Erinnerungen an eine ukrainische ZukunftEin Krieg ist gerade zu Ende gegangen. Drei Männer und eine Frau machen sich auf den Weg über verlassene Landstriche zu einermythischen Halbinsel; sie nennen es eine Wallfahrt gegen den Krieg. Tanjas Verlobter Andrij ist gefallen, sie möchte ein letztes, gültiges Bild von ihm haben. Jens und Iwo, zwei Deutsche, haben als Freiwillige an der Seite der ukrainischen Nationalisten gekämpft, Andrij war einer von ihnen. Vitalij, der Vierte, ist ein junger Dichter, auf Abenteuer aus. Der Überfall der Deutschen 1941, an dem auch der Urgroßvater von Jens teilgenommen hat, ist nach wie vor lebendig in der Geschichte der Ukraine. Jens lässt die Frage nicht los, ob er an den Verbrechen beteiligt war.In diesem pazifistischen Roman über den Krieg werden Schrecken, Zerstörung und Tod durch den Aberwitz der Akteure konterkariert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2022Befremdlich popkulturell
Wenn Realität den Roman überholt: Evelyn Schlags "In den Kriegen" erzählt von einer verwüsteten Ukraine
Der Kampf gegen die Separatisten in der Ukraine ist nicht zu Ende, aber die Söldner Jens und Iwo hören auf. Ihr Kamerad Andrij ist erschossen worden. Was die Deutschen nun tun, ist offen, und Tanja, Andrijs Verlobte, hat als Erste eine Idee. Sie will ihre Trauer "so weit weg wie möglich tragen durch dieses unglückliche Land". Wohin soll es denn gehen, fragt der eher zufällig anwesende Vitalij, ein junger, zarter Poplyriker des Landes mit deutscher Großmutter. Wohl zur Halbinsel Krim, schwant Jens. Der engste Freund des Toten, einst unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen, weiß um die Gefahren: Überall gebe es Rückzugsgefechte und "Nester der Separatisten". Klar, dass die drei, ganz Gentlemen, die Dame in Evelyn Schlags Roman "In den Kriegen" nicht allein ziehen lassen. Nach knapp fünfzig Seiten beginnt die "Wallfahrt".
Mit dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine kann der gerade erschienene Roman nichts zu tun haben, mit dem unerklärten Vorgängerkrieg in der Ostukraine will er nichts zu tun haben: Die recht ungewöhnliche deutsch-ukrainische Pilgergruppe zieht durch ein wüstes Land. Die Supermärkte sind geplündert, die Dörfer gebrandschatzt, die Kleinstädte liegen verlassen da. Einmal wankt ein alter Mann herbei und stirbt kurz darauf. An einem Balkon pendeln fünf Gehenkte im Wind, in einem Haus liegen drei nackte Frauenleichen. Tanja und ihre Begleiter fliehen sofort aufs freie Feld, dessen gefrorene Pfützen unter ihren Füßen einbrechen. Wenn die Kälte zu grimmig wird, schlüpfen sie einige Tage in einem verlassenen Haus unter. Die Pilger ziehen durch eine Landschaft des Nachkriegs. Zu Kämpfen kommt es nicht, Schreckensszenarien werden nicht ausgemalt, weder staatliche noch separatistische Kräfte tauchen auf. Es überwiegt die menschenleere Ödnis. Evelyn Schlag räumt die Landschaft frei.
Auf der meist leeren, oft verschneiten Bühne führt sie Szenen eines Endspiels auf. Jens beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob Plexiglas mit zwei "x" oder nur mit einem geschrieben wird und ob man "auf" oder "in" der Antarktis Langlauf treibe. Vitalij spielt auf der Luftgitarre Richard Wagner und erinnert an die Großeltern in der verheerenden, von Stalin ausgelösten Hungersnot in der Ukraine: "Wer auch nur eine unabhängige Kartoffel im Haus hatte, wurde vertrieben." Tanja bricht in einen langen Schrei aus, weil sie angesichts einer 700 Meter langen roten Decke glaubt, unter dieser habe auf Befehl des Militärs das ganze Dorf, Männer wie Frauen, zusammen nächtigen müssen. "Holy Howl", kommentiert Vitalij den Schrei, während Jens nach der "in allen Knochen" erfahrenen "Ekstase" Tanjas dafür dankt, "nicht in Teile zerfallen zu sein". Er erinnert sich an seinen Vater, der als Wehrmachtssoldat die Ukraine überfallen hatte, und liest aus Briefen vom Flohmarkt vor, in der ein deutscher Soldat von massenhaften Judenerschießungen in der Ukraine berichtet: "Every breath you take."
Der Hit von Police als Soundtrack des Holocausts, Allen Ginsbergs "Geheul" als Protest gegen sittliche Auflösung, "unabhängige" Kartoffeln in der Hungersnot, der Sprachzweifel - unübersehbar sind diesen Pilgern Geschichte und Gegenwart entglitten. Stärker allerdings als die offensichtliche Funktion der oft popkulturellen Assoziationen ist ihre befremdende Wirkung. Jeder Pilger legt Wert auf möglichst hochgestimmte originelle Formulierungen, egal um welches Entsetzen, welchen Leichenberg es gerade geht.
