Deutsch lernen. Stahl lässt Yehya durch Mails, Interviewmitschnitte und Briefe in dem Buch immer wieder zu Wort kommen. Über seine Einschulung schreibt Yehya (der echt sehr schön schreibt): "Jedes Kind sollte nach vorne gehen, seinen Namen und sein Alter sagen, erzählen, was sein Traumberuf ist und was seine Eltern für einen Beruf haben. Ich war einer der Letzten, die nach vorne gegangen sind. Ich habe meinen Namen gesagt, erzählt, woher ich komme und wie alt ich bin. Und dann kam die Frage der Lehrerin: ,Was arbeiten deine Eltern?' Da habe ich gesagt: ,Die arbeiten nicht.' Sie fragte mich: ,Wie? Warum arbeiten deine Eltern nicht? Sitzen die den ganzen Tag zu Hause rum?' Ich so: ,Ja. Also ja.' Ich wusste nicht, warum meine Eltern nicht arbeiten durften. Ich hatte keine Ahnung von irgendwelchen Dingen wie einem Duldungsstatus, den der Staat uns gibt. Ich hatte keine Ahnung von Politik!" Was man von einem sechsjährigen Kind auch nicht so richtig erwarten kann, zumal die erwachsenen Menschen in Deutschland ja auch oft keine Ahnung von Politik haben, geschweige denn von Asylrecht. Yehyas Vater jedenfalls durfte nicht arbeiten, weil man eine "Aufenthaltsverfestigung" (dieses Wort!) verhindern wollte und darauf hoffte, dass man ihn und seine Familie irgendwann wieder nach Hause würde schicken können. Nach Palästina, und das ist kein Witz, sondern die Realität vieler staatenloser Flüchtlinge. In Prenzlauer Berg lief es allerdings nicht besonders gut für Yehyas Familie. Als Yehyas Mutter mit Flaschen beworfen und mehrfach angegriffen wird, weil sie ein Kopftuch trägt, beschließt der Vater, mit seiner Familie nach Neukölln zu ziehen. Und da ist Yehya dann plötzlich zu Hause. Nicht mehr das einzige arabische Kind, nicht mehr der Einzige, der kein Schweinefleisch isst, nein, jetzt sind die, die Schweinefleisch essen, komisch. Yehya ist clever und weiß früh, wie er andere Kinder dazu bringt, das zu tun, was er will. Er hat Kraft und will etwas erreichen, was in der Grammatik von Neukölln bedeutet, krass zu sein, mies, krank, kein Opfer. Schwäche zeigen, Angst haben, weinen, das bedeutet in seiner Welt, deutsch sein. Im Alter von zehn Jahren bedroht er einen Mitschüler mit einem Messer, drei Jahre später sind über 50 Straftaten registriert, die er begangen hat, und damit ist Yehya in der Intensivstraftäterkartei der Jüngste überhaupt. Und er ist stolz darauf! Über den Tag, an dem die Polizei ihn über seine Aufnahme in diese Kartei informiert, schreibt er: "Ich war begeistert (...) und - keine Ahnung - wenn ich ehrlich bin, war da auch etwas Angst in mir drin und die Frage: ,Ist es das, was du willst, Yehya?', aber schnell erschoss ich diesen Engel in meinem Kopf und antwortete: ,Das ist aber rührend, dass sich endlich mal jemand um mich kümmert!'"

