»Gleich mit dem ersten Satz hat uns Maddalena Vaglio Tanet gefangen - und dann entführt sie uns mit ihrer olivgrünen Sprache und erzählt mitreißend von der Tiefe der Ängste und der Weite des Herzens. Als seien Elena Ferrantes Heldinnen in das karge Norditalien gekommen, um sich zwischen zarten Sehnsüchten und herben Enttäuschungen am Ende doch selbst zu finden.« Florian Illies
Eines Morgens verschwindet die Lehrerin im Wald. Während das Klassenzimmer leer bleibt und ihre Verwandten Straßen und Bäche absuchen, scheint sie immer mehr mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Um sie herum streifen Keiler durch das Unterholz, über den Wipfeln der Birken erklingt der Gesang wilder Vögel. Immer tiefer versinkt sie in einer Decke von Moos und Erinnerungen - sie muss um alles in der Welt den tragischen Tod ihrer Lieblingsschülerin vergessen, der sie in den Wald trieb.
Hinter den geschlossenen Fensterläden und in den Straßen des piemontesischen Ortes Biella ist man unterdessen ratlos: Was ist mit Silvia geschehen? Und wer ist sie wirklich? Die gutmütige Lehrerin, für die sie alle halten, oder doch eine Außenseiterin, die etwas zu verbergen hat? Als ein Junge aus der Schule bei einem Streifzug durch den Wald auf die Lehrerin stößt, scheint die Suche ein Ende zu nehmen. Aber was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?
In den Wald ist ein schillernder Roman über unausgesprochene Wahrheiten. Mit perfekt kalibrierter Spannung erzählt Maddalena Vaglio Tanet von dem Kampf einer Frau gegen ihre Geister - und von einem Wald, der Phantasmen heraufbeschwört und Wunden heilt.
Eines Morgens verschwindet die Lehrerin im Wald. Während das Klassenzimmer leer bleibt und ihre Verwandten Straßen und Bäche absuchen, scheint sie immer mehr mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Um sie herum streifen Keiler durch das Unterholz, über den Wipfeln der Birken erklingt der Gesang wilder Vögel. Immer tiefer versinkt sie in einer Decke von Moos und Erinnerungen - sie muss um alles in der Welt den tragischen Tod ihrer Lieblingsschülerin vergessen, der sie in den Wald trieb.
Hinter den geschlossenen Fensterläden und in den Straßen des piemontesischen Ortes Biella ist man unterdessen ratlos: Was ist mit Silvia geschehen? Und wer ist sie wirklich? Die gutmütige Lehrerin, für die sie alle halten, oder doch eine Außenseiterin, die etwas zu verbergen hat? Als ein Junge aus der Schule bei einem Streifzug durch den Wald auf die Lehrerin stößt, scheint die Suche ein Ende zu nehmen. Aber was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?
In den Wald ist ein schillernder Roman über unausgesprochene Wahrheiten. Mit perfekt kalibrierter Spannung erzählt Maddalena Vaglio Tanet von dem Kampf einer Frau gegen ihre Geister - und von einem Wald, der Phantasmen heraufbeschwört und Wunden heilt.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Maddalena Vaglio Tanets Debütroman lässt die Lehrerin Silvia nach dem Suizid einer Schülerin in die Waldeinsamkeit fliehen, wo sie mit Schuldgefühlen und traumatischen Erinnerungen konfrontiert wird, resümiert der begeisterte Rezensent Ulrich Rüdenauer. Der 'märchenhaft und rätselhaft' erzählte Roman, feinfühlig ins Deutsche übersetzt von Annette Kopetzki, schildert Silvias inneren Rückzug und die Begegnung mit Martino, einem Jungen, der ebenfalls am Rande der Gesellschaft steht. Martino wird zu Silvias heimlichem Retter, der ihr Essen bringt und Halt gibt. Während das Dorf nach ihr sucht und in 'archaischen sozialen' Strukturen verhaftet bleibt, so Rüdenauer, fängt Tanet ein zeitloses Bild menschlicher Verbindungen und innerer Kämpfe ein. Mit dichter Atmosphäre und kunstvollem Perspektivwechsel entsteht so eine Erzählung über Verlust, Überleben und die Kraft menschlicher Beziehungen, freut sich der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2024Wo man Verdrängtem begegnet
Maddalena Vaglio Tanet landet mit ihrem Debüt „In den Wald“ über
einen Vermisstenfall in ihrer Heimat Piemont einen Überraschungserfolg.