Evelyn Schlag, bisher durch einige Bücher hervorgetreten ("Die große Freiheit des Ferenc Puskás", "Architektur einer Liebe"), rhythmisiert den Zug durch das wüste Land durch wiederholtes Verschwinden und Wiederauftauchen einer Figur und durch ebenso wiederholte Warnungen vor Separatisten. Doch Bewegungen spielen sich nur am Horizont ab. Im Vordergrund betreten die vier Pilger Tableaus: solche mit einer 700 Meter langen roten Decke, einem Knäuel aus verbrannten Metallsesseln, einer Batterie von Fernsehern mit geknickten Antennen vor einem Zirkuswagen. Die lässt Jens hoffen auf "Castingshows für Veteranen mit mindestens einem fehlenden Arm oder Bein oder Kopf, auch die Drei Meisterköche waren durchaus vorstellbar".
Diese Fernseher dürften auf einem der Fotos zu sehen sein, von denen Evelyn Schlag in ihrer Innsbrucker Poetikvorlesung 2020 gesagt hat, sie gingen in "In den Kriegen" in der Handlung auf. Als dann gegen Ende des Romans tatsächlich einmal Schüsse fallen, scheint es sich wieder um Kunst zu handeln, um ein Reenactment einer historischen Schlacht. Was Jens nicht daran hindert, sich mannhaft bereit zu erklären zum "gemeinsamen Tod" im Kampf "für Van Morrison & Vaterland oder wie das hieß".
Vermutlich ist die Wallfahrt ein Drogentrip. Iwo fand im Kampfeinsatz hinter einem siffigen Spülkasten ein weißes Päckchen. Schon beim Balancieren über zerstörte Brücken jubeln die Pilger selig "Unsere spirits waren erz-high", und am Ende fragt sich Jens, was ihm Iwo wohl aus einer Tüte in den Mund schüttet: "Coke?" Doch die Antwort darauf beschäftigt den Leser nicht mehr dringlich. JÖRG PLATH
Evelyn Schlag:
"In den Kriegen". Roman.
Hollitzer Verlag, Wien 2022. 242 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Realität den Roman überholt: Evelyn Schlags "In den Kriegen" erzählt von einer verwüsteten Ukraine
Der Kampf gegen die Separatisten in der Ukraine ist nicht zu Ende, aber die Söldner Jens und Iwo hören auf. Ihr Kamerad Andrij ist erschossen worden. Was die Deutschen nun tun, ist offen, und Tanja, Andrijs Verlobte, hat als Erste eine Idee. Sie will ihre Trauer "so weit weg wie möglich tragen durch dieses unglückliche Land". Wohin soll es denn gehen, fragt der eher zufällig anwesende Vitalij, ein junger, zarter Poplyriker des Landes mit deutscher Großmutter. Wohl zur Halbinsel Krim, schwant Jens. Der engste Freund des Toten, einst unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen, weiß um die Gefahren: Überall gebe es Rückzugsgefechte und "Nester der Separatisten". Klar, dass die drei, ganz Gentlemen, die Dame in Evelyn Schlags Roman "In den Kriegen" nicht allein ziehen lassen. Nach knapp fünfzig Seiten beginnt die "Wallfahrt".
Mit dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine kann der gerade erschienene Roman nichts zu tun haben, mit dem unerklärten Vorgängerkrieg in der Ostukraine will er nichts zu tun haben: Die recht ungewöhnliche deutsch-ukrainische Pilgergruppe zieht durch ein wüstes Land. Die Supermärkte sind geplündert, die Dörfer gebrandschatzt, die Kleinstädte liegen verlassen da. Einmal wankt ein alter Mann herbei und stirbt kurz darauf. An einem Balkon pendeln fünf Gehenkte im Wind, in einem Haus liegen drei nackte Frauenleichen. Tanja und ihre Begleiter fliehen sofort aufs freie Feld, dessen gefrorene Pfützen unter ihren Füßen einbrechen. Wenn die Kälte zu grimmig wird, schlüpfen sie einige Tage in einem verlassenen Haus unter. Die Pilger ziehen durch eine Landschaft des Nachkriegs. Zu Kämpfen kommt es nicht, Schreckensszenarien werden nicht ausgemalt, weder staatliche noch separatistische Kräfte tauchen auf. Es überwiegt die menschenleere Ödnis. Evelyn Schlag räumt die Landschaft frei.