Einige Zeit später lernen sich Yehya und Christian Stahl im Flur ihres Hauses in Neukölln kennen. Yehya bietet Stahl an, ihm dabei zu helfen, seine Einkäufe die Treppe hoch zu tragen. Nett, höflich, und Christian Stahl freut sich über dieses gelungene Integrationsbeispiel, während Yehya sich fragt, wie es sein kann, dass dieser Deutsche so nett ist. Die beiden begegnen sich häufiger und helfen einander. Yehya trägt Einkäufe, Christian Stahl gibt Hausaufgabentipps. Durch Zufall lernt Stahl wenig später jedoch auch die andere, die gewalttätige Seite von Yehya kennen. Die Frage, wie diese beiden Gesichter zusammenpassen, lässt ihn nicht los, und er beschließt, darüber einen Film zu drehen. "Gangsterläufer" wird ein preisgekrönter Dokumentarfilm und erscheint im Jahr 2011. Er erzählt Yehyas Leben bis hin zu dem Raubüberfall in Hamburg und seine Zeit im Gefängnis. Er dokumentiert, genau wie das Buch, die intensive Auseinandersetzung zweier Menschen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben sollten. Der Autor ist es, der Yehya ermutigt, es allen zu zeigen. Das heißt, kein Gewalt-Boss mehr zu sein, sondern Selbstwirksamkeit zu erfahren, indem er sein Abitur macht. Und studiert! Obwohl einer wie er das doch in Deutschland überhaupt nicht darf. Arbeiten, studieren, durch Deutschland reisen, einen Führerschein machen, das alles darf Yehya nicht, und man denkt beim Lesen, na ja, echt kein Wunder, dass einer mit der Energie von Yehya da auf Ideen kommt. Aber Christian Stahl ermutigt ihn, und Yehya will, will wirklich den sauberen Weg gehen.

Damit endet der Film, und auch das Buch sollte die Geschichte von einem sein, der es geschafft hat. Von einem jungen Araber, von Yehya, der sich nach seiner Entlassung in Neukölln ehrenamtlich als Streitschlichter engagiert, der mit Polizisten und Politikern redet, um zu vermitteln. Yehya ringt mit sich. Mit dem Clown, mit Angeboten, die er auf der Straße bekommt. Seine Neuköllner Freunde halten ihn für verwirrt, seit er seinen Ausstieg erklärt hat, und mit der anderen Welt, der sauberen deutschen Welt, gibt es Aufenthaltsprobleme. Jedenfalls sitzt Yehya in diesem Augenblick im Knast, voraussichtlich bis 2018. Danach wird man wieder versuchen, ihn daran zu hindern, seinen Aufenthalt in Deutschland zu verfestigen, und ich kann wirklich perfekt verstehen, dass Menschen, die mit diesem Aufenthalts-Verfestigungs-Irrsinn konfrontiert sind, kriminell werden. Hätte uns allen passieren können. Warum Yehya wieder im Gefängnis sitzt, müssen Sie selber lesen, wie Sie das Buch überhaupt lesen sollten, denn es ist viel tiefer, genauer und komplexer als dieser Artikel. Man hat nach der Lektüre verstanden, warum junge arabische Männer, die kriminell werden, ein deutsches Problem sind.

ANTONIA BAUM.

Christian Stahl: "In den Gangs von Neukölln: Das Leben des Yehya E.". Hoffmann und Campe, 250 Seiten, 17,99 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Der Journalist Christian Stahl hatte Yehya in Neukölln als intelligenten Jugendlichen kennen gelernt, der ihm Wasserkisten die Treppe hochtrug, und er hat sich mit ihm angefreundet, berichtet David Hugendick. Was folgte, hatte Stahl bereits in Teilen in der erfolgreichen Dokumentation "Gangsterläufer" gezeigt, in seinem Buch "In den Gangs von Neukölln" erzählt er jetzt die ganze Geschichte, so der Rezensent: Yehya ist auf den Straßen Neuköllns als "der Psychopath" bekannt und der Bürokratie als "Intensivtäter", der bereits mehrfach, auch für schwere Verbrechen, verurteilt wurde, verrät Hugendick. Stahl beschreibt aus seiner eigenen Perspektive, wie er versucht, die Welt Yehyas kennen zu lernen, die Regeln der Straße, ihre Codes, während er gleichzeitig die deutsche Justiz und Integrationspolitik kritisiert und zu verstehen versucht, warum sein Freund tut, was er tut, erklärt der Rezensent, der es Stahl vor allem anrechnet, dass er sich kein endgültiges Urteil erlaubt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Und genau dieser Blick auf ein
Leben, abseits des sogenannten Bürgerlichen und gleichzeitig mitten unter uns,
ist auch eine der großen Stärken dieses Buches." Michael Mielke Welt am Sonntag, 21.09.2014