Dass die Italiener zum Wald ein anderes Verhältnis haben als die Deutschen, muss um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr fühlbar gewesen sein. Damals unterstellte der norddeutsche Heimatdichter und Italienliebhaber Hermann Allmers, Autor des herrlich schwärmerischen Buchs „Römische Schlendertage“, dem ansonsten so geschätzten mediterranen Kulturvolk eine „tiefeingewurzelte“ Waldfeindschaft.
Als Beweis galt ihm, neben den „kahlen Appeninenrücken“, die kuriose Erfahrung eines Künstlerfreundes: Der wollte für den Sommer ein Haus in den Albaner Bergen mieten, das ihm besonders wegen des dazugehörigen, schattenspendenden Eichenwäldchens gefiel. Davor lag leider ein geruchsintensiver Abfallhaufen, doch der Besitzer versprach, „diese Schweinerei“ rechtzeitig zu beseitigen. Als der Freund dann einzog, merkte er zu seinem Schrecken, „wie verschieden die Begriffe der Völker von Schweinerei sind. Der schöne kleine Eichenhain war verschwunden, gründlich abrasiert bis zur Wurzel, dafür aber prangte der duftende Haufen in fast verdoppelter Größe und Stattlichkeit.“
Für Allmers belegte die Anekdote „eine echte Ueberlieferung antiker Anschauungs- und Gefühlsweise“: Wie die Alten, so wüssten auch deren italienische Nachfahren nichts vom „Zauber der Waldeinsamkeit, von jener Romantik des stillen unbestimmten Träumens und Schwärmens in derselben“, die in Deutschland damals in voller Blüte stand. Parallel dazu verlief allerdings seit dem Mittelalter jene literarische Tradition, die den Wald nicht nur als eremitischen Rückzugsort begreift, sondern auch als dunkle Durchgangsstation voller Irrungen, Wirrungen und Prüfungen, aus der die jeweiligen Helden auf ihrer Lebensreise verwandelt hervorgehen. Und da reichen dann schon wieder Dante und die Brüder Grimm einander die Hand.
Geprägt von beiden Lektüren (und von vielen anderen) ist die junge piemontesische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Maddalena Vaglio Tanet, deren Romandebüt „Tornare dal bosco“ in Italien gefeiert und für den Premio Strega nominiert wurde. Der Titel bedeutet wörtlich „aus dem Wald zurückkehren“, die deutsche Übersetzung heißt „In den Wald“, wechselt also die Perspektive zugunsten der Symmetrie. Denn wer aus dem Wald herauskommt, muss erst einmal hineingegangen sein. Dazwischen liegt in diesem Roman, ganz im Einklang mit den alten Erzählmustern, eine Art Seelenreise. Die Erlebnisse und inneren Zustände der Hauptfigur hat Vaglio Tanet vollständig imaginiert, ebenso wie die Tatsache, dass das Ganze sich im Wald abspielt. Die Figur selbst aber brauchte sie nicht zu erfinden: Wie sie in der Nachbemerkung berichtet, konnte sie dafür auf eine Begebenheit aus ihrer eigenen Familiengeschichte zurückgreifen.
Im Herbst des Jahres 1970 verschwand die 42-jährige Lidia Julio, eine unverheiratete, unscheinbare, aber sehr beliebte Lehrerin in der piemontesischen Kleinstadt Biella, plötzlich für mehrere Tage und tauchte dann durchnässt, verdreckt und fast verhungert wieder auf, ohne dass jemand je erfuhr, wo sie gewesen war. Sie schützte eine Erinnerungslücke vor. Nur der Grund ihrer Flucht wurde offenbar: Kurz vorher hatte eine ihrer Schülerinnen, knapp zwölf Jahre alt, sich im Wildbach ertränkt, und die Lehrerin fühlte sich daran mitschuldig. Die Ereignisse versetzten die Stadt in Aufruhr und füllten die Lokalpresse. Maddalena Vaglio Tanet hat in Archiven recherchiert und Zeugen befragt. Die fiktionale Handlung, die sie daraus destilliert hat, ist keine Suche nach Erklärungen, sondern der überzeugende Versuch einer Einfühlung, auch wenn eine Spur Suspense dabei mitschwingen darf.