Auf der meist leeren, oft verschneiten Bühne führt sie Szenen eines Endspiels auf. Jens beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob Plexiglas mit zwei "x" oder nur mit einem geschrieben wird und ob man "auf" oder "in" der Antarktis Langlauf treibe. Vitalij spielt auf der Luftgitarre Richard Wagner und erinnert an die Großeltern in der verheerenden, von Stalin ausgelösten Hungersnot in der Ukraine: "Wer auch nur eine unabhängige Kartoffel im Haus hatte, wurde vertrieben." Tanja bricht in einen langen Schrei aus, weil sie angesichts einer 700 Meter langen roten Decke glaubt, unter dieser habe auf Befehl des Militärs das ganze Dorf, Männer wie Frauen, zusammen nächtigen müssen. "Holy Howl", kommentiert Vitalij den Schrei, während Jens nach der "in allen Knochen" erfahrenen "Ekstase" Tanjas dafür dankt, "nicht in Teile zerfallen zu sein". Er erinnert sich an seinen Vater, der als Wehrmachtssoldat die Ukraine überfallen hatte, und liest aus Briefen vom Flohmarkt vor, in der ein deutscher Soldat von massenhaften Judenerschießungen in der Ukraine berichtet: "Every breath you take."
Der Hit von Police als Soundtrack des Holocausts, Allen Ginsbergs "Geheul" als Protest gegen sittliche Auflösung, "unabhängige" Kartoffeln in der Hungersnot, der Sprachzweifel - unübersehbar sind diesen Pilgern Geschichte und Gegenwart entglitten. Stärker allerdings als die offensichtliche Funktion der oft popkulturellen Assoziationen ist ihre befremdende Wirkung. Jeder Pilger legt Wert auf möglichst hochgestimmte originelle Formulierungen, egal um welches Entsetzen, welchen Leichenberg es gerade geht.
Evelyn Schlag, bisher durch einige Bücher hervorgetreten ("Die große Freiheit des Ferenc Puskás", "Architektur einer Liebe"), rhythmisiert den Zug durch das wüste Land durch wiederholtes Verschwinden und Wiederauftauchen einer Figur und durch ebenso wiederholte Warnungen vor Separatisten. Doch Bewegungen spielen sich nur am Horizont ab. Im Vordergrund betreten die vier Pilger Tableaus: solche mit einer 700 Meter langen roten Decke, einem Knäuel aus verbrannten Metallsesseln, einer Batterie von Fernsehern mit geknickten Antennen vor einem Zirkuswagen. Die lässt Jens hoffen auf "Castingshows für Veteranen mit mindestens einem fehlenden Arm oder Bein oder Kopf, auch die Drei Meisterköche waren durchaus vorstellbar".
Diese Fernseher dürften auf einem der Fotos zu sehen sein, von denen Evelyn Schlag in ihrer Innsbrucker Poetikvorlesung 2020 gesagt hat, sie gingen in "In den Kriegen" in der Handlung auf. Als dann gegen Ende des Romans tatsächlich einmal Schüsse fallen, scheint es sich wieder um Kunst zu handeln, um ein Reenactment einer historischen Schlacht. Was Jens nicht daran hindert, sich mannhaft bereit zu erklären zum "gemeinsamen Tod" im Kampf "für Van Morrison & Vaterland oder wie das hieß".
Vermutlich ist die Wallfahrt ein Drogentrip. Iwo fand im Kampfeinsatz hinter einem siffigen Spülkasten ein weißes Päckchen. Schon beim Balancieren über zerstörte Brücken jubeln die Pilger selig "Unsere spirits waren erz-high", und am Ende fragt sich Jens, was ihm Iwo wohl aus einer Tüte in den Mund schüttet: "Coke?" Doch die Antwort darauf beschäftigt den Leser nicht mehr dringlich. JÖRG PLATH
Evelyn Schlag:
"In den Kriegen". Roman.
Hollitzer Verlag, Wien 2022. 242 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Plath stolpert durch Evelyn Schlags popkulturelles Reenactment einer, aber nicht der (gegenwärtigen) Schlacht in der Ostukraine. Die Protagonisten, zwei Söldner und eine befreundete junge Witwe, sind high und erleben die kriegsverbrannte Ödnis mit Ginsbergs "Howl" und Musik von Police, staunt Plath. Dazwischen drapiert die Autorin Leichen und originelle Formulierungen und lässt die Figuren vor Tableaus posieren. Am Ende ist der Rezensent irgendwie bedient.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es ist DER pazifistische Roman."Rotraut Schöberl, Café Puls-Buchtipp, 01.03.2022"[...] ein grandioser Höhepunkt im Werk der großen Erzählerin Evelyn Schlag."Cornelius Hell, Die Presse, 12.03.2022"Hier wird mit verstörender Vehemez von den Gräueln zweier Kriege erzählt.Aber der Aufbruch zur Wallfahrt des Friedens kann nie ein vergeblicher sein."NEWS, 08.04.2022"Mit "In den Kriegen" hat Evelyn Schlag einen Roman geschrieben, der nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Eskalation erschüttert. Schonungslos bildet sie ab, was der Krieg auch in den Köpfen der Menschen anrichtet, wie sehr die Vergangenheit in die Strukturen der Gegenwart hineinreicht und wie schnell man die Kontrolle über das verliert, was man einst Leben nannte."Sonja Harter/APA, 22.02.2022