Hier trägt die Lehrerin, fast zu plakativ, den vom lateinischen Wort für „Wald“ abgeleiteten Vornamen Silvia. Den Wald, in den sie geht, kennt sie gut: Er bedeckt den Hügel oberhalb ihres Herkunftsdorfes Bioglio, einige Kilometer von Biella entfernt. Und tatsächlich ist ihre Beziehung zu diesem Stück heimatlicher Landschaft traditionsgemäß pragmatisch: „Den Wald aber fürchtete sie nicht, sie war in einer Welt aufgewachsen, in der man ihn nutzte, wie man Weiden und Felder nutzte.“ Genutzt wird er auch im Roman, als symbolbeladener Topos, während die Schilderung der etwas unwirtlichen, aber nie bedrohlichen Waldnatur eher knapp und nüchtern bleibt. Zuerst halb unbewusst, dann zielstrebig erreicht Silvia eine marode, verlassene Hütte, an die sie sich von früher erinnert, und vollzieht einen wiederum hoch symbolischen Schritt: „Kaum war sie über die Schwelle getreten, ließ sie sich auf den Boden fallen und rührte sich nicht mehr.“
Hier wird sie in den folgenden Tagen und Nächten von Visionen und Trugbildern heimgesucht, in denen Vergangenes und Verdrängtes ans Licht kommt, die Kindheit als Waise und die Internatszeit bei den Nonnen, die Partisanenkämpfe des Zweiten Weltkriegs und der „Malardriss“ (piemontesisch für Unordnung) in ihrer Abstellkammer. Und es erscheint ihr die Schülerin Giovanna, die sich umgebracht hat und die so viel mit ihr gemeinsam hatte, dass sie plötzlich mit ihr zu verschmelzen glaubt. Umbringen aber will sie sich nicht, zurückkehren auch noch nicht, und zum Überleben braucht sie einen Helfer, den die Autorin ihr in Gestalt des zehnjährigen Martino schickt: Er musste wegen seines Asthmas mit seiner Mutter von Turin nach Biella übersiedeln und fühlt sich als Außenseiter. Während die halbe Stadt vergeblich nach der Verschwundenen fahndet, geht er in den Wald, von Comic-Abenteuerfantasien geleitet, und findet sie. Er gelobt Stillschweigen und versorgt sie von da an heimlich mit Nahrung und Wasser, was zu angeregten Unterhaltungen führt.
Diese Episoden alternieren mit dem, was sich in den Gassen und hinter den Fensterläden von Biella abspielt, wo man noch die Tragödie beklagt und über Silvia rätselt, aber doch schon wieder zum Alltag übergeht. In kurzen Szenen und Dialogen, begleitet von raschen Perspektivwechseln, entfaltet sich das Panorama einer norditalienischen Kleinstadt mit ihren Ritualen, Hierarchien und zwischenmenschlichen Konstellationen, andeutungsweise mit 70er-Jahre-Zeitkolorit versehen, aber ganz ohne jene Zutaten, die einen touristischen Blick auf Italien nähren. Dafür mit literarischen Anspielungen, die auch mal den chronologischen Rahmen sprengen: So ist Gianni, ein Freund von Martinos Mutter Lea, ein Wiedergänger des 1962 verstorbenen Partisanen, Schriftstellers und Übersetzers Beppe Fenoglio. Was besonders auffällt, sind die vielen Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen, die auf sympathischer, wenn auch wohl kaum realistischer Augenhöhe stattfinden.
Vaglio Tanets Wald, bar jeder Mystik und grünen Romantik, erfüllt seinen literarischen Zweck: Nicht nur Silvia ist am Ende zu ein paar Einsichten gelangt, die ihr Dasein verändern könnten, sondern auch bei Martino, seiner Mutter und anderen Beteiligten deuten sich gewisse Wandlungen an. Das alles wird in einer klaren, lebendigen, angenehm pathosfreien (und von Annette Kopetzki vorbildlich übersetzten) Sprache erzählt, auch dort, wo es um heftige Themen geht wie Vaterhass, schwarze Pädagogik, existenzielle Einsamkeit und Tod. Den realen Wald auf dem Hügel bei Biella aber gibt es immer noch, und man nutzt ihn jetzt zunehmend für den E-Bike-Tourismus.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Wer aus dem Wald
rauskommt, muss vorher
hineingegangen sein
Maddalena Vaglio Tanet:
In den Wald. Roman.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Suhrkamp, Berlin 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Maddalena Vaglio Tanet landet mit ihrem Debüt „In den Wald“ über
einen Vermisstenfall in ihrer Heimat Piemont einen Überraschungserfolg.
Dass die Italiener zum Wald ein anderes Verhältnis haben als die Deutschen, muss um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr fühlbar gewesen sein. Damals unterstellte der norddeutsche Heimatdichter und Italienliebhaber Hermann Allmers, Autor des herrlich schwärmerischen Buchs „Römische Schlendertage“, dem ansonsten so geschätzten mediterranen Kulturvolk eine „tiefeingewurzelte“ Waldfeindschaft.
Als Beweis galt ihm, neben den „kahlen Appeninenrücken“, die kuriose Erfahrung eines Künstlerfreundes: Der wollte für den Sommer ein Haus in den Albaner Bergen mieten, das ihm besonders wegen des dazugehörigen, schattenspendenden Eichenwäldchens gefiel. Davor lag leider ein geruchsintensiver Abfallhaufen, doch der Besitzer versprach, „diese Schweinerei“ rechtzeitig zu beseitigen. Als der Freund dann einzog, merkte er zu seinem Schrecken, „wie verschieden die Begriffe der Völker von Schweinerei sind. Der schöne kleine Eichenhain war verschwunden, gründlich abrasiert bis zur Wurzel, dafür aber prangte der duftende Haufen in fast verdoppelter Größe und Stattlichkeit.“
Für Allmers belegte die Anekdote „eine echte Ueberlieferung antiker Anschauungs- und Gefühlsweise“: Wie die Alten, so wüssten auch deren italienische Nachfahren nichts vom „Zauber der Waldeinsamkeit, von jener Romantik des stillen unbestimmten Träumens und Schwärmens in derselben“, die in Deutschland damals in voller Blüte stand. Parallel dazu verlief allerdings seit dem Mittelalter jene literarische Tradition, die den Wald nicht nur als eremitischen Rückzugsort begreift, sondern auch als dunkle Durchgangsstation voller Irrungen, Wirrungen und Prüfungen, aus der die jeweiligen Helden auf ihrer Lebensreise verwandelt hervorgehen. Und da reichen dann schon wieder Dante und die Brüder Grimm einander die Hand.
Geprägt von beiden Lektüren (und von vielen anderen) ist die junge piemontesische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Maddalena Vaglio Tanet, deren Romandebüt „Tornare dal bosco“ in Italien gefeiert und für den Premio Strega nominiert wurde. Der Titel bedeutet wörtlich „aus dem Wald zurückkehren“, die deutsche Übersetzung heißt „In den Wald“, wechselt also die Perspektive zugunsten der Symmetrie. Denn wer aus dem Wald herauskommt, muss erst einmal hineingegangen sein. Dazwischen liegt in diesem Roman, ganz im Einklang mit den alten Erzählmustern, eine Art Seelenreise. Die Erlebnisse und inneren Zustände der Hauptfigur hat Vaglio Tanet vollständig imaginiert, ebenso wie die Tatsache, dass das Ganze sich im Wald abspielt. Die Figur selbst aber brauchte sie nicht zu erfinden: Wie sie in der Nachbemerkung berichtet, konnte sie dafür auf eine Begebenheit aus ihrer eigenen Familiengeschichte zurückgreifen.
Im Herbst des Jahres 1970 verschwand die 42-jährige Lidia Julio, eine unverheiratete, unscheinbare, aber sehr beliebte Lehrerin in der piemontesischen Kleinstadt Biella, plötzlich für mehrere Tage und tauchte dann durchnässt, verdreckt und fast verhungert wieder auf, ohne dass jemand je erfuhr, wo sie gewesen war. Sie schützte eine Erinnerungslücke vor. Nur der Grund ihrer Flucht wurde offenbar: Kurz vorher hatte eine ihrer Schülerinnen, knapp zwölf Jahre alt, sich im Wildbach ertränkt, und die Lehrerin fühlte sich daran mitschuldig. Die Ereignisse versetzten die Stadt in Aufruhr und füllten die Lokalpresse. Maddalena Vaglio Tanet hat in Archiven recherchiert und Zeugen befragt. Die fiktionale Handlung, die sie daraus destilliert hat, ist keine Suche nach Erklärungen, sondern der überzeugende Versuch einer Einfühlung, auch wenn eine Spur Suspense dabei mitschwingen darf.
Hier trägt die Lehrerin, fast zu plakativ, den vom lateinischen Wort für „Wald“ abgeleiteten Vornamen Silvia. Den Wald, in den sie geht, kennt sie gut: Er bedeckt den Hügel oberhalb ihres Herkunftsdorfes Bioglio, einige Kilometer von Biella entfernt. Und tatsächlich ist ihre Beziehung zu diesem Stück heimatlicher Landschaft traditionsgemäß pragmatisch: „Den Wald aber fürchtete sie nicht, sie war in einer Welt aufgewachsen, in der man ihn nutzte, wie man Weiden und Felder nutzte.“ Genutzt wird er auch im Roman, als symbolbeladener Topos, während die Schilderung der etwas unwirtlichen, aber nie bedrohlichen Waldnatur eher knapp und nüchtern bleibt. Zuerst halb unbewusst, dann zielstrebig erreicht Silvia eine marode, verlassene Hütte, an die sie sich von früher erinnert, und vollzieht einen wiederum hoch symbolischen Schritt: „Kaum war sie über die Schwelle getreten, ließ sie sich auf den Boden fallen und rührte sich nicht mehr.“
Hier wird sie in den folgenden Tagen und Nächten von Visionen und Trugbildern heimgesucht, in denen Vergangenes und Verdrängtes ans Licht kommt, die Kindheit als Waise und die Internatszeit bei den Nonnen, die Partisanenkämpfe des Zweiten Weltkriegs und der „Malardriss“ (piemontesisch für Unordnung) in ihrer Abstellkammer. Und es erscheint ihr die Schülerin Giovanna, die sich umgebracht hat und die so viel mit ihr gemeinsam hatte, dass sie plötzlich mit ihr zu verschmelzen glaubt. Umbringen aber will sie sich nicht, zurückkehren auch noch nicht, und zum Überleben braucht sie einen Helfer, den die Autorin ihr in Gestalt des zehnjährigen Martino schickt: Er musste wegen seines Asthmas mit seiner Mutter von Turin nach Biella übersiedeln und fühlt sich als Außenseiter. Während die halbe Stadt vergeblich nach der Verschwundenen fahndet, geht er in den Wald, von Comic-Abenteuerfantasien geleitet, und findet sie. Er gelobt Stillschweigen und versorgt sie von da an heimlich mit Nahrung und Wasser, was zu angeregten Unterhaltungen führt.
Diese Episoden alternieren mit dem, was sich in den Gassen und hinter den Fensterläden von Biella abspielt, wo man noch die Tragödie beklagt und über Silvia rätselt, aber doch schon wieder zum Alltag übergeht. In kurzen Szenen und Dialogen, begleitet von raschen Perspektivwechseln, entfaltet sich das Panorama einer norditalienischen Kleinstadt mit ihren Ritualen, Hierarchien und zwischenmenschlichen Konstellationen, andeutungsweise mit 70er-Jahre-Zeitkolorit versehen, aber ganz ohne jene Zutaten, die einen touristischen Blick auf Italien nähren. Dafür mit literarischen Anspielungen, die auch mal den chronologischen Rahmen sprengen: So ist Gianni, ein Freund von Martinos Mutter Lea, ein Wiedergänger des 1962 verstorbenen Partisanen, Schriftstellers und Übersetzers Beppe Fenoglio. Was besonders auffällt, sind die vielen Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen, die auf sympathischer, wenn auch wohl kaum realistischer Augenhöhe stattfinden.
Vaglio Tanets Wald, bar jeder Mystik und grünen Romantik, erfüllt seinen literarischen Zweck: Nicht nur Silvia ist am Ende zu ein paar Einsichten gelangt, die ihr Dasein verändern könnten, sondern auch bei Martino, seiner Mutter und anderen Beteiligten deuten sich gewisse Wandlungen an. Das alles wird in einer klaren, lebendigen, angenehm pathosfreien (und von Annette Kopetzki vorbildlich übersetzten) Sprache erzählt, auch dort, wo es um heftige Themen geht wie Vaterhass, schwarze Pädagogik, existenzielle Einsamkeit und Tod. Den realen Wald auf dem Hügel bei Biella aber gibt es immer noch, und man nutzt ihn jetzt zunehmend für den E-Bike-Tourismus.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Wer aus dem Wald
rauskommt, muss vorher
hineingegangen sein
Maddalena Vaglio Tanet:
In den Wald. Roman.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Suhrkamp, Berlin 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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